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Erzählformen: Das Madrigal (7)

Komm, sage mir, was du für Sorgen hast

Es zwitschert eine Lerche im Kamin,
Wenn du sie hörst.
Ein jeder Schutzmann in Berlin
Verhaftet dich, wenn du ihn störst.

Im Faltenwurfe einer Decke
Klagt ein Gesicht,
Wenn du es siehst.
Der Posten im Gefängnis schießt,
Wenn du als kleiner Sträfling ihm entfliehst.
Ich tät es nicht.

In eines Holzes Duft
Lebt fernes Land.
Gebirge schreiten durch die blaue Luft.
Ein Windhauch streicht wie Mutter deine Hand.
Und eine Speise schmeckt nach Kindersand.

Die Erde hat ein freundliches Gesicht,
So groß, dass man’s von weitem nur erfasst.
Komm, sage mir, was du für Sorgen hast.
Reich willst du werden? – Warum bist du’s nicht?

 

Ein Gedicht von Joachim Ringelnatz, das die Erfordernisse eines Madrigals ganz gut erfüllt: Freie Anzahl der Hebungen, freie Reimstellung bei durchgängigem, hier: iambischem Metrum. Von dem wird nur leicht abgewichen – es gibt zwei versetzte Hebungen am Versanfang, „Klagt …“ und „Reich …“

Ein wenig lang ist es mit seinen 19 Versen; aber ich denke, man kann hier trotzdem von einem Madrigal sprechen.

Bemerkenswert dabei, wie sich der Schluss dann doch auf eine bestimmte Versart festlegt?! Die letzten sieben Verse sind betont schließende Fünfheber!

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (16)

„Ach nur einmal noch im Leben“ ist wieder einer dieser unnachahmlichen Plaudertexte Eduard Mörikes. Der Vers formt die Rede nur ganz leicht, fast kaum bemerkbar; und doch ist jederzeit klar, hier werden Verse vorgetragen. Ein Ausschnitt:

 

In meinem Garten aber (hieß‘ er nur noch mein!)
Ging so ein Hinterpförtchen frei ins Feld hinaus,
Abseits vom Dorf. Wie manches liebe Mal stieß ich
Den Riegel auf an der geschwärzten Gattertür
Und bog das überhängende Gesträuch zurück,
Indem sie sich auf rostgen Angeln schwer gedreht! –
Die Tür nun, musikalisch mannigfach begabt,
Für ihre Jahre noch ein ganz annehmlicher
Sopran (wenn sie nicht eben wetterlaunisch war),
Verriet mir eines Tages – plötzlich, wie es schien,
Erweckt aus einer lieblichen Erinnerung –
Ein schöneres Empfinden, höhere Fähigkeit.
Ich öffne sie gewohnter Weise, da beginnt
Sie zärtlich eine Arie, die mein Ohr sogleich
Bekannt ansprach. Wie? rief ich staunend: träum ich denn?
War das nicht „Ach nur einmal noch im Leben“ ganz?
Aus Titus, wenn mir recht ist? – Alsbald ließ ich sie
Die Stelle wiederholen; und ich irrte nicht!
Denn langsamer, bestimmter, seelenvoller nun
Da capo sang die Alte: „Ach nur einmal noch!“
Die fünf, sechs ersten Noten nämlich, weiter kaum,
Hingegen war auch dieser Anfang tadellos.

 

Wie leicht die Versbehandlung ist, kann man vielleicht an den zahlreichen „leichten“ Silben erkennen, die auf einer Hebungs-Stelle stehen?!

Und bog / das ü– / berhän– / gende / Gesträuch / zurück,

Das geht vor dem gleichfalls sehr schwachen „Ge-“ sicherlich, macht den Vers aber flüchtig?!

Für ih– / re Jah– / re noch / ein ganz / annehm– / licher

– Eine „leichte“ Silbe am Versende!

