Die Bewegungsschule (29)
Ein kurzer Text von Richard Dehmel, „Wen’s trifft“:
Schicksal hämmert mit blinden Schlägen:
Wachs bleibt Wachs, Gold lässt sich prägen,
Eisen wird Stahl, Glas zerspringt –
springt an hundert eiserne Türen,
keine Klinke will sich rühren,
die den Scherben Rettung bringt.
Von der Form her Knittelverse, denke ich?! Ich komme jedenfalls auf diese Verse zu sprechen, weil ich den zweiten und den dritten recht bemerkenswert finde – da stoßen in der Versmitte „schwere“ Silben zusammen, was ja nicht so üblich ist.
Wachs bleibt Wachs, Gold lässt sich prägen,
Eisen wird Stahl, Glas zerspringt –
TAM ta TAM || TAM ta ta TAM ta
TAM ta ta TAM || TAM ta TAM
Da gibt es sicherlich halbschwere Silben wie „lässt“ und vor allem „bleibt“; aber die habe ich als „ta“ angegeben, einmal, weil ich glaube, Dehmel war die Silbenschwere hier nicht sooo wichtig; und vor allem, weil dadurch die grundlegenden Bewegungseinheiten in diesen beiden Versen gut hörbar werden:
TAM ta TAM
TAM ta ta TAM
TAM ta ta TAM ta
Die ersten beiden hatten wir schon hier in der Bewegungsschule; aber die dritte, fünfsilbige, noch nicht so häufig, auch, weil sie in den hier hauptsächlich vorgestellten Vers nicht so recht passt:
ta ta TAM ta ta TAM || ta ta TAM ta ta TAM
– Da müsste schon eine versetzte Zäsur oder ähnliches auftreten,
Wie’s, möglicherweise, dies Verslein euch zeigt?!
TAM / TAM ta ta TAM ta || ta TAM ta / ta TAM
In anderen wichtigen und vielgenutzten Versarten taucht diese Bewegung aber nicht nur häufig auf, sie ist dort sogar entscheidend für das Erscheinungsbild! Ich werde demnächst ein, zwei davon vorstellen, hier aber erst der Anfang eines Textes, der ausschließlich Verse der Form
TAM ta ta TAM ta
benutzt – Johann Georg Fischer, „Verborgen“:
Heim auf des Abends
Schweigenden Pfaden
Wandelt ein müdes,
Glühendes Mädchen,
Schlaff von dem Haupt ihr
Hängen die Locken.
Da ist schon eine ganz eigene Bewegung spürbar?! Man kann der Vers auch strophisch gebrauchen, zum Beispiel als Vierzeiler, in dem der letzte Vers um eine Silbe gekürzt wird, des festen Strophen-Schlusses wegen – Peter Cornelius, der Beginn von „Feuer vom Himmel“:
Feuer vom Himmel
Stahl einst ein Halbgott,
Menschengebilden
Seele zu leihn.
Man kann diesen kurzen Vers noch auf viele andere Arten verwenden, aber ich denke, ich schließe hier erst einmal? Wer mag, kann ja selbst versuchen, wie dieser Vers in der eigenen Gedicht-Sprache zum Tragen kommt;
Meint, voll Vergnügen
Verse zu schreiben
Dieser Bewegung:
TAM ta ta TAM ta.
Ruhig werden
Nur Augenblicke weht der Wind und hebt
Ein Blatt am Ast, vergeht dann in den Weiten.
Du spürst den leisen Tod vorüber schreiten
Und etwas in der Welt, das jetzt noch lebt,
Ist nun schon tot. Ein Wassertropfen bebt,
Beginnt zum Rand des Blattes fortzugleiten
Und fällt. Ein Leben aus der Welt geleiten
Weißt du den Tod, der still vorüber strebt.
Unendlich viele Leben birgt die Welt
Im Leben, und der eine Tod enthält
Unendlich viele Tode. Im Moment,
Da auf die Haare dir das Blatt hinsinkt,
Bemerkst du einen Tod, der freundlich winkt,
Grad so, als ob er dich schon ewig kennt.
