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Das Ein-Vers-Gedicht (11)

In den letzten Einträgen zum Ein-Vers-Gedicht habe ich oft Verse aus den Texten, denen sie gehören, gelöst und „vereinzelt“; und wenn das auch sicher machbar ist, sind solche Verse ja nicht Ein-Vers-Gedichte im eigentlichsten Sinn … Daher heute einmal wieder einen Einzelvers, der vom Verfasser auch als solcher gedacht und gewollt ist:

 

Glücklicher Bund, wo der Gatte das Haupt, die Gattin das Herz ist.

 

– Ein Hexameter von Friedrich Haug, der sich trotz seiner schon etwas betagten Vorstellung einer Beziehung auf den Epigramm- und Aphorismenseiten des Netzes einiger Beliebtheit erfreut?! Wobei Haug in der Tat ein glänzender Epigrammatiker war und außerdem auch als Herausgeber von Epigrammen tätig („Epigrammatische Anthologie“). Wer sich zur dichterischen & zugespitzten Kurzform hingezogen fühlt, sollte auf jeden Fall einmal bei Haug vorbeischauen! Ich ergänze hier, quasi als Gegenstück zum Beziehungs-Epigramm oben, ein Nicht-Beziehungs-Epigramm Haugs; beide, der Hexameter dort und das Reimpaar hier, 16 Silben lang:

 

Bibus

Oft traf ihn Amors Pfeil; allein
Er wusch die Wunden aus mit Wein.

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Verteufelt

Gott kocht. Er greift nach einem Ei, bekommt es nicht zu fassen, es fällt und zerbricht. „Kann man nichts machen“, brummt Gott; „Ha! Du und allmächtig?!“ ruft der Teufel durchs Küchenfenster. „Schon gut, schon gut“, knurrt Gott und erschafft das Huhn.

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Erzählformen: Das Madrigal (6)

Hier noch ein Vergleichstext zum gestern eingestellten Wieland-Text – „Der Milchtopf“ von Johann Benjamin Michaelis, rund ein Jahrzehnt vor „Pervonte“ entstanden. Michaelis benutzt genau die gleichen drei Verse wie Wieland:

 

Wohl aufgeschürzt, mit starken, weiten Schritten,
Den Milchtopf auf dem Kopf, ging Marthe nach der Stadt,
Um ihre Sahne feilzubieten.
Weil doch nun beim Verkauf ein jeder Sorgen hat,
So überdachte sie, was, wenns das Glück ihr gönnte,
Sie wohl damit gewinnen könnte.
Sechs Groschen, dachte sie, gibt mir doch jedermann,
Denn in der Stadt ist alles teuer.
Die streich ich also ein und lege sie mir an
Und kaufe mir, so weit sie reichen, Eier.
Die bring ich wieder in die Stadt.
Das Glück hat oft sein Spiel! Für das, was ich gewänne,
Kauft’ ich mir lauter Hühner ein.
Dann legt mir eine jede Henne;
Ich zieh auch dreimal Brut. Wie wird sich Marthe freun,
Wenn so viel Hühner um sie flattern
Die soll gewiß kein Fuchs ergattern!
Denn, sind sie groß genug, so kauf ich mir ein Schwein.
Aus Kälbern, sagt man, werden Kühe.
Das Ferklein wird ja groß; ich spar auch keine Mühe,
Die Kleie hab ich schon dazu.
Wenn ich das Schwein verkauft, kauf ich mir eine Kuh;
Die wirft ein Kalb, ein Ding voll Mut, voll Feuer!
He! wie es springt! hopf, Anna Marthe! hopf!
Hier springt sie – Gute Nacht, Kalb, Kuh, Schwein, Hühner, Eier,
Da lag der Topf.

 

Das wirkt weniger beweglich als bei Wieland, weniger anmutsvoll – eher bodenständig, ein wenig bieder auch?! Was ja als Ton zu der angebotenen Erzählung passt.

Fünfheber hat der Text insgesamt nur vier; in allen lässt Michaelis den Vers- mit einem Satzeinschnitt zusammenfallen, wodurch sich die Verse klar, aber auch ein wenig spannungsarm gliedern; gleich der erste Vers kann als Beispiel dienen:

Wohl auf– / geschürzt, || mit star– / ken, wei– / ten Schrit– / ten,

Auch die Alexandriner sind steifer als bei Wieland. Einer, der vorletzte Vers, hebt sich besonders heraus:

Hier springt / sie – Gu– / te Nacht, || Kalb, Kuh, / Schwein, Hüh– / ner, Ei– / er,

Die Art, wie hier nicht nur hebungsfähige, sondern fast schon hebungspflichtige einsilbige Wörter – „Kalb“, „Schwein“ – in die Senkung gestellt werden, erinnert an die Alexandriner des Barock, in denen derlei häufig zu hören war?!

Insgesamt lohnt sich sowohl ein genauer, zergliedernder Blick auf Michaelis‘ Verse als auch ein Vergleich mit den Versen Wielands. Welche Wirkung hat was? Das lässt sich, denke sich, so ganz gut erschließen.

