Stürzte vom Himmel der Mond, ins Vergessen sein strahlender Anblick,
Schwiege ich still für ein Jahr; sänge dann laut seine Pracht.
Erzählformen: Das Sonett (9)
Wieder ein Sonett von Franz Werfel, “ Die befreite Seele“, in seinen gesammelten Werken zu finden im Band “Das lyrische Werk” (Fischer 1967) auf den Seiten 422 und 423. Es ist das auf „Der Tod des Priesters„, vorgestellt im fünften Sonett-Eintrag, folgende Gedicht; vielleicht lohnt sich daher der Blick auf des Vor-Gedicht …
Mit Werfels Gedichten habe ich so meine Mühe; irgendetwas in ihnen bürstet mich immer gegen den Strich. Aber gerade darum lohnt wahrscheinlich die Beschäftigung mit ihnen? Ob „Die befreite Seele“ ein Erzählsonett ist, möge jeder selbst entscheiden:
Noch einmal! Auf! Ein wilder Fluchtversuch!
Doch haften bleibt sie an der Sterbestelle.
Weh! Unter ihr das Wachs, das Corporelle
Bedrängt sie mit verdicktem Ichgeruch.
Des Körpers Nachgefühl drückt wie ein Fluch
In ihr Befreitsein sich mit grober Delle.
Bis dies auch stirbt und langsam Zell‘ um Zelle
In ihr sich ausfeint, Hauch wird, Schleiertuch.
Nun ist es leer um sie. Wohin? Empor!
Doch wo ist: oben, was bedeutet: Richtung,
In diesen Zwischenräumen unbeirrt?
Da erst gibt sie sich hin. Wie Rauch und Flor
Saugt sie ein Zug in Schichten der Entdichtung,
Wo alles lockrer, leichter, heiter wird.
Mag es ein, auch dieses Gedicht „entdichtet“ sich gegen Ende hin?! Jedenfalls ein eigenartiger Text, bei dem spannend zu verfolgen ist, wie er die Ansprüche, die die „innere Form“ des Sonetts anmeldet, zu erfüllen versucht.
Bücher zum Vers (50)
Johannes R. Becher: Das poetische Prinzip.
1957 im Aufbau-Verlag erschienen, versammelt dieser Band Bechers auf knapp 450 Seiten Gedanken zu den Fragen der Dichtung. Da kann man ohnehin schon einmal hineinschauen (wenn man auch nicht alles gutheißen wird, wie ich vermute); alle, die sich mit dem Sonett beschäftigen, werden darüber hinaus den Anhang aufmerksam lesen, denn da findet sich Bechers „Philosophie des Sonetts“, in der Becher eine scharfe und recht einseitige Bestimmung des Sonetts vorschlägt, die nämlich über dessen „innere Form“; aber gerade an solchen Bestimmungen lassen sich die eigenen Vorstellungen am besten überprüfen.
Alles Käse
Käse! Vorsichtig, sehr vorsichtig setzte die Maus einen Fuß auf die Falle. Vergebliche Mühe: ein lautes „Schnapp!“ nahm einige ihrer Zehen in Haft. Der herbeieilende Besitzer der Falle sah, was geschehen war, und stimmte einen Jubelgesang an:
Tritt ein Mäusebein
In die Falle rein,
Nennt man das ein Reinbein!
Die Maus zog und zerrte und spürte, wie sie freikam. Sie verbannte allen Schmerz aus ihrer Stimme und sang, derweil sie in Sicherheit huschte, stolz zurück:
Kommt jedoch die Maus
Aus der Falle raus,
Nennt man das die Rausmaus!
Der verblüffte Fallensteller aber kehrte mit einem unterdrückten Fluch und den Worten „Na gut, Unentschieden für diesmal“ zu seinem Fernsehsessel zurück.
