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Bücher zum Vers (20)

Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte.

An Büchern zum Sonett herrscht kein Mangel; hier also noch eins, erschienen 2009 bei Niemeyer. Als ich es zum ersten Mal irgendwo im Inneren aufschlug, war der erste Satz, den ich las, dieser: Der Ideologiebegriff impliziert traditionell eine gewisse Partialität von Interesse, und ich dachte mir: Oha. Eins von diesen Büchern … Das weitere Lesen offenbarte dann aber, dass man, wenn man des Verfassers Hang zum verschwurbelten Ausdruck hinzunehmen bereit ist, auf den 500 Seiten des Bandes eine Fülle von bedenkenswerten Überlegungen und Betrachtungen zum Sonett vorfindet; und dass die fürs Durcharbeiten aufgewandte Zeit gut angelegt ist.

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Die Zeit

Derweil beständig Zeit von Jetzt nach Eben geht,
Verfolgt ein Hund mit ungestümem Bellen
Zwei Falter, die taumelnd die Lüfte durchwellen,
Derweil der Takt der Zeit Minuten leis verweht.

Derweil im Schritt der Zeit das Nun ins Später weht,
Verschränkt die Luft ein Falterpaar zu Wellen,
Begleitet von atemlos heiterem Bellen,
Derweil unmerklich Zeit durch Welt und Wesen geht.

Was ist die Zeit? Es ist die Zeit zwei Falter,
Ist viele, ist sämtliche Falter der Erde
Und mehr, viel mehr als das. Ist auch ein jeder Hund,

Der lauthals bellt und Jagd macht auf zwei Falter,
Der hochspringt, sich reckt zwischen Himmel und Erde –
All dieses ist die Zeit: Zwei Falter und ein Hund.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (19 )

Karl Immermanns „Tulifäntchen“ ist ein nicht allzu ernstes, nicht allzu langes Versepos, oder wie der Untertitel sagt: Ein „Heldengedicht in drei Gesängen“. An manchen Stellen liest sichs etwas altertümlich, aber meistens fällt das Alter des Textes gar nicht so sehr auf (er stammt in dieser Fassung aus dem Jahr 1835). Es ist also auf jeden Fall ein text, den sich jemand, der mit Versen erzählen will, ansehen sollte; besonders beachtenswert wird er aber durch den Umstand, dass Heinrich Heines Bemerkungen und Änderungsvorschläge zum „Tulifäntchen“ erhalten sind! Dem hatte Immermann sein Werk geschickt zur Durchsicht, und Heine hat viele Änderungen vorgeschlagen und dabei begründet; die Immermann angenommen hat oder auch nicht, je nachdem. Jedenfalls ist so ein Blick in die Dichter-Werstatt möglich, das Arbeiten zweier Wort-Handwerker am Text. Dazu aber später; in diesem Eintrag möchte ich erst einmal einen kurzen Abschnitt vorstellen, um einen Eindruck von der Art des Textes zu vermitteln. Worum geht es?

Das Epos erzählt von Don Tulifant und Donna Tulpe, die einen Sohn bekommen, der nur einen Finger groß ist, aber schließlich trotzdem auf Abenteuer auszieht und diese auch besteht: Tulifäntchen. Nachdem der Held im ersten und zweiten Gesang seine Heldentaten vollbracht hat, steht am Beginn des dritten Gesangs wieder ein Blick auf Tulifäntchens Eltern, genauer: auf Don Tulifant am Sarg seiner Frau – von den Taten seines Sohnes weiß er nichts.

 

Seine Lippen öffnet klagend
Tulifant, der alte Degen:
„Nun steh‘ ich allein auf Erden!
Meine Donna ist gestorben,
Und mein Söhnlein ist verschollen,
Liegt wohl auch im Grab, dem kleinen.
O wann kommst du, Tod? Wann forderst
Du den letzten Tulifanten?“

Sieg und Segen! Fest und Glorie!
Paukenhall, Trompetenschmettern!

