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Die Bewegungsschule (24)

Im letzten Beitrag war die Bewegungseinheit „ta TAM TAM ta“ neu dazugekommen, eine, wie gesagt, sehr eigenartige, fremde, zerrissene Bewegung. Häufig ist sie nicht in der deutschen Dichtung, aber man trifft sie doch immer mal wieder an; oft auch an Stellen, wo man sie nicht vermutet.

Die folgenden sechs Verse stammen aus Wilhelm Müllers „Der Ausflug eines jungen Elfen“:

 

Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen
Und strengte meiner müden Flügel Kräfte
Mit allen Sehnen an, dass nicht die Stürme
Mich griffen und fortrissen in die Weite
Des öden Raumes, der um unsre Blume
Auf allen Seiten unabsehbar dämmert.

 

Das sind ziemlich unauffällige Blankverse – mit einer Ausnahme: „Mich griffen und fortrissen in die Weite“! Wollte man diesen Vers streng nach Metrum, also auf Grundlage von“ta TAM“ vortragen, klänge das so:

Mich grif– / fen und / fortris– / sen in / die Wei– /  te

– Und das wäre ja Quatsch.  Also eher so:

Mich griffen / und fortrissen / in die Weite

ta TAM ta / ta TAM TAM ta / TAM ta TAM ta

Da ist es, das „ta TAM TAM ta“! Und das zerrissene Wesen dieser Bewegung passt hier auch sehr gut zum dagestellten Inhalt, den „Fortreißen“?! (Das „in“ kann man sicherlich auch als „ta“ lesen, dann wird der Vers vierhebig.)

Man  kann das „ta TAM TAM ta“ aber auch zum Grundbaustein eines Verses machen. Das zeige ich an einem eigenen Beispiel – der folgende paargereimte Vierzeiler benutzt diesen Vers:

ta ta TAM TAM ta / ta TAM TAM ta

 

wenn die gralshüter der reimworte
die magie wirken, entsteht: torte,
die ein lachfältchen aus worttönen
ins gesicht runzelt: dem urschönen.

 

Das ist jetzt ganz bestimmt keine große Dichtung; aber es zeigt doch, dass dieses „ta TAM TAM ta“ einen ganz eigenen Klang hat von hohem Wiedererkennungswert; mit dem einiges anzufangen ist!

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Erzählverse: Der Hexameter (43)

Anton Wildgans‘ „Kirbisch“

Geschrieben zwischen 1925 und 1927 ist „Kirbisch“, wie Gerhart Hauptmanns „Till“ auch, ein Epos, das um den Ersten Weltkrieg kreist, gut erkennbar daran, dass die im Epos ertönenden Donner nicht wie bei dem hier im Verserzähler ja auch schon vertretenen Paul Heyse von einem Gewitter herrühren, sondern von einem in die Luft gehenden Munitionsdepot:

 

Da aber, was war das?! Auf einmal wankte die Erde:
Ungeheurer Donner! Und wieder Erschüttern! Und wieder
Ganze Kaskaden von Donnern! Von wannen? Von unten? Von oben?
Und der Himmel war rot und die Dächer schwarze, geduckte
Rücken wider die Röte! Da bebte von neuem der Grund und –
Irgendwoher aus der Tiefe, als berste die Erde im Kerne! –
Wieder betäubender Krach! Da fiel in der Stille, die folgte,
Alles Volk auf die Knie in fahlem Entsetzen, und plötzlich
Wimmerte wo in der Ferne, vom Ende des Dorfs, eine Stimme,
Wuchs und ward zum Gezeter des Wahnsinns. …

 

Etwas unordentliche Hexameter, das. Aber ein Ereignis wie das geschilderte schüttelt wahrscheinlich auch einen Vers ordentlich durch! Und außerdem sind die Hexameter des 20. Jahrhunderts ja allgemein ein wenig freier, rauer, ruppiger – hier etwa erkennbar an daktylischen Einheiten wie „Da aber“, die wäre einem klassischen Verfasser nie aus der Feder geflossen! Und Reime wie „Grund und“ auch nicht…

Es gibt selbstredend auch Stellen, in denen die klassische Hexameter-Idylle anklingt:

 

Cordula hatte die Blumen der greisen Köchin des Pfarrers
Selbst in die Küche gebracht, die dürstenden Stengel in Wasser
Sorglich noch eingefrischt und dann von der freundlichen Alten
Eilig Urlaub genommen. Die Stunde, die sie noch frei war,
Wollte sie lieber allein sein. So ließ sie den Armen im Geiste
Gerne im Pfarrhof zurück, von dem Mütterchen liebreich bewirtet,
Wünschte gesegnete Mahlzeit und trat hinaus in den Abend.

