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Erzählformen: Die alkäische Strophe (8)

August von Platen hat die Odenmaße sehr von ihrer antiken Form her gedacht. Hier zwei Strophen aus einer seiner Oden:

 

Reiz lockt und Schönheit, deren die Welt entlang
Kein reicher Maß ausspendete Gott als hier;
Doch schmerzt die Habsucht jeden, welchem
Liebe beglückender als Genuss dünkt.

Huldreiches Wort anhören mit offener Hand,
Was kennt das Herz Unedleres? Ach, es klagt,
Dass, gleich der Pest, Leichtsinn entstelle
Solche Gebärden und solche Züge!

 

Wenn man sich noch einmal die „antike“ Strophe in Erinnerung ruft …

# — v — # | — v v — v #
# — v — # | — v v — v #
# — v — # — v — #
— v v — v v — v — #

mit ihrer Möglichkeit, an den mit „#“ gekennzeichneten Stellen eintweder eine lange (—) oder eine kurze (v) Silbe zu gebrauchen, erkennt man, Platen hat wirklich von hier aus gedacht. Der Aufbau der ersten Strophe, in „Längen-Kürzen-Schreibweise“:

— — v — — | — v v — v —
— — v — — | — v v — v —
v — v — — — v — v
— v v — v v — v — —

Sicher, da könnte man auch einige Silben als „kurz“, also als im Deutschen unbetont ansehen; aber eigentlich hat Platen eher noch mehr „Längen“ unterbringen wollen, als ich ihm hier gegönnt habe?!

Das Herbeischaffen von Längen hat er auf ganz verschiedenen Wegen versucht: am Anfang und am Ende hat er – „Reiz lockt“, „Genuss dünkt“ – sehr „schwere“ Einsilber (umfangreich, Sinnsilbe) auf eine Senkungsstelle gesetzt; bei „ausspendete“ nutzt er den „geschleiften Spondäus“, der also nicht nur im Hexameter von den „Antikisieren“ verwendet wurde!

In der zweiten Strophe hat er einen solchen Spondäus gleich viermal, zweimal im ersten, einmal im zweiten und einmal im dritten Vers:

— — v — — | — v v — v v —
— — v — — | — v v — v —
— — v — — — v — v
— v v — v v — v — v

(Warum der erste Vers hier eine Silbe zuviel hat – „offene“ – weiß ich nicht wirklich …)

Das stellt an den Vortrag sicher einige Anforderungen?! Ein Text von so großer, künstlich erzeugter Schwere muss erst einmal fremd klingen; doch wenn man Geduld hat und so lange versucht, bis die Verse annehmbar klingen, ohne ihre Eigenart zu verlieren: dann bemerkt man, dass sie sehr kraftvoll sind und auf ihre eigene Art auch schön.

Trotzdem kann ein solcher Vers- und Strophenbau nicht Maßstab sein, und im nächsten EIntrag zur alkäischen Strophe gibt es dann wieder Beispiele, die von den Gegebenheiten des Deutschen her gedacht und geschrieben sind!

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Erzählverse: Der Hexameter (79)

Eduard Mörikes „Im Weinberg“

„Im Weinberg“ ist ein kürzeres Hexameter-Stück; tatsächlich ist es mit 25 Hexametern sogar so kurz, dass ich es hier vollständig vorstellen möchte:

 

Droben im Weinberg, unter dem blühenden Kirschbaum saß ich
Heut, einsam in Gedanken vertieft; es ruhte das Neue
Testament halboffen mir zwischen den Fingern im Schoße,
Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten Herzen –
Ach! du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!)
Lang so saß ich und blickte nicht auf; mit einem da lässt sich
Mir ein Schmetterling nieder aufs Buch, er hebet und senket
Dunkele Flügel mit schillerndem Blau, er dreht sich und wandelt
Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender Sylphe?
Lockte die purpurne Decke dich an, der glänzende Goldschnitt?
Sahst du, getäuscht, im Büchlein die herrlichste Wunderblume?
Oder zogen geheim dich himmlische Kräfte hernieder
Des lebendigen Worts? Ich muss so glauben, denn immer
Weilest du noch, wie gebannt, und scheinst wie trunken, ich staune!
Aber von nun an bist du auf alle Tage gesegnet!
Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen.
Ja, wohin du künftig die zarten Füße wirst setzen,
Tauet Segen von dir. Jetzt eile hinunter zum Garten,
Welchen das beste der Mädchen besucht am frühesten Morgen,
Eile zur Lilie du – alsbald wird die Knospe sich öffnen
Unter dir; dann küsse sie tief in den Busen: von Stund an
Göttlich befruchtet, atmet sie Geist und himmlisches Leben.
Wenn die Gute nun kommt, vor den hohen Stengel getreten,
Steht sie befangen, entzückt von paradiesischer Nähe,
Ahnungsvoll in den Kelch die liebliche Seele versenkend.

 

Ich mag’s. Inhaltlich tut man sich heute etwas schwer, aber die Art, wie Mörike die „Handlung“ führt und zusammenhält, gefällt mir einfach. Und sein Vers sowieso!