Ein schö– / neres / Empfin– / den, – / here – / higkeit.

Ein bemerkenswerter Vers durch die unerschiedliche Behandlung von „schöneres“ und „höhere“: im einen Fall – „schöneres“ – besetzt die zweite leichte Silbe „-res“ eine Hebungsstelle, wird als wichtig für den Vers herausgehoben; im zweiten Fall – „höhere“ – ist die zweite leichte Silbe „-re“ eine zusätzliche Silbe, die eigentlich gar nicht da sein bräuchte: Mörike macht von der Möglichkeit Gebrauch, ausnahmsweise zwei leichte Silben auf eine Senkungs-Stelle zu setzen. Beidesmal ein gesteigertes Adjektiv, beidesmal eine Verwendung, die leicht aus dem Trimeterrahmen fällt! Und obwohl es ganz unterschiedliche Abweichungen sind, fügt sich der Vers ganz wunderbar. Mörike war eben ein Mann mit einem sehr sicheren Gespür für Rhythmik …

Ach ja, wer wissen möchte, was die Tür denn da gesungen hat, die „mannigfach begabte“:

Deh per questo istante solo

– Das.

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Ohne Titel

Ein Mensch auf einem Turm. Er schreit;
Der Wind trägt seine Schreie weit.
Wer Ohren hat, zu hören,
Der hört’s, der steigt auf einen Turm,
Der schreit: die Welt zu stören.

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Bücher zum Vers (47)

Günter Waldmann: Produktiver Umgang mit Lyrik

„Eine systematische Einführung in die Lyrik, ihre produktive Erfahrung und ihr Schreiben“, heißt es auf der Titelseite, im Untertitel; und das durchaus zutreffend. „Für Schule (Primar- und Sekundarstufe) und Hochschule sowie zum Selbststudium“ ist dann auf der ersten Innenseite zusätzlich zu erfahren, auch das: zutreffend.

Also ein Buch, das, wenn auch für das Selbststudium geeignet, doch immer irgendwie nach Schule klingt; was man mögen muss. Lässt man sich nicht abschrecken, stellt Waldmann auf knapp 300 Seiten eine große Menge an Wissen vor, das beständig durch Übungen und Arbeitsaufträge abgesichtert wird; „produktive Erfahrung“ eben.

Unter „5.1“ geht es zum Beispiel um „Die Wortwiederholung (an Gedichten Kunerts, Enzensbergers, Brecht und anderer)“. Ich wähle ein Gedicht der „anderen“ – auf Seite 129 schreibt Waldmann:

Ein Beispiel für den kunstvollen Gebrauch von Anapher, Epipher und Complexio ist Goethes Vierzeiler:

 Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz:
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Eine dreigliedrige (wenn auch nicht ganz reine: „Alles – alle“) Anapher verbindet die 1. mit der 3. und der 4. Zeile. Eine Epipher („ganz“) verbindet die 2. mit der 4., eine andere Epipher („die unendlichen“) die 1. mit der 3. Zeile. Beide Epiphern sind kreuzreimartig miteinander verschränkt und zusätzlich noch in der 4. Zeile („die unendlichen, ganz“) direkt miteinander verbunden. Die 1. und 3. Zeile weisen dieselbe Anapher und Epipher auf und bilden also mit ihnen eine Complexio.

Das liest sich einigermaßen trocken und geschäftsmäßig, ungerührt vorstellend, eben: schulmäßig?! Wie gesagt: Alle, denen das nichts ausmacht, sollten dem Band eine Chance geben; Wissen steckt einiges darin.

Erschienen bei Schneider (11. Auflage 2010)!

