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Das Königreich von Sede (29)

Als das Königreich von Sede
Noch ein Traum war ferner Zeiten,
Den die waldbedeckten Gipfel
Hoher Berge träumten, schweigend;
Den die windbewegten Gräser
In den Steppen stimmlos riefen,
Den die Frösche in den Sümpfen
Alle Tage quakten, lauthals –
Damals, in der Frühzeit, lebten
Menschen, wild und ungebärdig,
Unter ihrem König, Sockel,
Der ein langes Leben hatte:
Hunderteinundzwanzig Jahre!
Und dann starb, wie Menschen sterben.
Hunderteinundzwanzig Jahre
Lebte auch des Königs Gattin,
Seiner Seele, seines Herzens
Unbeschränkte Herrscherin,
Lebte Königin Geländer,
Die, im selben Jahr geboren
Wie der König, auch im selben
Jahr vom Leben in den Tod ging:
Nur drei Tage nach dem Gatten.
Unbeschreiblich war die Trauer,
Die darauf das Volk erfasste,
Denn die beiden Toten hatten
Klug geherrscht, zum Wohle aller;
Und die Menschen klagten lauthals,
Weinten an der Toten Bahren –
Und besprachen unter Tränen
Sich und fassten einen Plan:
Erst begruben sie die Toten,
Dann, im Laufe vieler Jahre,
Bauten sie den schönsten Tempel,
Den die Welt jemals gesehen,
Über beiden Gräbern, schließlich
Kam das ganze Volk zusammen:
Und beschloss, von diesem Tag an
Sockel und Geländer, ihre
Vielgeliebten, toten Herrscher,
Als zwei Götter zu verehren!
Und als Zeichen und als Warnung
Allen, die noch Kenntnis hatten
Von der neuen Götter Fehler
(Hunderteinundzwanzig Jahre
Lebten sie und waren Menschen,
Und wie alle Menschen fehlbar):
Stand vor Sockel und Geländer,
Wie sie nun, aus Stein gehauen,
In des Tempels Hallen ragten,
Eines Frosches steinern Abbild,
Das mit aller Macht die Lippen
Fest zusammenpresste und die
Hand an diese Lippen legte,
Tiefes Schweigen so gebietend.
Denn, als Sockel und Geländer
Götter wurden, wurd Gesetz auch,
Dass, wer ihre Herkunft nannte,
In Erinnrung rief ihr Menschsein
Und an ihren Fehlern rührte:
Ohne Säumen sterben musste.

Und so stand des Frosches Abbild,
Und gebot, indem’s die Hand hielt
An die Lippen: Tiefes Schweigen.

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Erzählverse: Der Blankvers (23)

Otto Erich Hartleben ist ein heute vergessener Dichter, und ich kann nicht sagen, dass mich das wundert. Unter seinen Gedichten sind viele Blankvers-Stücke, die es aber meist versäumen, einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Eine Ausnahme war zumindestens bei mir das folgende, recht kurze Stück, das unverhohlen gemein ist – eine Eigenschaft, die Gedichte ja eher selten haben, und die diese Verse also dann doch ein wenig heraushebt.

 

Die Dummheit spricht aus deinem zarten Antlitz,
die Dummheit schaut aus deinen tiefen Augen,
und öffnest du das rote, süße Mündchen,
so ists, als öffne sich der Quell der Dummheit!
Drum, wie mich auch dein wunderschöner Leib
berauscht und immer wieder noch berauscht,
einmal muss ich dir doch den Abschied geben:
denn deine Dummheit ist nicht zu ertragen.

– Du glaubst, dem Schmerz der Trennung zu erliegen?
O tröste dich, mein liebes, gutes Mädchen:
den Schmerz zu fühlen, bist du auch zu dumm.

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Frosch und Hund

Als man dem Frosch erzählte, der Hund sei einsam, weil niemand
Gern mit ihm spräche, entschied sich der Frosch, den Hund zu besuchen.
„Hallo“, quakte der Frosch, „ich bin Frosch und möchte dein Freund sein!“
Aber der Hund, der als Hund nur Worte verstand, die man bellte,
Folgte dem Vorschlag nicht; er packte den Lärmer und fraß ihn.

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Die Bewegungsschule (3)

Wer den Vers, wie ihn der letzte Eintrag  der Bewegungsschule vorgestellt hat, einige Male versucht hat, wird wahrscheinlich den Eindruck von Eintönigkeit bekommen haben?!