Kam ein Page, blau mit Silber,
Trug auf rotem Sammetkissen
Dar die Leiche einer Brummflieg‘:
„Dieses sendet, Heldenvater,
Tulifäntchen Fliegentöter,
Des Pantoffelordens Ritter!“

Sieg und Segen! Fest und Glorie!
Paukenhall, Trompetenschmettern!

Kam ein Page, weiß mit Lila,
Trug auf rotem Sammetkissen
Dar den Stift des Maschinisten:
„Dieses sendet, Heldenvater,
Tulifäntchen Mauerstürzer,
Erb- und Lehnsherr von Brambambra!“

Sieg und Segen! Fest und Glorie!
Paukenhall, Trompetenschmettern!

Kam ein Page, grün mit Golde,
Trug auf rotem Sammetkissen
Dar das Stück von einem Strumpfband:
„Dieses sendet, Heldenvater,
Hoheit Tulifäntchen Kronprinz,
Eidam Kön’gin Grandiosens!“

Aufschrie laut der alte Vater
Bei so ungeheurer Botschaft,
Fasste nach dem Herzen schmerzlich,
Weiß ward sein Gesicht, er lächelt‘
Durch die letzte Pein so selig:
„Gleich muss ich zu Donna Tulpe,
Ihr von unsrem Sohn berichten!“ –

Sprach’s, und auf der Gattin Leiche
Fiel er, atmete den süßen
Freuden-Todesseufzer aus.
Die drei Pagen stehn bestürzet,
Trauer blasen die Trompeten,
Leichenklage hallt die Pauke;
Gines grub am Erlenhügel
Unter Reif und Wintersturme
Bei dem ersten Grab das zweite.

 

Gines ist der Bedienstete des Paares. Insgesamt eine seltsame Mischung aus ernstem und gar nicht ernstem, aber mir gefällt es sehr; auch, weil man den ganzen Text hindurch spürt, wie sehr der Verfasser an ihm hängt. Wer mag, kann ja mal reinlesen, er steht mehrfach im Netz; da erfährt man dann auch, was der „Stift des Maschinisten“ ist! Hier aber sollen beim nächsten Mal Heines Anmerkungen im Mittelpunkt stehen.

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Das Königreich von Sede (35)

Schemel sitzt, des alten Königs
Alter Narr: vor einem Eimer.
In dem Eimer schwimmen Quappen,
Schwimmen viele schwarze Quappen
Kreise, um und um im Kreise
Schwimmen Quappen in dem Eimer.
„Welchen Zieles?“, fragt sich Schemel,
Und die Quappen schwimmen weiter
Kreise in dem Eimer, Kreise …

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Die Korrelation (4)

„Das europäische Sonett“ von Friedhelm Kemp, erscheinen 2002 bei Wallstein, hat der Verserzähler ja schon vorgestellt unter „Bücher zum Vers“. Ich sage hier aber gerne noch einmal, dass das zwei ganz wunderbare Bücher sind! Auf Seite 328 des ersten Bandes schreibt Kemp auch etwas zur Korrelation im Sonett:

Diese kunstvoll verschränkte Sonderart des Sonetts führen die Metriker als Korrelativsonett auf, als „sonnet en vers rapportes“, in dem mehrere – meist drei – Bildketten syntaktisch parallel durch das ganze Sonett hindurchlaufen. Das hat von fern etwas von einer Fuge und überzeugt nur, wenn es mit höchster Überwachtheit durchgeführt wird.

Vorgeführt wird die Korrealtion dann anhand eines Sonetts von Etienne Jodelle, der eine Dame in Form der „Diana triformis“ besingt; dementsprechend nutzt er eine dreigliedrige Korrelation, die sich in jedem(!) der 14 Verse findet:

 

Des astres, des forêts, et d’Achéron l’honneur,
Diane, au Monde haut, moyen et bas préside,
Et ses chevaux, ses chiens, ses Euménides guide,
Pour éclairer, chasser, donner mort et horreur.