Erzählverse: Der Blankvers (44)
Noch einmal Carl Spitteler, diesmal mit einem „literarischen Gleichnis“; so ist der Teil seiner gesammelten Werke benannt, in dem sich „Zwischen Ilias und Odyssee“ findet. Das ist ein, für heutige Ohren und Augen, einigermaßen eigenartiger Text:
„Hier dieser Ausdruck lügt. Ich will die Wahrheit.“
Die Muse sprach es, und Homer gehorchte.
Dann stand sie auf. „Ist’s möglich? Fertig?“ „Fertig“,
Bejahte sie, „und schön und groß und ewig.“
„Und ich bin frei?“ „Du sagst es: frei und ledig.“
Da sprang er jäh empor: „Unmenschliche,
Wohlan, vernimm mein Urteil: Jeder Gott
Ist gnädig, jedes Menschenherz spürt Mitleid,
Und seines Knechtes misst und schont
Selbst der Tyrann. Nur du fühlst kein Erbarmen:
Stündlich Gewissenssorgen Tag und Nacht
Und selbst im Traume keine Seelenrast.
Von neuen Bildern stets mein Auge voll
Und deine Hand erhoben zur Vernichtung.
Drum höre meinen Spruch: wir sind geschieden.“
Nach diesen Worten eilt er freiheitsdurstig
Hinunter in die Stadt, ein Stündchen Freundschaft
Zu gönnen sich zur Feier der Vollendung.
Doch wie er spät am Abend in sein Zimmer
Kehrte zurück, da schaut er trüb und traurig
Zwei lange Stunden auf das ewige, große,
Vollbrachte Werk. „Und innen auch verwaist,
Verwaist und öd und leer und einsam. Nirgends
Mühsal zum Trost und Pein und harte Arbeit.“
„Ich bins“, erwiderte die Muse flüsternd,
Und als er neuerdings den heiligen Schwur
Auf seinen Knien tat und seine Tränen
Benetzten ihre Hände: „Freund, du zagst?“
Fragte sie gnadenvoll. „Ich zage nicht.
Vergib, ich meins nicht, wie ichs weine. Komm,
Lass uns beginnen. Du bist mild und gut.“
So geht das heute nicht mehr – auch wenn mit Spitteler hier ein gestandener Nobelpreisträger Vorbild ist. Aber sein ganz eigener Ton ist schon ein Hinhören wert, seine Verse bewegen sich auf eine spröde und doch recht anziehende Weise?!
Herbstbekanntschaft
Ich will euch
Vom Sommer erzählen,
Sagte das Blatt,
Vom Wind, von der Wärme.
Wir kennen den Sommer,
Rief da das Gras,
Den Wind und die Wärme –
Vom Fallen erzähl uns! Erzähl uns
Vom Fallen.
Erzählverse: Der Hexameter (71)
Henry Wadsworth Longfellows „Evangeline“ (2)
Longfellows englischsprachiges Hexameterepos (das in Hexameter 13 schon einmal aufgetaucht ist beim Verserzähler) beschreibt seine Titelheldin unter anderem mit diesen Versen:
Fair was she to behold, the maiden of seventeen summers.
Black were her eyes as the berry that grows on the thorn by the wayside,
Black, yet how softly they gleamed beneath the brown shade of her tresses!
Sweet was her breath as the breath of kine that feed in the meadows.
Nun ist „Evangeline“ einige Male ins Deutsche übersetzt worden, und mit dem letzten Vers hatten die Übersetzer so ihre Schwierigkeiten. Nicht vom Versbau her, der ist übertragbar; mehr vom Inhalt her. „Süß wie der Atem des Viehs“? Wie jetzt … In Klaus Martens „Die ausgewanderte Evangeline. Longfellows epische Idylle im übersetzerischen Transfer“ (Schöningh 1989) findet sich eine Liste der verschiedenen Übersetzungen dieses Verses, wobei das in vielen Fällen eher freie Übertragungen sind.