Bücher zum Vers (37)
Lutz Walther (Hrsg.): Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon.
Das hat nun im eigentlichen wenig mit Versen zu tun; trotzdem ist es ein gelungener und hilfreicher Band, in dem verschiedene Verfasser etwa fünf Seiten umfassende Texte zu den einzelnen Mythen schreiben. Diese Mythen werden erst kurz vorgestellt, dann wird ihr Weg von der Antike an bis in die europäische Jetzt-Zeit vorgestellt, mit Schwerpunkt auf der deutschen Literatur.
Dichter aller Zeiten haben auf diese antiken Geschichten zurückgegriffen, und ich denke, jeder, der heute Texte schreibt, tut gut daran, wenigstens eine Grundvorstellung davon zu haben, was dabei geschaffen worden ist?!
Verse begegnen dem Nachforschenden dabei unausweichlich. Ein Beispiel, auf das in dem 2003 bei Reclam erschienenen, 250 Seiten starken Band eingegangen wird, ist „Die sterbende Muse“ von Conrad Ferdinand Meyer – ich stelle einige Verse aus der Mitte des Gedichts vor:
Medusen träumt, dass einen Kranz sie winde,
Der Menschen schöner Liebling, der sie war,
Bevor die Stirn der Göttin Angebinde
Verschattet ihr mit wirrem Schlangenhaar.
Mit den Gespielen glaubt sie noch zu wandern
Und spendet ihnen lockenschüttelnd Grüße,
In blüh’ndem Reigen regt sie mit den Andern
Die freudehellen, die beschwingten Füße,
Ihr Antlitz hat vergessen, daß es tödte,
Es glaubt, es glaubt an die barmherz’ge Lüge
Des Traums. Es lauscht dem Hauch der Hirtenflöte,
Der weich melodisch zieht durch seine Züge.
Es lächelt still, von schwerem Bann befreit,
In unverlorner erster Lieblichkeit.
Dazu schreibt im entsprechenden Eintrag auf Seite 141 Kai Merten:
Zentrales Rezeptionsbeispiel dieser Zeit für die deutschsprachige Literatur ist C. F. Meyers Die sterbende Meduse. Das um 1878 entstandene Gedicht ist insofern bemerkenswert, als es den Perspektivwechsel, den Shelly andeutet, erweitert und Medusas innere Welt noch stärker in den Blick nimmt. Medusa erinnert sich in einem Traum kurz vor ihrer Enthauptung, dass sie vor ihrer Verfluchung durch Athene der Liebling der Menschen war. Der Tod bedeutet eine Erlösung für sie, da sie dadurch in diese Zeit zurückkehren kann. Meyer verbindet das Pathos weiblicher Opferung des späten 19. Jahrhunderts mit einer umfangreichen und originellen Erkundung der Perspektive einer schuldlos Verfluchten. Meyers Sensibilität für die „Stimme“ der Medusa macht ihn dabei zu einem Vorläufer feministischer Aneignungen des Mythos im 20. Jahrhundert.
So angenehm wissensvermittelnd liest sich eigentlich der ganze Band, und wer ihn in die Hand nimmt, macht sicherlich nichts falsch!
Ohne Titel
Unter hochgewachsnen Rosen
Steht ein Paar von Gartenzwergen,
Und das Rot der Zipfelmützen
Beißt sich mit dem Rot der Blüten …
Go: Die alten Meister (15)
Die alten Meister pflegen
In kritischen Momenten
Recht lang zu überlegen.
Erzählverse: Der Hexameter (53)
Der Rheinfall im Hexameter
In Paul Heyses hier vorgestellter „Thekla“ donnerte ein Gewitter; in Anton Wildgans‘ „Kirbisch“ war ein hochgehendes Munitionslager der Grund des Donners. Eine dritte Möglichkeit, es im Gedicht donnern zu lassen, ist ein Wasserfall, oder genauer: der Rheinfall bei Schaffhausen. Ein vergleichender Blick lohnt sich!
Friedrich Leopold Stolberg, aus: Hymne an die Erde
O wie stürzt er donnernd herab beim hallenden Laufen!