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Erzählformen: Das Madrigal (5)

Christoph Martin Wieland kam schon in (1) kurz zu Wort, mit einigen Versen aus seinem „Sommermärchen“. Die allerdings sind oft sehr kurz, Zwei- oder gar Einheber; in den meisten seiner Verserzählungen nutzt Wieland aber längere Verse! Seine „Hauptform“ möchte ich hier vorstellen. Dabei verwendet Wieland drei verschiedene iambische Verse –

Vierheber:

x X / x X / x X / x X / (x)

Fünfheber:

x X / x X || x X / x X / x X / (x)

Sechsheber:

x X / x X / x X || x X / x X / x X / (x)

Besonders wichtig sind dabei die festen Zäsuren der Fünf- und der Sechsheber. Im Falle der Sechsheber sitzt die Zäsur genau in der Mitte des Verses, was die Verse als „Alexandriner“ ausweist; im Falle der Fünfheber sitzt die Zäsur hinter der vierten Silbe. Diese Zäsur unterscheidet den Vers beachtlich vom Blankvers, der ja „frei zäsuriert“ ist! Als Beispiel hier der Anfang von „Pervonte, oder: Die Wünsche“:

 

Es war einmal, ich denke zu Salern,
Ein König, namens – ja! die Namen!
Die Namen, die vergess ich gar zu gern!
Am Ende sind’s ja auch nur Rahmen
Und Schalen, – das Gemäld, der Kern
Macht alles aus. Nennt ihn Astolfo, Holofern,
Hengst oder Horst – genug dass in Salern
Ihm niemand gern den Preis der Schönheit streitig machte.
Was mancher in geheim vor seinem Spielgel dachte,
Ging zollfrei durch. Indessen, wie es geht,
Kam eine Zeit, und kam mit schnellen Flügeln,
Worin bei seiner Majestät
Von allen einst so treudevoten Spiegeln
Nicht einer mehr den Dienst so gut wie sonst versah.

 

Wie sieht es aus mit den Zäsuren der Fünfheber? Gleich im ersten Vers gibt es im Vortrag keine Schwierigkeiten, Vers- und Satzeinschnitt entsprechen sich:

Es war / einmal, || ich den– / ke zu / Salern,

Gleich der nächste Fünfheber birgt allerdings einige Schwierigkeiten!

Die Na– / men, die || vergess / ich gar / zu gern!

– Die Satzpause liegt hinter der dritten Silbe, die Verspause aber nach der vierten Silbe.  Was nun? Das hängt vom jeweiligen Vortragenden ab, die Verspause nach der vierten Silbe sollte aber auf jeden Fall in irgendeiner Form verwirklicht werden! Ich bitte, es durch Selbersprechen auszuprobieren: wird nur die Satzpause gelesen, wirkt die zweite Vershälfte schlaff und trüb, wird auch die VErspause verwirklicht (auch durch eine Längung / Hervorhebung des „die“), bewegt sich die entstehende zweite Vershälfte viel klarer und bestimmter!

Jedenfalls, wie auch immer die Lösung sich anhören mag – die Zäsur ist da, und als Vortragender muss man sich zu ihr verhalten, irgendwie: sie herausstellen, sie abschwächen, sie umspielen, sie vielleicht auch, als Ausnahme!, missachten – alles ist möglich, solange der Vers von diesem Gelenk aus gedacht wird.

Ähnlich, wenn im vorgestellten Abschnitt auch nicht so deutlich bemerkbar, verhält es sich mit den Alexandrinern.

Macht al– / les aus. / Nennt ihn || Astol– / fo, Ho– / lofern,

Auch hier treten Satzeinschnitt und Verseinschnitt auseinander; hörbar gemacht werden müssen auch hier beide.

Wenn man Wielands Verse von diesen Zäsuren her denkt und spricht, werden sie erst wirklich lebendig und offenbaren eine unglaubliche Schönheit in der Bewegung, vor ihrer Musikalität gar nicht zu reden! Also unbedingt selbst versuchen, es lohnt sich wie immer, und hier sogar noch etwas mehr.

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Das Pudel-Triolett

Als Wasser hin zum Abfluss strudeln,
Weil sich der Stöpsel endlich hob,
Hör ich aus meinen beiden Pudeln,
Die in den Wassern, die da strudeln,

Gereinigt stehen, kläffend sprudeln:
Ein schwerlich ernstgemeintes Lob
Der Wasser, die zum Abfluss strudeln,
Weil sich der Stöpsel endlich hob.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (28)

Dieser Tage wird viel geschrieben über den Beginn des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren. Ich lese im Augenblick auch in dieser Richtung, nämlich „Schreib das auf, Kisch!“, das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch, erschienen 2014 im Aufbau Verlag. Auf Seite 172, im Eintrag zum 27. Oktober 1914, findet sich dieser Abschnitt, der beschreibt, was in eroberten serbischen Stellungen gefunden wird:

Massenhaft Munitionsverschläge, Handbomben, Maschinengewehre, Tornister, Brotsäcke, Decken, Laibe von Kukuruzbrot, leere Feldfalschen und Kürbisse haben sie zurückgelassen, Zeltblätter, zerbrochene Gewehre, Opanken. Wir durchsuchen die Deckungen. Alles zeugt von Not und Elend. Bei uns würde man doch hier und da Reste verschwundener Pracht, geleerte Rumflaschen, eine Wursthaut, Speckschwarte, einen fetten Deckel der Menageschale oder geleerte Konservenbüchsen finden. Hier aber nur erloschene Herdfeuer Herdfeuer mit faulen Kürnisschalen und Reste von Maiskörnern.