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Erzählverse: Der Hexameter (68)

Gerhart Hauptmanns „Till Eulenspiegel“ (2)

Wie angekündigt: Der Rest des „ersten Abenteuers“. Nach der Begegnung mit den Behörden baut Till seine „Bude“ ab und zieht mit seinem Karren los. Hauptmann beschreibt Tills Gefährten so (wieder aus Hauptmanns gesammelten Werken, vierter Band, erschienen 1964 bei Propylän, Seite 601-613):

 

Und im Grund des Gefährts saß ein Käuzlein. Es rührte sich wenig.
Gift und Galle: So nannte der fahrende Landschelm die Pferdchen,
der, als lachender Gott, sie regierte und so eines weißen
Pudels Dienste genoss, den, wie manchen der Gilde, man Prinz rief.

 

Weit außerhalb der Stadt schlägt Till sein Lager auf. Dort begegnen ihm Ulrich, ein blinder ehemaliger Soldat, der den Krieg genausowenig los wird wie Till, und dessen Mutter. Till läd sie ein, und:

 

Dieser aß höchst vergnügt und genoss von dem Weine des Gauklers,
ward gesprächig und schien seiner Blindheit sich nicht zu erinnern.
„Köstlich“, sprach er, „ist so eine Nacht, wenn die Schauer der Stille
mit den wohligen Strömen der laulichen Luft sich vereinen,
gleichsam unter das Weltengewimmel der Sterne sich flüchten!
Und wie bleich das Gebirge sich dehnt in der schummrigen Ferne,
überirdischem Horte gediegenen Silbers vergleichbar
in den nächtlichen Tempeln und Schätzegewölben der Gottheit!“

 

Mit der Naturschilderung glättet sich auch der Vers, und die Hexameter klingen fast schon etwas kitschig. Doch der Ton ändert sich gleich wieder, den nun wird vom „Krieg geplauscht“:

 

„Über Zion“, sprach Till, „hing ich, kreisend, im dröhnenden Flugzeug.
Den gewaltigsten Traum, den ich jemals geträumt, träumt‘ ich damals,
von der Größe des Reichs, von der länderumgreifenden Weltmacht
deutscher Art und dem heilgen Beruf, der uns damit gesetzt war.
Deutschland träumte in mir, und sein Traum war geharnischt – das war er! -,
eisenschmetternd und Feuer auswerfend und donnernden Rauchdampf!“

 

Der Unterschied zu den vorigen Versen lässt sich auch beim Vergleich der Versausgänge erkennen: Stille, flüchten, Ferne, aber Flugzeug, Weltmacht, Rauchdampf! Bei Till sind die Schlusssilben viel schwerer und eigentlich nie mit „schwachem e“ besetzt.

Schließlich spielt Till noch auf der Zither und singt, er schildert

 

Rossewiehern, Trompeten und brausenden Ruf der Begeistrung,

 

doch dann bricht er plötzlich ab: Ihm sind tote Soldaten erschienen, die seine Musik nicht dulden. Einer sagt:

 

Wie du weißt: wir sind tot. Unser Vaterland hat uns erschlagen.
Grausam trieb’s mich hinein in den höllischen Sturm der Geschosse,
stolpernd starb ich, ins eigne Geschlinke die Füße verwickelt,
und ich lag zwanzig Tage, verwesend im eigenen Kote,
stank, solange die Lüfte verderbend mit giftigem Pesthauch!
Als man endlich den irdischen Rest zu bestatten die Zeit fand,
tat man es mit verbundenem Maul, unter Flüchen und Zoten.

 

Es ist also wirklich viel vom Krieg die Rede, und das bleibt auch so. In den folgenden Abenteuern erweitert sich der abgeschrittene Raum aber, es kommen mehrere Themen hinzu (der Pudel etwa bleibt nicht die einzige Verknüpfung mit Goethes „Faust“), und das ganze lässt den Leser nur schwer wieder los. Was in meinem Fall natürlich auch an Hauptmanns Hexameter liegt – ein seltsamer Vers, gleichzeitig anziehend und abstoßend. Oskar Loerke hat über ihn geschrieben:

Der Vers misst nicht, er er-misst, er zählt nicht, er er-zählt. Der Till-Vers ist einem Atemzuge vergleichbar, in sechs rhythmischen Schlägen zieht er vorüber; diese stellen sich unbefangen ein und setzen sich nicht gleichsam dem Vers auf den Nacken. Sie schalten nicht gleichmacherisch mit ihrem Inhalt. Der Atem wiederholt nicht das Unwiederholbare der Dinge, aber er freut sich an den Dingen, die nicht da wären, wenn er sich nicht wiederholte. Er hat durchblutende, ansaugende, erhaltende Kraft.