Das hat seinen Grund im Aufeinanderfallen von metrischen Einheiten und Sinneinheiten, wodurch die Versbewegung sich ständig wiederholt, voraussagbar wird und damit langweilig. Um den Vers davon zu heilen, geht es diesmal um:

Das Auseinandertreten von metrischen Einheiten und Sinneinheiten.

Wer nun meint, das sei nichts besonderes und kein Grund, plötzlich zur Fettschrift zu greifen oder gar aufgeregt zu klingen (was ich im folgenden wahrscheinlich werde), dem sei gesagt: Doch. Das ist etwas besonderes. Es wirkt bloß nicht so, weil es andauernd gemacht wird und es jeder, der schreibt, als selbstverständlich ansieht; aber hier liegt der eigentliche Reiz fast jeden metrisch geregelten Verses verborgen!

Denn wenn sich Metrum und Sinn, das meint: Rhythmus nicht entsprechen, entsteht ein Spannungsverhältnis, Streit und Versöhnung; und dadurch wirkt ein solcher Vers lebendig, dadurch macht es Freude, ihn zu hören!

Das Metrum ist dabei eine theoretische Größe – das Ohr hört nicht das Metrum, sondern den über dem Metrum verwirklichten Rhythmus, der sich durch die verwendeten Sinneinheiten ausprägt.

Im „Grundvers“ allerdings deckten sich die metrischen Einheiten mit den Sinneinheiten, so dass hier – ausnahmsweise! – tatsächlich das Metrum zu vernehmen war: tataTAM.

ta ta TAM / ta ta TAM || ta ta TAM / ta ta TAM

Eine „Sinneinheit“ enthält im Deutschen eigentlich immer eine betonte Silbe. Wenn in unserem Grundvers also vom Metrum abweichende Sinneinheiten möglich sein sollen, gibt es, auf den Halbvers bezogen, im wesentlichen zwei Möglichkeiten:

ta ta TAM ta / ta TAM || ta ta TAM ta ta / TAM

– Hier links und rechts der Zäsur zu sehen. Wenn man so will, wird der Trennstrich zwischen den Sinneinheiten um eine, beziehungsweise um zwei Silben nach rechts geschoben! Dadurch entstehen zwei neue Bewegungsmuster, die auf neuen Sinneinheiten beruhen. Insgesamt kann ein Schreiber, der diesen Vers nutzt, nun also auf fünf Sinneinheiten, fünf rhythmische Einheiten zurückgreifen – nach Größe geordnet (das tataTAM im Zentrum!):

tataTAMtata, tataTAMta, tataTAM, taTAM, TAM

Obwohl es die Sinneinheiten sind, die der Leser letztendlich wahrnimmt, sollte man die Wirkung des Metrums nicht unterschätzen! Denn zum einen entscheidet das Metrum ja, welche Sinneinheiten überhaupt möglich sind, und auch in welcher Zusammenstellung und Reihenfolge sie vorkommen können; und zum anderen legt das Metrum auch fest, welcher Teil des Wortschatzes einem Verfasser überhaupt zur Verfügung steht!

Im „Metrum=Rhythmus-Vers“ des letzten Beitrags waren zum Beispiel Wörter mit einer unbetonten Schluss-Silbe nicht unterzubringen; ein „Polizist“ konnte also vorkommen, ein „Räuber“ aber nicht, noch nicht einmal ganz allgemein ein „Verbrecher“! In die neu eingeführten Sinneinheiten lassen sich diese Wörter ohne Schwerigkeiten einfügen: „Ein Verbrecher“, tataTAMta; „der ein Räuber“, tataTAMta.

Andere Wörter müssen weiterhin draußen bleiben – ein „Topfschrank“ zum Beispiel fügt sich noch in keine der angebotenen Sinneinheiten. Noch! Der Vers wird in den folgenden Beiträgen aber auch die Möglichkeiten erhalten, die es dafür braucht.

Bis es soweit ist, schlage ich allerdings vor, sich erst einmal mit den neuen Halbversen vertraut zu machen: „ta ta TAM ta / ta TAM“ und „ta ta TAM ta ta / TAM„. Am besten, man schreibt erst einmal eine Menge Halbverse der ersten Art; die sind einfacher.

„In den Straßen der Stadt“, „Es ist dunkel des Nachts“, „Siamesen-Miau“ … Wie immer kommt es auf den Inhalt nicht an.

Die Halbverse der zweiten Art sind etwas weniger naheliegend:

„Was erzählst du denn, Karl!“, „Philosophisches Zeugs“, „Doch gelingt es ihm? Nein!“

– Aber auch die lassen sich bald leicht herunterschreiben.