Tel est le lustre grand, la chasse, et la frayeur
Qu’on sent sous ta beauté claire, prompte, homicide,
Que le haut Jupiter, Phébus, et Pluton cuide,
Son foudre moins pouvoir, son arc, et sa terreur.

Ta beauté par ses rais, par son rets, par la crainte
Rend l’âme éprise, prise, et au martyre étreinte :
Luis-moi, prends-moi, tiens-moi, mais hélas ne me perds

Des flambeaux forts et grefs, feux, filets, et encombres,
Lune, Diane, Hécate, aux cieux, terre, et enfers
Ornant, quêtant, gênant, nos Dieux, nous, et nos ombres.

 

Der Sterne Zier, der Wälder und der Schattenwelt,
Darf sich Diana dort und hier und da ergetzen,
Mit Pferden, Hunden und mit Eumeniden hetzen,
Dass sie uns strahlt, uns jagt und gräßlich überfällt.

So großen Glanz, so wildes Jagen, solch Entsetzen
Schickt deine Schönheit auch, hell, rasch und mörderisch,
Dass Jupiter, Apoll und Pluto minder sich,
Die Götter Blitz und Pfeil und Schrecken minder schätzen.

Dein Zauber hat mit Licht, mit List, mit Angst und Bangen
Die Seele mir gebannt, umgarnt und ganz umfangen:
So blende, greife mich, halt mich, doch ach! vernichte

Mit grellen Fackeln mich in Netzen nicht und Höhlen,
Luna, Diana, Hekate, dreifältig Lichte,
Schmuck, Drangsal, Qual, den Göttern, uns und unsren Seelen.

 

Die wunderbare Übersetzung stammt von Kemp. Die Korrelationen, denen am besten jeder selbst nachspürt, bauen auf folgenden Grundbegriffen auf:

Himmel (Licht) – Diana als Mondgöttin Selene;
Erde (Jagd) – Diana als Jagdgöttin Artemis;
Unterwelt (Tod) – Diana als Göttin der Unterwelt, Proserpina.

Gut möglich, dass sich das Sonett als „reine Form“ besonders für eine solch formabsolute Technik eignet, wie es die Korrelation ist?! Jodelles Sonett liest sich gut, einerseits; andererseits ist aber auch ein Gefühl von Übertreibung da, eben nach einem Überbewerten der Form. Das muss aber nicht sein, und im nächsten Eintrag zur Korrelation soll daher ein Sonett vorgestellt werden, das die Korrelation unaufdringlich-bereichernd nutzt.

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Erzählverse: Der Hexameter (26)

Lord Lindsays „The cranes of Ibycus“

Wen der Titel des heute vorgestellten Werks an Schiller erinnert, der liegt ziemlich richtig – es handelt sich um eine Übertragung der Schillerschen Ballade ins Englische! Und obwohl Alexander Lindsay, der 25. Earl of Crawford, in seinem Band mit Übersetzungen aus dem Deutschen normalerweise so eng wie möglich am Ursprung bleibt, in Form, Wort und Sinn – Who rides so late through night-storm wild -, wählt er bei den „Kranichen“ die Umformung der gereimten Strophen in reimlose, fortlaufende Hexameter. Die Gründe? Ich kenne sie nicht wirklich. Aber der Übersetzer war ein überzeugter Anhänger des englischen Hexameters, und die in der Antike spielende Handlung hatte wohl auch mit dieser Entscheidung zu tun. So schreibt er in seinen Anmerkungen:

To German readers I need offer no apology for translating this beautiful poem into hexameters,— a measure peculiarly appropriate to classical subjects, and by no means so unsuitable to the genius of the Teutonic dialects as is commonly supposed in England.

