Das Königreich von Sede (59)
Schemel, die Leere bedenkend,
Schwankt von der Kneipe zum Schloss,
Immer die Flasche noch schwenkend,
Daraus die Fülle ihm floss.
Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (2)
In Paul Celans 1952 bei DVA erschienenem Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ finden sich auch diese drei Strophen:
So bist du denn geworden
Wie ich dich nie gekannt:
dein Herz schlägt allerorten
in einem Brunnenland,
wo kein Mund trinkt und keine
Gestalt die Schatten säumt,
wo Wasser quillt zum Scheine
und Schein wie Wasser schäumt.
Du steigst in alle Brunnen,
du schwebst durch jeden Schein.
Du hast ein Spiel ersonnen,
das will vergessen sein.
Zu diesem die Form gewissenhaft erfüllenden Gedicht (mit „Brunnen – ersonnen“ als reizvoller Ausnahme beim Reim) kann man im Netz manches Lesenswerte finden; wer nicht selber nachschauen will, kann sich an die folgenden, mehr oder weniger zufällig ausgewählten Links halten, sie führen zu John Felstiner, Enklaar / Ester und fifty2go.de – wobei Letzterer die Verbindung von „Brunnenrand“ / „Brunnen“ zu Müllers „Am Brunnen vor dem Tore“ zieht, dann auch bezüglich der Form?
Da mag etwas dran sein oder nicht; alleine der Umstand, dass hier nach über 600 Jahren immer noch dieselbe Strophe im Gebrauch ist wie beim Adventslied des ersten Eintrags, und das diese Strophe auch schon im späten Mittelalter nicht mehr neu war: alleine das bezeugt, denke ich, eine Form, die fortwirkt und dauert und nicht wegzudenken ist aus der deutschen Dichtung.
Abendrabe
Dämmerung steigt um die Welt. Ein vom Sein ermüdeter Rabe
Schüttelt die Flügel. Ihr Schwarz mischt sich ins Schwarz dieser Nacht,
Webt gesichtreichen Stoff, den schimmernde Lichter bedecken.
Willig ergibt sich das Tier, sternenbehütet: dem Schlaf.
Wasserschlangen erscheinen im Traum ihm und saftige Feigen,
Ewig verwehrt ihm vom Gott; traurig bekrächzt es sein Los.
Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (1)
Ich fände es reizvoll, wenn der Verserzähler neben der „antiken“ alkäischen Strophe auch eine Reimstrophe etwas ausführlicher vorstellt; daher diese neue Kategorie.
Augeschaut habe ich mir dafür die „Brunnen-Strophe“ – wobei ich mir diesen Namen einfach selbst ausgedacht habe; es ist halt die Strophe, die Wilhelm Müller für sein allüberall bekanntes „Am Brunnen vor dem Tore“ benutzt hat – dessen erste Strophe auch Hans Joachim Frank in seinem „Handbuch der deutschen Strophenformen“ als Beispiel verwendet.
Manchmal findet man die Form auch unter der Bezeichnung „Volksliedstrophe“, aber da das mal so, mal so gemacht wird und Verwechslungen und Verwirrungen vorbestimmt sind, scheint mir das nicht glücklich gewählt …
Einerlei. Die Form ist diese:
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
– Sehr vertraut und wahrscheinlich jedem bekannt?! Trotzdem denke ich, dass diese „Brunnen-Strophe“ eine wirklich trickreiche kleine Form ist, in der viel mehr steckt, als auf den ersten Blick vermutet wird! Auch ist sie Grundlage für viele andere Strophenformen, die ihrerseits wieder ganz eigene Reize haben. Für mich wurde die Achtung vor der Form jedenfalls immer größer, je mehr ich über sie in Erfahrung brachte!
Als erstes Beispiel füge ich nicht den Müllerschen „Lindenbaum“ an, sondern, es ist ja schließlich Advent, „Es kommt ein Schiff geladen“, ein altes Lied, dessen Text aus dem 14. Jahrhundert stammt:
Es kommt ein Schiff, geladen
Bis an sein’ höchsten Bord,
Trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
Des Vaters ewigs Wort.
Das Schiff geht still im Triebe,
Es trägt ein teure Last;
Das Segel ist die Liebe,
Der Heilig Geist der Mast.
Der Anker haft’ auf Erden,
Da ist das Schiff am Land.
Das Wort will Fleisch uns werden,
Der Sohn ist uns gesandt.
Zu Bethlehem geboren
Im Stall ein Kindelein,
Gibt sich für uns verloren;
Gelobet muss es sein.
Und wer dies Kind mit Freuden
Umfangen, küssen will,
Muss vorher mit ihm leiden
Groß Pein und Marter viel,
Danach mit ihm auch sterben
Und geistlich auferstehn,
Das ewig Leben erben,
Wie an ihm ist geschehn.