 

Mit dem „Armen im Geiste“ ist der Dorftrottel gemeint, der dem Pfarrer zur Hand geht. Dieser Ton wird aber unterbrochen durch Abschnitte, die klarmachen, dass noch einiges folgen wird, der Ton umschlagen wird. Während der Gemeinderatssitzung im Gasthaus etwa sitzt ein Mann – „seit vier Tagen“ – zusammengesunken am Tisch, vom Wirt geduldet,

 

Denn obwohl doch ein Gasthaus gewiß nicht der Ort ist, um, ohne
Irgendwie Zeche zu machen, vornüber am Tische zu lümmeln,
Ließ er den Glaser gewähren aus menschlichen Gründen und andern.
War doch des Wirtes Herr Sohn, Andreas, ein Bär an Gesundheit,
Immer noch kriegsdienstbefreit und weitab vom Schusse geblieben,
Während Crinis, der Glaser, zu Ende der vorigen Woche
Amtlich verständigt wurde (per Feldpost, portofrei, dienstlich),
Dass die beiden Gefreiten Crinis Matthias und Josef
Bei dem nämlichen Angriff am Vierzehnten laufenden Monats
Auf dem Felde der Ehre den Tod für das Vaterland starben.
Folgte dann noch die Stampiglie „Zwölftes Brigadekommando“
Und als Beilage a) und b), gewickelt in einen
Viertelsbogen Konzept, zwei Silbermedaillen; und dies war
Alles, was Crinis, dem Glaser, von seinen Söhnen geblieben.

 

„Stampiglie“, „Stempel(aufdruck)“, ist österreichisch!? Jedenfalls klingt hier doch schon ein gewisser satirischer Ton durch … Insgesamt ein durchaus zu empfehlendes Epos!

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Die Bewegungsschule (23)

Die erste Strophe von Johann Heinrich Voß‘ „Die Braut am Gestade“ liest sich so:

 

Schwarz wie Nacht, brausest du auf, Meer!
Wie wogt, wie krümmt sich und schäumt Brandung!
Wer? o Gott! fliegt in dem Sturm? Wer?
Und fleht, die Hände gestreckt, Landung?
Ein weites Grab
Wogt furchtbar zum Tod winkend!
Auf rollts und ab,
Nun strudelt das Schiff sinkend!

 

Wer mag, kann sich ja einmal die Verteilung der schweren und leichten Silben überlegen?! Voß besetzt hier die schweren, betonten Stellen recht durchgängig mit Sinnsilben (Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb), die leichten, unbetonten Stellen mit Bausilben; es sollte also recht eindeutig sein. Ich schreibe noch einige Sätze allgemeiner Art zum Text und gebe das Schema dann weiter unten an!

Der Text wirkt ungewohnt. Das liegt sicher vor allem daran, dass er gereimt ist, aber das „Auf und Ab“, den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Silben, an das man so sehr gewöhnt ist bei gereimten Texten, nirgends verwirklicht. Stattdessen tummeln sich sehr viele schwere Silben in den Versen, oft auch in unmittelbarer Nachbarschaft!

Trotzdem beachtet Voss eine Eigenheit des Reimverses fast durchgängig: Verse, die durch Reime verbunden sind, also den gleichen Klang am Versende aufweisen, haben auch dieselbe Silbenverteilung, die den Leser / Hörer zu diesem Gleichklang hinführt! Obwohl das nicht für alle Reimverse gilt, für die meisten ist es so; und das Ohr ist daran gewöhnt. Geleistet wird so die Schaffung einer Erwartungshaltung, ein Warten und Abzählen: „Der Reim kommt … jetzt!“ Und diese Möglichkeit bietet dann auch der Voßsche Text, obwohl sicherlich nur eingeschränkt; zu fremd ist die gewählte Bewegungslinie …

Das zweistrophige Gedicht ist von Karl Friedrich Zelter auch vertont worden. Wer irgendwo eine Aufnahme findet, sollte vergleichen, wie Zelter die „leichten“ und „schweren“ Stellen in Musik gebracht hat, zum Beispiel, welche Zeitwerte er den schweren Silben zugewiesen hat!