Unter ihm beben die Felsen; die grünlichen Wogen verhüllen
Sich in glänzenden Schaum; der staunende Waller vernimmt nicht
Seiner eignen Bewundrung Geschrei, und heilige Schauer
Fassen ihn, wie sie die Felsen und zitternden Tannen ergreifen.
Sichere Hexameter, schon, aber doch in der Darstellung ein wenig schlicht, meiner Meinung nach. Dem nicht unähnlich der zweite Fall:
Johann Caspar Lavater, aus: Der Rheinfall bei Schaffhausen
. … über die Felsen
Braust, im Wellengewitter, ein immer donnernder Donner!
Schauernd staun‘ ich euch an, ihr rufenden Wogengewölke,
Ihr verschlingt mir den Odem; ihr raubt den Lippen die Stimme!
Unter dir zittert die Erde; der Fels bebt; prächtiger Aufruhr!
Wer, wer zäumt ihn, den Strom, wer stellt die Brust ihm entgegen?
Ein „donnernder Donner“ also. Hm. Felsen gibt es wie vorher bei Stolberg und im folgenden bei Mörike – es dürfte aber auch schwer sein, darauf zu verzichten. Und zittert bei Stolberg die Tanne, ist es bei Lavater die Erde und bei Mörike das Herz: auch das Zittern also unverzichtbar, scheint’s, ebenso wie die geraubte Stimme / das nicht vernommene Geschrei / der nicht gehörte Wutschrei?!
Beim dritten Fall, Mörikes Text, muss ich ein wenig schummeln – es sind nämlich Distichen, und da ist ja nur jeder zweite Vers ein Hexameter. Ich finde aber, das Gedicht ist so gelungen, dass es hier nicht fehlen darf!
Eduard Mörike, Am Rheinfall
Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen!
Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast.
Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen,
Ohr und Auge, wohin retten sie sich im Tumult?
Wahrlich, den eigenen Wutschrei hörete nicht der Gigant hier,
Läg er, vom Himmel gestürzt, unten am Felsen gekrümmt!
Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern,
Stürmen herunter und streun silberne Mähnen umher;
Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben,
Ewig dieselbigen – wer wartet das Ende wohl aus?
Angst umzieht dir den Busen mit eins und, wie du es denkest,
Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelsgewölb!
Leicht mythologisch angehaucht, schafft es Mörike, die „Wogen“ Stolbergs und Lavaters zu vermeiden, und stattdessen „Rossen der Götter“ einen wunderbar schwungvollen Auftritt zu geben! Sogar so schwungvoll, dass bei manchen Versen die vom Versbau her verlangte Zäsurierung arg ins Wanken gerät; aber das stört hier gar nicht … ( Wer mag, kann ja besonders die Hexameter mal daraufhin abklopfen – „Wahrlich …“ ist einer derer, die am meisten zu denken geben.)
Erzählverse: Der Blankvers (35)
„Einsiedler, Schmetterling und Tempelherr“ ist der leicht merkwürdige Name einer kleinen Vers-Erzählung von Richard Dehmel, eben kurz genug, um sie hier vollständig einstellen zu können:
Du weißt, Poet – begann der Tempelherr
Und lächelte durch seinen weißen Bart –
ich las sie auf vom Weg, die jetzt mein Weib ist.
Und dass sie, wider Sitte und Gesetz
des Ordens, mitging nach Jerusalem
und nicht den Weg zurückging, den sie kam,
– ich selber hieß sie mitgehn: das ging so zu.
Wir trugen schon das Abschiedswort im Sinn,
es war an einem heißen Frühlingstag,
schier blendend schimmerte das junge Gras,
und die Gefallne ließ es still geschehen,
dass ich mit ihr den Pfad vom Schloss zum Ufer,
wo andern Tags das Schiff anlegen sollte,
gleichsam zur Herzensübung niederstieg.
Der Pfad bog sehr abschüssig hin und her;
Ich brauchte sie, die stets wie ich gewillt war
– ihr Herzschlag geht dem meinen völlig gleich –
kaum mit der Hand zu stützen, so gefasst
vermied sie jeden lockren Stein im Gras,
als sie auf einmal fest um meinen Arm griff.