Wenn diese neuen Halbverse dann einigermaßen vertraut sind, gilt es, sie zu ganzen Versen zusammenzusetzen. Da es ja auch den „alten Halbvers“ gibt, stehen insgesamt neun Möglichkeiten zur Verfügung, davon acht neue; ich schlage vor, sie alle zu versuchen! Ich denke mir auch schnell selbst noch welche aus:

Aus der Hand / in den Mund || ist des Lebens / Gebot.

„Die Gedanken / sind frei|| ist ein Lied; / nur ein Lied.

Der da sprach, / ist der Tod, || was er sagte, war: / „Komm„.

Was der Denker / sich denkt, || ist der Wirklichkeit / schnurz.

Es ist ärgerlich – / kaum, || dass mein Leben / begann,

Ist’s Vergangenheit … / Nun: || Was geschieht, / das geschieht.

Wie immer gilt: Keinen großen Sinn reinpacken, keine Gedichte schreiben wollen: einfach nur hinhören, vergleichen, abwandeln, neu hinhören … Wenn dann trotzdem mal zwei Verse dabei rauskommen, die sich aufeinander beziehen (hier die letzten beiden), macht das selbstredend auch nichts.

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Erzählverse: Der Hexameter (19)

Esaias Tegners „Frithiofs saga“

Wenn man, wie im letzten Hexameter-Eintrag, einen Text in zwei Sprachen gegenüber stellen kann – warum dann nicht auch in drei Sprachen? Neben Deutsch und Englisch wäre Schwedisch eine Möglichkeit. Da ist der Hexameter heimisch geworden, lange bevor Klopstocks Messias ihn 1749 fürs Deutsche gewann – schon 1658 brachte Georg Stiernhielm sein schwedisches Hexameter-Epos „Hercules“ heraus! Davon angeregt haben immer wieder schwedische Dichter den Hexameter verwendet.

Tegner hat die  zu seiner Zeit (sein Werk erschien 1825) um die 400 Jahre alte „Frithiofs saga“ in zeitgemäße Verse gebracht, und einen Abschnitt eben auch in Hexameter. Da klingt dann der Auftritt eines Erzählers so:

 

Tyst satt lyssnande lag, och dess blickar hängde vid gubbens
läppar, som bi’t vid sin ros; men skalden tänkte på Brage,
när med sitt silfverskägg och med runor på tungan han sitter
under den lumimiga bok och förtäljer en saga vid Mimers
evigt sorlande våg, han själv en levande saga.

 

Ich kann kein Schwedisch, aber es ist schon erstaunlich, wie deutlich selbst dann die Hexameter-Bewegung durch die Verse schimmert – meistens finden sich die Betonungen fast von selbst. Aber was heißt das ganze nun? Hier eine zeitgenössische deutsche Übersetzung:

 

Still dann lauschten die Gäst‘, und es hing ihr Aug‘ an des Greisen
Lippen, wie an der Rose die Bien‘, und der Skalde gedachte
Bragas dann, des Gottes, der dort mit silbernem Bart sitzt,
Unter schattender Buch‘ und Sagen erzählet bei Mimers
Ewig murmelndem Born; er selbst die lebende Sage.

 

Die Übersetzung stammt von Amalie von Imhoff und war, soweit ich weiß, zu ihrer Zeit recht angesehen; manche ihrer Hexameter gefallen mir aber nicht so. Trotzdem habe ich ihre Verse gewählt, denn die Dame, Gattin eines Schweden und einige Jahre in Stockholm lebend, ist in der kleinen, feinen Welt der Hexametristen keine Unbekannte, hat sie doch 1799 selbst ein kleines Hexameter-Epos geschrieben, „Die Schwestern von Lesbos“, das hier, samt der etwas eigenartigen Rolle, die Goethe und Schiller dabei spielten, auch noch mal zur Sprache kommen soll! Nun aber zur englischen Übersetzung:

 

Hushed sat the listening bench, and their glances hung on the graybeard’s
Lips, as a bee on the rose; but the Scald was thinking of Brage,
Where, with his silver beard, and runes on his tongue, he is seated
Under the leafy beech, and tells a tradition by Mimer’s
Ever-murmuring wave, himself a living tradition.