Und der Hauch ihrer Lippen glich Blumendüften im Lenze
ist der Versuch von Friedemann (1919), der eigentlich jede inhaltliche Übereinstimmung mit dem Urtext vermeidet! Bis auf, vielleicht, de „Hauch ihrer Lippen“ – da ist dann doch ein Anklang. Und wirklich, irgendeine Verbindung gibt es immer, etwa bei Meyer (1898):
Sanft war ihr Herz, wie das Lamm auf der Weide geduldig und gütig.
Hier ist der Übersetzer mit „Weide“ Longfellow nah?! Sogar mit „Flur“ und „Herden“, aber immer noch gänzlich frei überträgt Knortz (1874):
Gleich den Herden der Flur war still und lieblich ihr Dasein.
Aber es gibt neben solchen sehr freien Übertragungen auch Versuche, den „Viehatem“ etwas überzeugender zu vermeiden.
Herrlich duftet ihr Odem, wie rinderernährende Matten.
Gasda (1863) hat alles: die Wiesen, das Vieh, das Fressen; nur den Atem des Viehs nicht, verglichen wird, etwas versteckt, wieder mit Kräutern und Blumen.
Schließlich sind da noch die Übersetzer, die es gewagt haben, den Mädchenatem und den Viehatem zu vergleichen. Aber so ganz getraut hat sich auch Herlth (1870) nicht:
Und ihr Atem so süß wie der Hauch flurgrasender Kälblein.
Das wirkt im 21. Jahrhundert schon unfreiwillig komisch in seiner Niedlichkeit?!
Oder, wenn schon der Atemvergleich, dann nicht über das „süß“:
Und ihr Atem war sanft wie der Atem der weidenden Färsen
ist der Versuch von Hauser (1908). Und immer so weiter … Schon erstaunlich, jedenfalls von heute aus gesehen, wo gegen
Süß war ihr Atem, so süß wie der Atem der weidenden Kühe
wahrscheinlich niemand etwas einzuwenden hätte. Oder doch? Zu abwegig, der Vergleich? Zu weit an der eigentlichen, nicht-wörtlichen Bedeutung vorbei?! Jetzt müsste man des Englischen mächtig sein …
Na ja, sicherhaltshalber schließe ich mit einem Vers, der das Vorübergehen von Evangeline beschreibt, oder besser, den Moment danach:
When she had passed, it seemed like the ceasing of exquisite music.
Das ist einmal an sich ein starker Vers, und zum anderen denke ich, ohne die einzelnen Übersetzungen gesehen zu haben, dass sich die allermeisten Übersetzer hier wohl und zu Hause gefühlt haben!
Ohne Titel
Über der Wiese öffnet die Lerche den Schnabel; ein Blöken
Steigt auf; unten, im Gras, lächelt zufrieden das Schaf.
Erzählformen: Das Reimpaar (9)
In (8) war zu sehen und zu hören, wie auch der iambische Vierheber, als Bestandteil eines Reimpaares, durch kleine Abweichungen aufgelockert werden kann. Wie weit man dabei gehen kann, ohne dass der Vers seine Wiedererkennbarkeit verliert, ist eine spannende Frage! Ich stelle drei Auschnitte aus Gedichten Heinrich Heines vor, zuerst den Anfang von „Babylonische Sorgen“:
Mich ruft der Tod – Es wär’ noch besser,
Müsst’ ich auf hohem Seegewässer
Verlassen dich, mein Weib, mein Kind,
Wenn gleich der tolle Nordpol-Wind
Dort peitscht die Wellen, und aus den Tiefen
Die Ungetüme, die dort schliefen,
Haifisch’ und Krokodile, kommen
Mit offnem Rachen emporgeschwommen –
Glaub’ mir, mein Kind, mein Weib, Mathilde,
Nicht so gefährlich ist das wilde,
Erzürnte Meer und der trotzige Wald,
Als unser jetziger Aufenthalt!