Obwohl, die drei Anfangsverse finde ich ein wenig seltsam?! Wenn ein Dichter ein Gedicht in einem festen Versmaß schreibt, versucht er doch eigentlich erst, mit ein, zwei „üblichen“ Versen dem Leser / Hörer zu vermitteln, wo er sich gerade befindet; und dann werden die Möglichkeiten und Ausnahmen zwecks Schaffung von Vielfalt bemüht. Mörike geht anders vor – weil ihm die Leser nicht so wichtig waren? Weil er davon ausging, dass der Hexameter sowieso den Lesern, auf die es ankam, in Fleisch und Blut übergegangen war? Ich vermute letzteres – zu seiner Zeit war der deutsche Hexameter immerhin schon über 100 Jahre in Gebrauch!

Droben im / Weinberg, || unter dem / blühenden / Kirschbaum / saß ich

Gleich im ersten Vers setzt er eine sehr frühe Zäsur hinter der zweiten Einheit, und am Ende macht er von der „metrischen Lizenz“ Gebrauch, das „X x x“ der fünften Einheit durch ein „X x“ zu ersetzen. Wobei „Kirsch-baum“ natürlich, durch die antike Brille betrachtet, durchaus auch als „— —“ durchginge: als Spondeus. Im Deutschen ist’s eben eher eine sehr schwere zweisilbige Einheit, die die dreisilbige Einheit gut „vertritt“ … In den nächsten beiden Versen stehen etwas ungewöhnliche zweisilbige Einheiten am Versanfang:

Heut, ein- / sam in Ge- / danken ver- / tieft; || es / ruhte das / Neue
Testa- / ment halb- / offen || mir / zwischen den / Fingern im / Schoße,

Das „ein-“ zu drücken und das „-sam“ zu heben (auf ein Niveau, nicht: aneinander vorbei) ist ein „geschleifter Spondeus“, wie sie Johann Heinrich Voss so geliebt hat? Genau wie „ment halb of-“ in der Folgezeile. Da fällt das betonte „Tes-“ am Versbeginn gar nicht mehr auf …

Aber wirklich fest legt sich Mörike nie:

Mir ein / Schmetterling / nieder aufs / Buch, || er / hebet und / senket

Hier „leistet“ er sich, nach den obigen Fällen von „Schwere“, einen äußerst schmalbrüstigen Verseingang, Pronomen und Artikel: „Mir ein“. Aber trotzdem passt immer alles zusammen, weil Mörike einfach ein wunderbares Gespür für rhythmische Wirkungen hatte! Weswegen er sich die Meinung leisten konnte (in einem Brief an seinen Freund Hartlaub): Man kommt zuletzt am weitesten, wenn man in allen Fällen sein eigenes Gehör befragt. Wogegen auch heute nichts zu sagen ist – falls man denn Mörike heißt.

 

Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen.

 

Der Vers fällt mir häufiger ein, wenn ich draußen einen Schmetterling sehe. Aber jetzt ist es November …

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Erzählformen: Das Sonett (10)

Nikolaus Lenau hat vier „Stimme-Sonette“ geschrieben; von denen gefällt mir „Stimme des Regens“ deutlich am besten:

 

Die Lüfte rasten auf der weiten Heide,
Die Disteln sind so regungslos zu schauen,
So starr, als wären sie aus Stein gehauen,
Bis sie der Wandrer streift mit seinem Kleide.

Und Erd und Himmel haben keine Scheide,
In eins gefallen sind die nebelgrauen,
Zwei Freunden gleich, die sich ihr Leid vertrauen,
Und Mein und Dein vergessen traurig beide.

Nun plötzlich wankt die Distel hin und wider,
Und heftig rauschend bricht der Regen nieder,
Wie laute Antwort auf ein stummes Fragen.

Der Wandrer hört den Regen niederbrausen,
Er hört die windgepeitschte Distel sausen,
Und eine Wehmut fühlt er, nicht zu sagen.

 

„Nicht zu sagen“; und sagt es doch. Wobei Lenau ja ziemlich häufig so klingt; aber wie er die Stimmung hier durch das Sonett führt und dabei dessen Grundgerüst, das ja viel eher auf gedankliche Arbeit irgendeiner Form angelegt ist, getreulich verwirklicht: das kann man sich schon einmal ansehen und wohl auch etwas daraus mitnehmen für die eigenen Sonette, denke ich.

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Erzählformen: Die alkäische Strophe (7)

Das antike Vorbild der „deutschen alkäischen Strophe“ sieht im Silbenbild so aus:

v — v — v | — v v — v —
v — v — v | — v v — v —
v — v — v — v — v
— v v — v v — v — v

Wobei, wie immer in der Antike, nicht betonte und unbetonte Silben, sondern lange (—) und kurze (v) Silben betrachtet werden. Allerdings ist die Silbenverteilung damit noch nicht hinreichend beschrieben; denn an manchen Stellen im Vers konnten sowohl eine lange wie eine kurze Silbe stehen! Ich kennzeichne die entsprechenden Stellen durch ein „#“:

# — v — # | — v v — v #
# — v — # | — v v — v #
# — v — # — v — #
— v v — v v — v — #

– Wie man sieht,  weisen die ersten drei Verse je drei solche Stellen auf, der letzte Vers eine.