Wie sieht die Verteilung der Silben nun aber aus? So:

TAM ta TAM TAM ta ta TAM TAM
ta TAM ta TAM ta ta TAM TAM ta
TAM ta TAM TAM ta ta TAM TAM
ta TAM ta TAM ta ta TAM TAM ta
ta TAM ta TAM
TAM TAM ta ta TAM TAM ta
TAM TAM ta TAM
TAM TAM ta ta TAM TAM ta

Die angesprochene Versgeichheit ist überall gegeben, die einzige Ausnahme ist der siebte Vers, dessen erste Silbe nicht „ta“ ist, wie im fünften Vers, sondern „TAM„. Gegen die Zuordnung „Schwere Silbe = Sinnwort“ verstößt nur das doppelte „Wer“, was aber als eine „Ein-Wort-Frage“ erscheint und dadurch ausreichend Gewicht hat! Streiten könnte man über das „Nun“ im Schluss-Vers, aber ich denke, es klingt nicht falsch, wenn man es „schwer“ liest?!

Ansonsten wirkt der Text sehr unruhig, viele nachdrückliche, aber schräg klingende Bewegungen sind dabei. Das liegt sicher auch an dieser Einheit: „ta TAM TAM ta“, die einige Male vorkommt: „und schäumt Brandung“, „zum Tod winkend“, „das Schiff sinkend“. Sehr ungewohnt, weil in einem gewöhnlichen Reimtext unmöglich; aber auch sonst selten! Trotzdem von nachdrücklicher Wirkung, und wenn man diese Einheit gelegentlich bewusst einsetzt, lässt sich damit viel erreichen. Ich werde daher noch auf sie zurückkommen!

(Hat jemand die Verteilung zu finden versucht? Ist es geglückt? Ja?! Sehr gut!)

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Erzählformen: Das Distichon (8)

Wo Goethe weilt (7), ist Friedrich Schiller nicht fern: Das folgende in Distichen geschriebene Gedicht aus seiner Feder ist keines seiner unbekannteren!

 

Die Sänger der Vorwelt

Sagt, wo sind die Vortrefflichen hin, wo find’ ich die Sänger,
Die mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt,
Die vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen,
Und getragen den Geist hoch auf den Flügeln des Lieds?
Ach, noch leben die Sänger; nur fehlen die Taten, die Lyra
Freudig zu wecken, es fehlt, ach! ein empfangendes Ohr.
Glückliche Dichter der glücklichen Welt! Von Munde zu Munde
Flog, von Geschlecht zu Geschlecht euer empfundenes Wort.
Wie man die Götter empfängt, so begrüßte Jeder mit Andacht,
Was der Genius ihm, redend und bildend, erschuf.
An der Glut des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sänger die Glut.
Nährt’ und reinigte sie! Der Glückliche, dem in des Volkes
Stimme noch hell zurück tönte die Seele des Lieds,
Dem noch von außen erschien, im Leben, die himmlische Gottheit,
Die der Neuere kaum, kaum noch im Herzen vernimmt.

 

Der rhetorischen Aufwand, den Schiller hier treibt, oft gestützt auf die durch die Zäsur gegebene Zweiteiligkeit der Hexa- und Pentameter, ist beachtlich:

An der Glut des Gesangs entflammten des Hörers Gefühle,
An des Hörers Gefühl nährte der Sänger die Glut.

Sehr einprägsam! Aus Verssicht spannender ist aber Schillers Behandlung der Verseingänge – da stehen nämlich ziemlich oft recht bis sehr schwache zweisilbige Einheiten, sowohl in den Hexa-, als auch in den Pentametern:

„Die vom“, „Und ge-„, „Was der“, „An der“, „An des“, „Die der“.

Da ist die Versuchung groß, im Vortrag die erste Silbe genausowenig zu betonen wie die zweite, schließlich ist „die“ genauso „schwer“ wie „der“!? Aber das geht eben nicht, denn in Hexa- und Pentameter ist die erste Silbe „schwer“, was auch meint: durch Betonung hervorgehoben! Anders stehen die Dinge, ist das zugrundeliegende Maß ein anderes, wie in den folgenden Versen von August von Platen:

 

Kaum hat sie erreicht der Poet, drum gönnt
Langatmende Muße dem Wanderer, der
An des südlichen Meers Felsufer (da schon
Das Gespann des Apoll in die Waag‘ eintrat)
Sturmwinde belauscht, Anapäste betont,
Und Erfindungen denkt,
Zu belustigen Krethi und Plethi.