– Und da klang mir ein trochäischer Vierheber kräftigst heraus:

Alles zeugt von Not und Elend.

Ein Satz, der aufgrund seiner Bewegung und seines Klangs ohne weiteres in einem aus Vierhebern bestehenden Gedicht stehen könnte – mit Gewinn?! Und sogar genug Kraft hat, zumindestens für mich, die anderen Sätze zu sich zu zwingen –

 

Serben sind verwundet worden,
Viele Serben, und sie betteln
Nun um Brot, um Speck, um Tabak;
Und bekommens, denn da drüben
Scheint das Elend groß zu sein

Wir durchsuchen manche Deckung –
Wären’s unsre, fänden Reste
Lange schon verschwundner Pracht sich,
Hier und da: geleerte Flaschen,
eine Wursthaut und der fette
Deckel der Menageschale,
Und, geleert, Konservenbüchsen;
Nichts davon! Erloschne Feuer,
Kürbisschalen, alt und faulig,
Ein paar Körner Mais, nichts weiter:
Alles zeugt von Not und Elend.

 

Die kursiven anderthalb Verse des ersten Abschnittes stehen so bei Kisch, eigenartigerweise auch sie von „Elend“ gefüllt?! Nun passt nicht alles in diese Vierheber, aber schon erstaunlich, wie gut der Inhalt sich diesem einen Vers entsprechend formt.

Wobei das alles nur eine Spielerei ist, die Kisch mir nachsehen wird, wie ich hoffe, milde lächelnd über meine Begeisterung für Bewegungslinien. Sein Kriegstagebuch lese ich jedenfalls gern und aufmerksam, mit der bei solchen Texten wahrscheinlich unvermeidlichen Mischung aus Neugier und Beklemmung.

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Ohne Titel

Sommernächtliche Stille – der Grillen beachtliche Heerschar
Nennt einen Schwindler mich, jetzt; jetzt, da ich nahe, nicht mehr.

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Erzählverse: Der Blankvers (39)

„Erlebnis“ ist ein in Blankversen geschriebenes Gedicht Hugo von Hofmannsthals. Wie so viele seiner Gedichte kommt es schwer daher und langsam, voll mit Dingen und Eigenschaften von Dingen, und mit unglaublich vielen Wiederholungen …

 

Mit silbergrauem Dufte war das Tal
Der Dämmerung erfüllt, wie wenn der Mond
Durch Wolken sickert. Doch es war nicht Nacht.
Mit silbergrauem Duft des dunklen Tales
Verschwammen meine dämmernden Gedanken,
Und still versank ich in dem webenden,
Durchsichtgen Meere und verließ das Leben.
Wie wunderbare Blumen waren da,
Mit Kelchen dunkelglühend! Pflanzendickicht,
Durch das ein gelbrot Licht wie von Topasen
In warmen Strömen drang und glomm. Das Ganze
War angefüllt mit einem tiefen Schwellen
Schwermütiger Musik. Und dieses wusst ich,
Obgleich ichs nicht begreife, doch ich wusst es:
Das ist der Tod. Der ist Musik geworden,
Gewaltig sehnend, süß und dunkelglühend,
Verwandt der tiefsten Schwermut.
                                                                      Aber seltsam!
Ein namenloses Heimweh weinte lautlos
In meiner Seele nach dem Leben, weinte,
Wie einer weint, wenn er auf großem Seeschiff
Mit gelben Riesensegeln gegen Abend
Auf dunkelblauem Wasser an der Stadt,
Der Vaterstadt, vorüberfährt. Da sieht er
Die Gassen, hört die Brunnen rauschen, riecht
Den Duft der Fliederbüsche, sieht sich selber,
Ein Kind, am Ufer stehn, mit Kindesaugen,
Die ängstlich sind und weinen wollen, sieht
Durchs offne Fenster Licht in seinem Zimmer –
Das große Seeschiff aber trägt ihn weiter,
Auf dunkelblauem Wasser lautlos gleitend
Mit gelben, fremdgeformten Riesensegeln.

 

Das muss man mögen?!  Ich denke aber unabhängig vom Gefallen kann man an der Art, wie Hofmannsthal den Blankvers trotz aller Fülle beweglich und dem Ohr interessant hält, einiges abschauen für die eigenen Verse! Denn von den Freiheiten, die dem Blankvers offenstehen, erlaubt sich Hofmannsthal hier keine einzige; es ist ein stetiges, unabänderliches Auf und Ab (auch wenn ein Blankvers geteilt wird).