Dicht vor uns sonnte sich, beinah berührt
von meinem Schuh, auf einem Blütenkelch
des gelben Löwenzahns, ein saugender
ganz trunkner Schmetterling, ein Trauermantel.
Nun flog er taumelnd weg, zum nächsten Kelch,
dicht vor uns her, wir sahn ihn weitersaugen,
kaum atmend beide, wenn die bleichgesäumten
tiefschwarzen Flügel vor Entzücken zuckten,
und immer weiter so, von Kelch zu Kelch,
dicht immer vor uns her den Pfad hinab,
fast bis zum Fluss; da kriegte ihn der Wind
und blies ihn fort, wir blieben stehn im Wind.
Und plötzlich steht, durch diesen Schmetterling
mir vorgerückt, vor meinem innern Blick
ein jahrelang vergessner Tag: ein Herbsttag.
Ich bin bei einem Freund, Einsiedler ist er;
er wars – man wusste nicht warum – geworden,
an Jahren konnt er gut mein Vater sein.
Wir sind verloren in Gedanken; draußen
zerzaust der Bergwind seinen Blumengarten.
Er macht sein Bett, ein seltsam ungeschlachtes,
nach Bauernart bemaltes Ehebett;
da klopft es an die Tür. Er geht und öffnet;
und vor der Klause steht, bei seinen Blumen,
zerzaust wie sie, in schlechter schwarzer Tracht,
ein altes Weiblein, elend, scheu verkommen,
das blickt ihn bettelnd an. Ich seh ihn noch:
auf seine große Stirne treten Flecken
wie von Faustschlägen, seine Finger beben,
die guten blauen Augen glänzen grausig,
er sagt: geh weg! ich kenne dich nicht mehr.
Er will die Tür zudrücken, sie versperrt sie:
Ich hab nur dich geliebet! bettelt sie.
Er tritt zurück, die rote Stirn wird blass,
die Augen kalt, er sagt: geh weg, du lügst.
Sie schleppt sich nach: Verzeih mir! bettelt sie.
Er sagt noch kälter: ich verzeih dir, geh.
Da fasst sie seine Hand, und wieder fliegt
der grauenhafte Glanz durch seine Augen –
Du hast mich nie verstanden, Meiner! fleht sie:
Ich war – Doch eh sie enden kann, erbebt
der ganze breite Mann: Verstanden? schreit er
und hebt die Faust, ich will zuspringen, da:
laut schluchzend, Blut ausschluchzend vor ihn hin
knickt sie zusammen, schluchzt sie auf zu ihm:
ich war ein armer Schmetterling im Wind!
Da hat er sich mit mir gebückt zu ihr
und nahm das alte Weiblein an sein Herz
und trug sie weinend in ihr altes Bett;
drin ist sie lächelnd andern Tags verstorben.
Nun weißt du – endete der Tempelherr
und lächelte durch seinen weißen Bart –
warum, Poet, trotz Sitte und Gesetz
des Ordens, sie, die jetzt mein Weib ist, nicht
den Weg zurückging, den sie zu mir kam.
Ich sagte ihr am Morgen meiner Abfahrt,
was mir in jenem stillen Augenblick,
als wir am Fluss im Wind beisammenstanden
– sie hatte mich mit keinem Hauch gestört,
ihr Atem geht dem meinen völlig gleich –
vor meinem innern Blick gestanden hatte,
und hieß sie mitgehn nach Jerusalem.
Als ich das zum ersten Mal las, still für mich im Zug: da dachte ich „Na ja …“ Und so toll ist es inhaltlich ja wirklich nicht. Auch nicht schlecht, aber eben etwas, das um 1900 geschrieben wurde und heute einfach nicht mehr recht genießbar ist?!
Später habe ich es dann zweimal meinen Katzen vorgelesen, laut selbstredend; und da dachte ich eher „Doch, ja!“ Die Geschichte war immer noch die gleiche, doch die Blankverse und die Art, wie Dehmel sie benutzt, geben dem ganzen doch eine eigene Färbung; und das Zuhören an sich macht eine gewisse Freude.