 

Das von Platen verwendete Maß ist der Vers, den hier im Verserzähler die „Bewegungsschule“ über ihr erstes Dutzend Einträge entwickelt hat; wer dort mitgelesen hat, weiß, dass der Vers mit zwei leichten Silben beginnt, und daher ist das „An des“ in diesem Rahmen „leicht“:

An des süd– / lichen Meers || Felsu– / fer (da schon

Anders bei Schiller; bei ihm ist das Maß ein Pentameter, und das „An“ des „An des“ ist „schwer“:

An des / rers Ge- / fühl || nährte der / Sänger die / Glut.

Das muss man im Vortrag beachten; tut mans nicht, gewinnen die gewählten Verse keine Gestalt, die Sprache richtet sich ausschließlich nach dem Satz aus, und der Vortrag verkümmert zu rhythmischer Prosa. Was schade wäre!

Und erreichbar ist diese Hervorhebung der Anfangssilbe allemal. Sicher, Schiller hätte die Verseingänge auch mit gewichtigeren Silben besetzen können; aber wäre das dann auch dieses klare aufeinanderaufbauende Vorwärtsdrängen geworden?! Ich glaube, da hat er darauf vertraut, dass seine Leser und Sprecher das schon richtig machen werden.

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Bücher zum Vers (33)

Alexander Nitzberg: Lyrikbaukasten. Wie man ein Gedicht macht.

Dieses 2006 bei DuMont erschienene Werk ist ein Lehrbuch des Gedichtemachens. Allerdings keiner dieser herzlich überflüssigen Ratgeber, die vermitteln, wie man das nächst anstehende Geburtstags- oder Hochzeitsgedicht zusammenschustert, sondern ein ernsthafter Versuch, dem Leser durch Erklärungen und Übungen die Produktion moderner Lyrik zu ermöglichen.

Die Kapitel lauten: Die Sprache der Lyrik, Phonetik, Stilistik, Tropik, Komposition, Die Rezitation, Der Dichter.

Daraus kann man ja vielleicht schon ersehen, dass Reim, festes Metrum etc hier zwar auch verkommen, aber nur eine Nebenrolle spielen. Insgesamt ein Werk, aus dem alle noch etwas mitnehmen können, die schon länger schreiben – wenn nicht inhatlich, so doch auf jeden Fall durch Nachdenken über die von Nitzberg formulierten Thesen. Man muss nicht allem zustimmen (ich persönlich mache es bestimmt nicht), aber bedenkenswert ist eigentlich alles.

Ich gebe ein Beispiel aus dem Kapitel Tropik. Nitzberg sagt über das Bild: Bilder müssen um jeden Preis sichtbar sein und gibt davon ausgehend dann zehn Eigenschaften, die ein (lyrisches) Bild aufweisen sollte:

1. Ein Bild muss konkret sein. Abstrakt und sichtbar geht nicht.
2. Ein Bild muss positiv sein. Was es nicht gibt, kann nicht gesehen werden.
3. Ein Bild muss in sich geschlossen sein. Es erschafft seine eigene Realität.
4. Ein Bild muss schlicht sein. Das Auge braucht Überschaubarkeit.
5. Ein Bild muss logisch sein. Nicht „alltags-logisch“, sondern „augen-logisch“.
6. Ein Bild muss unmittelbar sein. Es spricht aus sich selbst, braucht keinen Kommentar.
7. Ein Bild muss statisch sein. Auch gemalte Bilder bewegen sich nicht.
8. Ein Bild muss glaubwürdig sein. Die Notwendigkeit, „im Bild“ zu bleiben.
9. Ein Bild muss faszinierend sein. Das Staunen des Dichters muss das des Lesers werden.
10. Ein Bild muss außerordentlich sein. Keine Klischees ohne visuelle Ausstrahlung.

Nitzberg erläutert diese zehn Punkte natürlich viel ausführlicher, oft über eine Seite oder mehr, stets mit guten Argumenten. Manchem der zehn Punkte wird man sofort zustimmen, andere reizen zum Widerspruch: Muss ein Bild wirklich statisch sein? Sind verneinende Bilder wirklich gefährlich? Aber wie oben gesagt …

Also, wer den Band in die Hand bekommt, sollte hineinsehen; ich denke, die Zeit ist nicht vertan.