Na ja. Es ist ja nicht so, als ob es in Deutschland an Stimmen gefehlt hätte, die den Hexameter als unvereinbar mit der deutschen Sprache ansahen; und ob man einfach so ein ganzes Werk in eine völlig fremde Form gießen kann, ohne dass es ein anderes Werk wird; wer weiß. Form ist schließlich mehr als ein Mantel, den ein Inhalt nach Belieben an- und ausziehen kann!

Nun aber zum Text selbst. In der Gesamtheit – Schillers Ballade hat 23 achtzeilige Strophen – wäre er wohl ein wenig zu lang, aber einige Ausschnitte werden genügen, denke ich. Hier die Strophe, in der Ibykus durch die Hand der Räuber stirbt:

 

Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
„Von euch ihr Kraniche dort oben!
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!“
Er ruft es, und sein Auge bricht.

 

Das klingt in englischen Hexametern dann so (das Hinsinken, and down he heavily sinketh, beschließt den Vers davor):

 

O’er him just at that moment the cranes pass rushingly onward;
See them can he no more, but he hears their wild jubilation,
Hears their heavy wings —“ Be ye, O ye myriads above me!
„Ye, since none else will answer, my witnesses and my avengers!“

 

Was für eine Veränderung im Ton! Ich bin mit Schillers Balladen-Versen nie richtig warm geworden, weil sie oft so starr und hölzern wirken; da ist die Auflösung in bewegte Hexameter fast schon eine Wohltat für’s Ohr. Inhaltlich ist der englische Text etwas redseliger als das Vorbild, und manchmal weicht er auch zum Guten oder Bösen ab – „furchtbar krähn“ und „wild jubilation“ wäre da etwa ein Paar, über das man nachdenken kann. Bemerkenswert, andererseits, auch der Verzicht auf den letzten Schillerschen Vers?!

Das soll jetzt aber nicht heißen, dass mir die Übersetzung vorbehaltslos gefiele. Da sind auch viele Stellen, in denen der Hexameter blass bleibt, seine Bewegung sich der Hölzernheit des Ursprungstextes angleicht oder einfach schlecht gebaut ist (jedenfalls nach meinem Urteil, wobei ich des Englischen aber nicht kundig bin). An einzelnen Stellen aber blitzen immer wieder schöne Verse auf, und an anderen ist der Vergleich mit Schillers Reimen lohnend. So etwa, wenn es über den Mörder heißt:

 

Er geht vielleicht mit frechem Schritte
Jetzt eben durch der Griechen Mitte,
Und während ihn die Rache sucht,
Genießt er seines Frevels Frucht.

 

Now, even now, perchance, thro‘ the midst of the Greeks he walketh,
Shameless, enjoying the fruits of his crime, while Nemesis seeks him

 

Fast ist man versucht, das ganze auch einmal mit deutschen Hexametern zu probieren … Aber ich fürchte, in meinem Fall ist es dafür zu spät. Denn Verse wie

 

Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!

 

haben sich einfach zu tief eingebrannt, als dass sich die Hand nicht sträubte gegen ein Umschreiben.

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Ohne Titel

Da ruht ein Schmerz im Frühlingslicht,
Zu sehen nicht, zu hören nicht,
Nicht irgendwie zu spüren;
Der will die Welt verführen.

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Wortlisten (5)

Hirnschmalz, Gipsfuß, Rollstuhl, Rucksack, Plattform, Bergsport, Aufstand, Zuspruch, Haushalt, Machtkampf, Frachtraum, Einstieg, Kampfplatz, Schwertstreich, Waldrand, Kutschbock, Blutspur, prachtvoll, Pfingstfest, Schlachtross, Schlagblatt, Grobschmied, Vorschrift, Eisbahn, Schwungkraft, Vollmond, Nachhall, Nachtluft, Eisfeld, Trambahn, Ausfall, Prahlhans, Volldampf, Blutdurst, Fernglas, Liedstil, Nachdruck, Formfleisch, Nachstoß, Kackschmus.