In der deutschen alkäischen Strophe ist die Möglichkeit zumeist unbeachtet geblieben, nur bei Verfassern, die sich die antike Strophe ausdrücklich zum Vorbild genommen haben, ist etwas davon zu spüren. Zu diesen gehört auch Friedrich Gottlieb Klopstock, der die Strophe in die deutsche Dichtung eingeführt hat und daher ohnehin noch stark am Vorbild entlangdenkt!

Betrachtet man die ersten beiden Verse, so wird klar, dass, setzt man das antike Vorbild um in Bezug auf die letzte Silbe, diese in der deutschen Strophe betont oder unbetont sein kann; ist sie unbetont, schließt der Vers mit zwei unbetonten Silben. Das gibt es bei Klopstock durchaus – eine Strophe aus „der Abschied“:

 

Die heilge Tugend, Gottes erhabenste,
Hier nicht erkannte Schöpfung, und selige,
Von ihrem Jubel volle Freuden
Müssen dein jugendlich Haupt umschweben,

 

Hier sind sowohl im ersten als auch im zweiten Vers die Schluss-Silben unbetont, das Silbenbild sieht also so aus (die beiden abweichenden Silben sind rot):

x X x X x | X x x X x x
x X x X x | X x x X x x
x X x X x X x X x
X x x X x x X x X x

Und wenn sich auch im Laufe der Jahre die betonte Silbe am Ende der ersten beiden Verse durchgesetzt hat (zwei unbetonte Silben am Versende klingen im Deutschen etwas eigen), ist die unbetonte Schluss-Silbe nie ganz außer Gebrauch gekommen. Fünfzig Jahre nach Klopstocks ersten Versuchen schreibt zum Beispiel Friedrich Hölderlin diese beiden Strophen, sie sind der Schluss von „Der Prinzessin Amalie von Dessau“:

 

Und wie auf dunkler Wolke der schweigende,
Der schöne Bogen blühet, ein Zeichen ist
Er künftger Zeit, ein Angedenken
Seliger Tage, die einst gewesen,

So ist dein Leben, heilige Fremdlingin!
Wenn du Vergangnes über Italiens
Zerbrochnen Säulen, wenn du neues
Grünen aus stürmischer Zeit betrachtest.

 

– In beiden Strophen sind die Ausgänge der ersten beiden Verse mit sehr schwachen Silben besetzt?! Das „ist“ könnte man sicher betonen, aber man kann es auch unbetont lesen; „-de“ und „-gin“ zu betonen, klänge schon einigermaßen seltsam; und spätestens bei „-ens“ geht es gar nicht mehr!

Wie man sich selbst verhält in diesem Fall, muss jeder Verfasser selbst wissen; man kann die unbetonte Silbe am Schluss vollständig missachten, man kann sie dann und wann erlauben, man kann sie häufig verwenden …

Die Schluss-Silben der ersten beiden Verse sind also in der gewöhnlichen deutschen alkäischen Strophe betont, können aber unter dem Einfluss des antiken Vorbilds manchmal auch unbetont sein; die anderen oben mit „#“ gekennzeichneten Silben sind in der deutschen alkäischen Strophe dagegen unbetont, können sich aber unter dem Einfluss des antiken Vorbilds manchmal „auf die Betonung hin ausrichten“ (um es vorsichtig auszudrücken). Welche Auswirkungen das auf die Strophe hat, und welche Wirkungen damit erzielt werden können: weiß der nächste Eintrag zur alkäischen Strophe.

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Erzählformen: Das Reimpaar (13)

Oft kommt es mir so vor, als wollten die Verfasser die Dinge grundsätzlich angehen, wählen sie als Form das Reimpaar: Weg alles, das den Blick verstellt!

Besonders deutlich tritt das zu Tage, werden die Reimpaare nicht gereiht, sondern durch Leerzeilen abgesetzt; und wenn dann noch jeder Vers einen Satz fasst, der Satz aber keinesfalls mehr als ein Reimpaar füllt, entstehen Texte wie Werner Bergengruens „Spätherbst“ („Figur und Schatten“, Nymphenburger Verlagshandlung 1958, Seite 127):

 

Das Jahr wird groß, die Erde weit.
Zeit wölbt sich hoch wie Ewigkeit.

Wie hallt der Schritt. Das Land ward hart.
Waldbäume ragen schwarz erstarrt.

Die Leere wächst beängstend nach.
Aus kahlem Astwerk steigt das Dach.

Doch durch der Zweige Anmut bricht
Im Sturz das weiße Sternenlicht.

O kühle Nacht, o Sternenschein!
Mein Herz will euch gehorsam sein.

 

– Ich kann mir nicht vorstellen, Bergengruen habe nicht gewusst, was er mit einer Anrufung wie der im letzten Verspaar anrichtet – erst recht, wenn sie an Nacht und Sterne ergeht; aber offenkundig war’s ihm gleichgültig …