Die alten Meister schämen
Sich nicht, nur fast so viel
Zu geben wie zu nehmen.
Das Ein-Vers-Gedicht (6)
1969 ist bei Heimeran der kleine Band „Römische Grabinschriften“ erschienen, der auf 250 Seiten 660 lateinische Grabinschriften versammelt, zusammengetragen und übersetzt von Hieronymus Geist.
Das ist schon an und für sich ein Buch, das anzusehen sich lohnt – dazu kommt aber, dass viele dieser Inschriften auch metrisch geregelt sind, also zum Beispiel aus Distichen bestehen; oder aus einzelnen Hexametern. Die klingen dann traurig oder fröhlich, geschäftsmäßig oder auch ganz anders – Nr. 437 auf Seite 165:
Quid tibi nunc prodest stricte vixisse tot annis
Laut Geist zu finden auf einem Grabstein aus dem Rom des 2. Jahrhunderts. „Was nützt es dir nun, so viele Jahre streng (nach Vorschrift) gelebt zu haben?“ wäre wohl eine wörtliche Übersetzung, aber Geist versucht in seiner Übertragung, den Hexameter beizubehalten:
Was hast du nun davon, dass einwandfrei du gelebt hast?
Allerdings ist die Versbewegung am Anfang schwer zu erkennen:
Was hast du / nun da- / von, || dass / einwand- / frei du ge- / lebt hast?
– Das liegt vielleicht daran, dass die Betonung vom Sinn her eher auf dem „hast“ liegt als auf dem „Was“?! Ich grübele schon eine Zeit, wie man den Vers besser ins Deutsche bekommt; so richtig eingefallen ist mir aber noch nichts. Vielleicht hat ja jemand anders eine Lösung?
Ein spitzzüngiger Grabstein, jedenfalls!
Erzählverse: Der Hexameter (30)
Franz von Sonnenbergs „Donatoa“
Hier ist mir alles ein Rätsel – Sonnenberg als Mensch ist ein Rätsel, sein „Donatoa“ ist ein bändelanges hexametrisches Rätsel, und das, was Zeitgenossen und Nachwelt über beide geschrieben haben, ist erst recht ein Rätsel. So urteilt etwa das „Damen Conversationslexikon“ 1837 über Sonnenberg:
Sonnenberg, Franz von, Franz Anton Joseph Ignaz Maria, Freiherr von, einer der glücklichsten Nacheiferer Klopstocks, obwohl er zu jung endete und zu ungestüm bildete und schuf, um allseitig erstarken und zur Harmonie gelangen zu können: – eine wehmüthig-säuselnde, aber stolzgewachsene Weimuthssichte unter Myrthengebüsch in der Mitte des Libanons, während auf dem Scheitel des heiligen Berges der Messiassänger als majestätische Zeder thront. 1779 zu Münster in Westphalen geb., entwarf er schon auf dem Gymnasium nach Klopstocks Messiade den Plan zu dem Epos: „das Weltende,“ – ein glühender Orkan aus wildbewegter Jugendbrust, fessellosstürmend, zerstörungslustig, mit himmelanstrebenden Fittigen einherbrausend, ohne das linde Säuseln des stillwaltenden Genius, ohne den sanften Hauch harmonischer Ruhe, ohne das milde Wehen des Friedens, wie er herüberflüstert aus Abendglocken und ruhenden Wäldern, aus Wiegenliedern und Küssen der Mutter. Dem Wunsche der Seinen gemäß widmete er sich dem Studium der Rechte, bereiste dann Deutschland, die Schweiz und Frankreich, und lebte nach seiner Rückkehr abwechselnd in Jena und in dem nahgelegenen Drakendorf. Hier war es, wo er sich allen körperlichen Entbehrungen unterwarf, um rastlos an seinem zweiten Epos: „Donatoa“ zu arbeiten, durch diese Überspannung aller seiner Kräfte aber in Apathie und tiefe Schwermut verfiel. Am 22. Nov. 1805 endete er freiwillig durch einen Sturz aus einem Fenster in Jena. Erst nach seinem Tode erschien seine „Donatoa“ (Halle 1806, 2 Bde.), ein erhabenes Gedicht von dem Untergange der Welt, welches schmerzlich bedauern lässt, dass die reiche Welt des jungen Dichters so früh schon unterging. Seine übrigen „Gedichte“ erschienen 1809 zu Rudolstadt.