Die Melodie des Liedes ist vielleicht nicht ganz so bekannt wie „Am Brunnen vor dem Tore“, aber sicher auch vielen im Ohr?! Wer mag, kann aber auch einmal hier hereinhören – oder in eine der anderen Fassungen, die allerdings oft nicht nur kitschig, sondern unerträglich kitschig sind …
Ohne Titel
Fast wäre mir ein etwas eignes Wort,
Der Bücherstapel, in den Vers geraten,
Genauer: an sein Ende, und die Daten
Verbieten dieses Wort an diesem Ort –
Das Reime-Lexikon zum Beispiel, dort
Wird klar, warum den Reime-Kandidaten
Sonett-Quartette sich noch stets verbaten:
Wer „-apel“ nachschlägt, vier! – legts seufzend fort.
Terzette sind da anders, was nicht wundert:
Zwei Wörter, die sich reimen, reichen ihnen.
Nun denn, zur Tat! Ein hoher Bücherstapel
– Ein wirklich hoher, aufeinander hundert
Gelehrte Bücher, alle über Bienen –
Fiel plötzlich um im Bahnhof von Neapel.
Erzählverse: Der Blankvers (52)
Carl Spittelers „Idyll“ kommt gar nicht so idyllisch daher?!
Ein trüber, nasser Herbsttag. Auf der Brücke
Zusammenlauf von Volk. „Wo ist’s geschehen?
Wie sah er aus?“ Der Rettungsnachen, schwankend,
Stößt ab. Schulbuben kleben am Geländer.
Ein Polizist mit rohem Schelten prüft
Verdrossen einen Zettel. „Nicht vor Unglück,
Vor Ekel.“ Aus der Ferne naht im Schwungseil
Schwebend ein Mädchen. Plötzlich stutzt sie, staunt
Und zaudert. Dann mit froh erregten Sprüngen,
Jauchzend, den blonden Lockenzopf im Wind,
Eilt sie verklärten Blicks herbei: „Was gibt’s?“
– Einer der Texte, die Spitteler unter „Literarische Gleichnisse“ versammelt hat; was zu seinem Verständnis beiträgt oder vielleicht auch nicht. Bezogen auf die Form fällt aber auf, wie anfangs die kurzen Sätze, die vielen Zeilensprünge die Verse bei durchaus regelmäßigem „Auf und Ab“ prägen; während mit dem Auftauchen des Mädchens die Zeilensprünge weniger auffällig werden, und durch zwei versetzte Betonungen am Versanfang und eine doppelt besetzte Senkung in der Versmitte die Versbewegung sich beschleunigt, dem Inhalt angemessen?!
Bücher zum Vers (58)
Friedrich Beissner: Geschichte der deutschen Elegie
Ein feines Buch, in dem die Elegie im Altertum „abgeholt wird“, dann im Mittelalter, im Humanismus und im Barock in der jeweiligen Ausprägung vorgestellt wird; ehe dann knapp hundert Seiten den Vorläufern der klassischen Elegien, den klassischen Elegien (als Hauptteil) und den nachklassischen Elegien vorbehalten sind. Da werden dann vor allem die Elegien Goethes, Schillers und Hölderlins eingehend besprochen; und das allein ist die Zeit, die man für das Lesen des Bandes aufbringt, allemal wert! Es gibt aber auch zahlreiche Hinwesie auf Verfasser und Werke, die vielleicht nicht allgemein bekannt sind; so dass auch viele Entdeckungen zu machen sind. Erschienen ist Beissners Werk schon 1965 bei de Gruyter, es liest sich aber auch heute noch gut!
Einige Verse dürfen nicht fehlen, daher hier noch ein von Beissner angeführtes Epigramm Eduard Mörikes, „Tibullus“; das also den römischen Liebes-Elegiker zum Gegenstand hat:
Wie der wechselnde Wind nach allen Seiten die hohen
Saaten im weichen Schwung niedergebogen durchwühlt:
Liebekranker Tibull! so unstet fluten, so reizend
Deine Gesänge dahin, während der Gott dich bestürmt.
Elegische Distichen, das, selbstredend; wie eigentlich alle Elegien der vorklassischen, klassischen und nachklassischen Zeit sie nutzen. Auch den Weg hin zu dieser Versform beschreibt Beissner, und dadurch ist sein Buch auch etwas für den Formfreund!
Ohne Titel
Die Kreide drängt sich
Quietschend der Tafel auf,
Der Lehrsatz zwängt sich
Augendurchstechend rauf
Ins Hirn; Was kann das, frag ich, taugen –
Kreide im Kopf? Mir wird schwarz vor Augen.