Der etwas verwunderliche „Wald“ wird in den vohergehenden Versen verhandelt … Jedenfalls ist der Text zwar aufgelockert – versetzte Betonungen und eine schwebende Betonung am Versanfang, wiederholte zweisilbig besetzte Senkungen (aber nur einmal zwei davon im selben Vers) -, doch der Vers ist immer noch gut als iambischer Vierheber zu erkennen:
x X / x X / x X / x X / (x)
Der zweite Abschnitt stammt aus „Rückschau“ (= Lazarus III):
Ein Lorbeerkranz umschloss die Stirn,
Er duftete Träume mir ins Gehirn,
Träume von Rosen und ewigem Mai –
Es ward mir so selig zu Sinne dabei,
So dämmersüchtig, so sterbefaul –
Mir flogen gebratne Tauben ins Maul,
Und Englein kamen, und aus den Taschen
Sie zogen hervor Champagnerflaschen –
Das waren Visionen, Seifenblasen –
Sie platzten – Jetzt lieg ich auf feuchtem Rasen,
Die Glieder sind mir rheumatisch gelähmt,
Und meine Seele ist tief beschämt.
Hier hört sich die Sache anders an?! Der erste Vers ist zwar ein fester iambischer Vierheber, aber schon der zweite und der dritte weisen zwei doppelt besetzte Senkungen auf, und im vierten sind gleich alle drei Senkungen im Versinnern doppelt besetzt!
Es ward / mir so se– / lig zu Sin– / ne dabei,
x X / x x X / x x X / x x X
Und wenn auch die folgenden Verse diesen Wert nicht mehr erreichen, ohne doppelt besetzte Senkung kommt keiner aus. Das ist, denke ich, schon kein iambischer Vierheber mehr, sondern ein freierer Vers, den man so darstellen kann:
x X / x (x) X / x (x) X / x (x) X / (x)
(Mit X = betonte Silbe, x = unbetonte Silbe, (x) = unbetonte Silbe, die stehen kann, aber nicht muss.)
– Und der iambische Vierheber ist dann eine Möglichkeit unter vielen, die dieser (schöne!) Vers zur Verfügung hat bezüglich seiner Bewegunglinie!
Ich habe ihn auch schon einmal kurz vorgestellt hier beim Verserzähler – in Der Knittel (5). Dort mit dem Hinweis, es sei ein „mäßig freier Vers“. Eben ein Vers in der Mitte, genau zwischem dem sehr strengen Auf und Ab des iambischen Vierhebers und der unüberschaubaren Bewegungsvielfalt des Knittels!
Der dritte Abschnitt ist die erste Hälfte von „Leib und Seele“:
Die arme Seele spricht zum Leibe:
Ich lass nicht ab von dir, ich bleibe
Bei dir – Ich will mit dir versinken
In Tod und Nacht, Vernichtung trinken!
Du warst ja stets mein zweites Ich,
Das liebevoll umschlungen mich,
Als wie ein Festkleid von Satin,
Gefüttert weich mit Hermelin –
Weh mir! jetzt soll ich gleichsam nackt,
Ganz ohne Körper, ganz abstrakt,
Hinlungern als ein sel’ges Nichts
Dort oben in dem Reich des Lichts,
In jenen kalten Himmelshallen,
Wo schweigend die Ewigkeiten wallen
Und mich angähnen – sie klappern dabei
Langweilig mit ihren Pantoffeln von Blei.
O das ist grauenhaft; o bleib’,
Bleib’ bei mir, du geliebter Leib!
Viele gleichmäßige Reimpaare zu Beginn, ehe dann mit „Wo schweigend …“ drei bewegtere Verse einsetzen, deren letzter dann wieder die drei doppelt besetzten Senkungen aufweist! Aber hier ist es eben Ausnahme, nicht Regel, und das „Blei“ gleichsam Programm: Im abschließenden Reimpaar kehrt die Bewegung übergangslos zum strengen, schweren Auf und Ab zurück. Ein recht heftiger Wechsel, der aber den Unterschied in der Bewegung gut hörbar macht?!