Wohlgemerkt: Das ist ein Lexikon … Aber was um alles in der Welt ist eine „Weimuthssichte“? Also eine ganz normale jetzt, keine wehmütig-säuselnde …
Mit der Einschätzung der Werke Sonnenbergs liegt der Verfasser aber nicht so falsch. Ein knapper Ausschnitt aus Donatoa“, gleich vom Anfang – „Der Schutzgeist der Erde beklagt ihren Untergang“:
Dunkel, wie dunkel es dort auf den Wogen, und fern in den Tälern
Flammen wehn, Tod! rufet der Donner, wie wirrt es so rot sich,
Wirrt sichs im Dunkel so weiß! Die Kinder Gottes, sie töten
Wütend einander, sie wagten es nicht einschlummernd vor Schwäche,
Weh, sie ermutigten erst sich durch Mahl, um töten zu können.
Menschengeschlecht! Dein Abend ist da, stets düsterer steigt es,
Der aus der Unterwelt, drängt deine sanfteren Führer,
Drängt sie immer ferner von dir, du hörest, mein Schutzkind!
Meine Stimme nicht mehr, nicht deiner liebenden Schützer
Zärtliche Klag‘, ihr Bitten nicht mehr, wir sind dir umsonst da!
O-ha … Aber man sieht, das „zu ungestüme Bilden und Schaffen“ war keine so ganz falsche Beschreibung?! Dabei ist es nicht so, dass Sonnenberg nicht geradeaus hätte schreiben können – in seinen anderen Gedichten klappt das sehr gut, und auch hier sind ja, im Gegensatz zur Syntax, die Hexameter von feinstem Bau.
Trotzdem braucht es schon eine ganz eigene Geisteshaltung, sich auf derlei einzulassen, denke ich. Goethe zum Beispiel fehlte sie – Sonnenberg las ihm zwar aus „Donatoa“ vor, doch Goethe war ganz und gar nicht angetan. Ich lasse es zum Schluss, wie am Anfang, einen Lexikoneintrag sagen, diesmal aus „Herders Conversations-Lexikon“ von 1857:
Sonnenberg, Franz Ant. Jos. Ign. Maria von, epischer Dichter und ein Nachahmer Klopstocks, geb. 1779 zu Münster, gest. 1805 zu Jena durch einen Sturz aus dem Fenster, besang das Weltgericht in 12 Gesängen in dem Gedichte „Donatoa“ (Rudolst. 1806), wovon Goethe sagte, dasselbe offenbare eine „physisch glühende Natur, mit einer gewissen Einbildungskraft begabt, die aber ganz in hohlen Räumen sich erging“; mancher Leser des Donatoa möchte solch Urteil doch etwas zu herb finden.
Zu herb? Vielleicht. Nachvollziehbar aber allemal!
Das Königreich von Sede (39)
Ich habe den glücklichen König gekannt!
Der ist später im heißesten Feuer verbrannt,
Von den eigenen Mägden geschürt und den Knechten
(„Nun ist es an uns, Herr König, zu rechten!“) –
Doch hab ich den glücklichen König gekannt,
Als Knaben; noch ehe das Glück ihn fand.
Erzählformen: Das Sonett (4)
Korf und Palmström
wetteifern in Notturnos
– schreibt Christian Morgenstern über zwei Gedichte, eins mit „v. K.“ unterzeichnet, eins mit „P.“; das Korfsche Werk ist dabei ein durchaus bemerkenswertes Sonett:
Die Priesterin
Nachdenklich nickt im Dämmer die Pagode …
Daneben tritt aus ihres Hauses Pforte
T’ang-ku-ei-i, die Hüterin der Orte
vom krausen Leben und vom grausen Tode.
Aus ihrem Munde hängt die Mondschein-Ode
Tang-Wangs, des Kaisers, mit geblümter Borte,
in ihren Händen trägt sie eine Torte,
gekrönt von einer winzigen Kommode.
So wandelt sie die sieben ängstlich schmalen
aus Flötenholz geschwungnen Tempelbrücken
zum Grabe des vom Mond erschlagnen Hundes –
und brockt den Kuchen in die Opferschalen –
und lockt den Mond, sich auf den Schrein zu bücken,
und reicht ihm ihr Gedicht gespitzten Mundes …
Ein Erzähl-Gedicht?! Auf seine Weise: Allemal.
Die Fensterscheibe zum Frühling
Schön das Lied des die Lüfte verzückt durchtaumelnden Vogels,
Dumpf der Schlag, der uns mahnt, immer nach vorne zu schaun.
Erzählverse: Der Knittel (3)
Theodor Fontane hat viele Gedichte in Knittelversen geschrieben, und dazu zählen auch einige seiner berühmtesten Balladen. Auf die muss hier wie auch später noch eingegangen werden; aber als „eigentlichen“ Text dieses Eintrags möchte ich ein weniger bekanntes, kurzes Gedicht Fontanes vorstellen:
Ikarus
Immer wieder dieselbe Geschichte:
Siege, Triumphe, Gottesgerichte.