Das kann man so gelten lassen, denke ich?! Jedenfalls, wer Muße und Gelegenheit hat, sollte den „Till“ auf jeden Fall zur Hand nehmen – ein lohnender Text!

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Das Distichon

Aus zwei Versen hinaus ins Unendliche wächst es und schenkt so
Glück den Sprechenden, Glück schenkt es den Hörenden auch.

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Erzählformen: Das Reimpaar (5)

Ich hatte im ersten Eintrag zum „Reimpaar“ erwähnt, ich zweifele etwas an seiner Tauglichkeit, heute noch Mittel des verslichen Erzählens sein zu können. Einer der Gründe für diese Annahme sind die „Altlasten“ dieser Form!

 

Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam’s hervor wie Menschenhand;

 

Ein sehr bekanntes Reimpaar, wie das ganze erzählende Gedicht, aus dem es stammt: „Belsazar“ von Heinrich Heine. Aber so bekannt es auch ist, andere sind bekannter und zahlreicher:

 

Helene denkt: „Dies will ich nun
Auch ganz gewiss nicht wieder tun.“

 

– Aus Wilhelm Buschs „Die fromme Helene“. Auch das ist sicher ein erzählender Text, aber eher ein heiterer; und mit einem solchen Erzählen wird das Reimpaar, denke ich, auch erst einmal in Verbindung gebracht?! Und wer da im Reimpaar ernst erzählen möchte, der enttäuscht erst einmal Erwartungen und schreibt gegen enttäuschte Erwartungen an.

Ich stelle daher hier, als winzigkleines Gegengewicht, einen sehr unheiteren Reimpaar-Text vor, „Schnitzwerk an einem Hochaltar“ von Josef Weinheber, zu finden im zweiten Band von Weinhebers „Gesammelten Werken“, erschienen 1954 bei Müller, auf den Seiten 374 und 375:

 

Mit Schatten grau und Flammen rot,
das Leben hie und hie der Tod,
und Erd und Himmel, schön gestuft,
zum Lob befeuernd, wen es ruft,
und mit Gestalten um und an
und Bildern sinnvoll angetan
und durch und durch von Wundern groß,
so liegt die Welt in Gottes Schoß,
so steht die Zeit in Gottes Licht,
der Künstler, dem das Herz dran bricht,
der Meister, dem die Seel drin schmolz,
er schnitt es frommer Hand ins Holz,
und königliche Gloria
im Faltenwurfe siehst du da,
und Kron und Zepter schwerer Art
und Angesicht mit Rauschebart,
und Blattwerk, üppig auferbaut,
so seltsam, wie du’s nie geschaut,
und Macht, die wissend um die Welt
das Reich in hohen Händen hält.
Sei also leise, komm, tritt ein!
Hier ruht der Traum bei Brot und Wein,
das Herz, das fromm und gläubig schmolz,
will schlafen hier im braunen Holz,
all, was geschehen ist, geschah
in königlicher Gloria,
die Wölbung schweigt, die Stille lebt,
sieh, wie der Engel betend schwebt,
zu künden Gottes Kraft und Gunst:
Und dieses alles durch die Kunst.

 

Ein Text, der einfacher erscheint, als er ist, und dem in seiner Wirkungsweise nachzuspüren durchaus lohnt; und vor allem ein ernster Text, ganz und gar, wenn auch beschreibend und nicht erzählend.