Wem jeder Sprung, auch der kühnste, geglückt,
Der fühlt sich dem Gesetz entrückt,
Er ist heraus aus dem Alltagstrott,
Fliegen will er, er ist ein Gott;
Er fällt dem Sonnengespann in die Zügel, –
Da schmelzen dem Ikarus die Flügel,
Er flog zu hoch, er stürzt, er fällt,
Ein neu Spektakelstück hat die Welt,
Eben noch zum Himmel getragen …
Apollo, zürnend, hat ihn erschlagen.
Auch das kein übermäßige schwieriges Stück in seinem formalen Aufbau – alles liest sich ganz selbstverständlich. Nur einmal gilt es, eine Entscheidung zu treffen: Ein neu Spektakelstück hat die Welt lässt zwei Lese-Möglichkeiten zu:
Ein neu Spektakelstück hat die Welt,
Ein neu Spektakelstück hat die Welt,
– Aber da mag jeder entscheiden, wie er will und nach seinem Geschmack, denn eine gute Bewegungslinie ist hier wie da gegeben?!
Der fühlt sich dem Gesetz entrückt, / Er flog zu hoch, er stürzt, er fällt, – das sind zwei streng alternierende Verse. Die gibt es selbstredend auch in Knittelgedichten! Aber eben nur zufällig, oder besser gesagt: Als eine von vielen Möglichkeiten, die einem Vers mit vier betonten Silben offenstehen.
(Etwas erstaunt bin ich über das zweimalige „Stottern“: heraus aus / er, er – aber auch das gehört wohl zu den bewussten Nachlässigkeiten, an denen es dem Knittel nicht mangelt.)
Über Fontanes große Balladen kann man sich eigentlich überall schlau machen. Ich hänge hier trotzdem noch zwei Lesungs-Links an:
Lutz Görner: Die Brück am Tay, John Maynard, Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
Görner trägt vor allem die „Brück“ sehr, na ich sag mal: ausdrucksstark vor; kann man bestimmt machen. Sanders Lesung habe ich als Vergleichsmöglichkeit dazugestellt, ganz anders, aber sehr überzeugend! Beiden Vortragenden gelingt es jedenfalls, die Knittelverse in ihrer ganzen Lebendigkeit zu vermitteln; und das Nachdenken über das Wie lohnt sich da schon, will man den Knittelversen auf die Schliche kommen?!
Zu den weniger bekannten Knittelvers-Balladen Fontanes dann ein ander Mal!
Bücher zum Vers (23)
Christoph Hönig: Neue Versschule
Den 2008 in der Reihe UTB bei Fink erschienenen Band lasse ich diesmal selbst zu Wort kommen – genauer, den Umschlagstext:
Die Neue Versschule geht von der Frage aus: Welche Kenntnisse brauchen Studierende und Schüler wirklich, um Verse analysieren und interpretieren zu können? Dieses Buch liefert das Werkzeug dazu. Ein kurzer Intensivkurs vermittelt zunächst die wichtigsten Elemente der Verslehre. 12 Lektionen erweitern Kenntnisse und Analysefähigkeiten. 8 Essays sorgen für vertieftes Wissen. Tests und eine Probeklausur ermöglichen es, den Lernerfolg selbstständig zu überprüfen. Alle Lektionen wurden in Lehrveranstaltungen vielfach erprobt und funktionieren fast von selbst, da alles einfach und klar formuliert ist.
Das stimmt halt auch alles so … Ich ergänze daher nur:
– Intensivkurs und Lektionen sind zwar solide gemacht, man findet das dort vermittelte aber genauso gut oder besser auch an anderer Stelle
– der Band ist wirklich auch für Schüler geeignet
– Wenn man nicht der Typ dafür ist, kann man sich Tests und Klausur auch einfach schenken
– Es geht tatsächlich mehr um das Verstehen und Nachvollziehen; das eigene Schreiben wird nur gestreift, sinnigerweise unter der Überschrift „Selber dichten?“; mit Fragezeichen eben
– Das gehaltvollste am Band sind sicherlich die Essays. Hier findet man manches, was zum Nachdenken anregt oder den Blick auf schon bekanntes schärft. Gut auch, dass die Essays oft eingehen auf den „mündlichen Vortrag“, „Mündlichkeit in der Dichtung“ und ähnliches.
Insgesamt jetzt kein Wunderbuch, aber wer es in die Hand bekommt, kann durchaus mal reinschauen; verschwendet wird die Zeit sicherlich nicht sein.