 

Auch hier ist der Übersetzer jemand, der auch selbst in Hexametern gedichtet hat: Henry Wadsworth Longfellow, der hier ja schon mit seiner „Evangeline“ vertreten war. Und wieder sein wird, denke ich – seine Verse haben es mir nämlich wirklich angetan inzwischen. Seine Übersetzung scheint mir auch rund und klangvoll; zumindest schmeißt er da, wo es Frau Imhoff kurzzeitig aus der Kurve trägt, nicht gleichfalls einfach Ballast ab (med runor på tungan) …

Wie klingen die Verse hier, wie da, wie da? Da müsste man sich jetzt schon mit einem Engländer und einem Schweden zusammensetzen. Hm. Aber vielleicht findet sich ja ein des Internetsuchens Erfahrener, der irgendwo im Netz gesprochene Versionen auftreibt? Wäre doch mal was!

Ansonsten einfach mal die Geschichte lesen, auch in der Imhoff-Fassung – es lohnt sich, erst recht, wenn man sich sowieso etwas für die alten nordischen Geschichten erwärmen kann …

Und wenn man dann ab und an ins Original rüberschaut, kann man auch noch ein paar Brocken Schwedisch mitnehmen. Ich habe ja nie verstanden, warum man fremde Sprachen immer über Begrüßungsformeln, Gespräche beim Bäcker  oder anderen alltäglichen Unfug lernen soll. Wer kann sich sowas merken? Da ist ein einprägsamer Vers doch wesentlich geeigneter!

 

glad som ett barn men fast som en man och vis som en gubbe

 

dichtet Tegner, und

 

Froh wie ein Kind und stark als ein Mann, ein Greis doch an Weisheit

 

übersetzt Imhoff; und schon hat man sechs Vokabeln beisammen, leicht zu merken, da aufgereiht auf den sechs Hebungen des Hexameters (wenn die Übersetzerin auch ihrem deutschen Vers zuliebe am Ende umstellt) …

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (17)

Am Beginn von Arthur Schnitzlers „Anatol“ (1893) stehen als Prolog die folgenden Verse von Hugo von Hofmannsthal.

 

Hohe Gitter, Taxushecken,
Wappen nimmermehr vergoldet,
Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd …
…  Knarrend öffnen sich die Tore. –
Mit verschlafenen Kaskaden
Und verschlafenen Tritonen,
Rokoko, verstaubt und lieblich,
Seht … das Wien des Canaletto.
Wien von siebzehnhundertsechzig …
… Grüne, braune stille Teiche,
Glatt und marmorweiß umrandet.
In dem Spiegelbild der Niken
Spielen Gold- und Silberfische …
Auf dem glattgeschornen Rasen
Liegen zierlich gleiche Schatten
Schlanker Oleanderstämme:
Zweige wölben sich zur Kuppel.
Zweige neigen sich zur Nische
Für die steifen Liebespaare,
Heroinen und Heroen …
Drei Delphine gießen murmelnd
Fluten in ein Muschelbecken …
Duftige Kastanienblüten
Gleiten, schwirren leuchtend nieder
Und ertrinken in den Becken …
… Hinter einer Taxusmauer
Tönen Geigen, Klarinetten,
Und sie scheinen den graziösen
Amoretten zu entströmen,
Die rings auf der Rampe sitzen.
Fiedelnd oder Blumen windend,
Selbst von Blumen bunt umgeben,
Die aus Marmorvasen strömen:
Goldlack und Jasmin und Flieder …
… Auf der Rampe, zwischen ihnen
Sitzen auch kokette Frauen,
Violette Monsignori …
Und im Gras, zu ihren Füßen
Und auf Polstern, auf den Stufen
Kavaliere und Abbati …
Andre heben andre Frauen
Aus den parfümierten Sänften …
Durch die Zweige brechen Lichter.
Flimmern auf den blonden Köpfchen.
Scheinen auf den bunten Polstern,
Gleiten über Kies und Rasen,
Gleiten über das Gerüste,
Das wir flüchtig aufgeschlagen.
Wein und Winde klettert aufwärts
Und umhüllt die lichten Balken,
Und dazwischen farbenüppig
Flattert Teppich und Tapete,
Schäferszenen, keck gewoben,
Zierlich von Watteau entworfen …

Eine Laube statt der Bühne,
Sommersonne statt der Lampen,
Also spielen wir Theater,
Spielen unsre eignen Stücke,
Frühgereift und zart und traurig.
Die Komödie unsrer Seele,
Unsres Fühlens Heut und Gestern,
Böser Dinge hübsche Formel.
Glatte Worte, bunte Bilder.
Halbes, heimliches Empfinden,
Agonien, Episoden …
Manche hören zu, nicht alle …
Manche träumen, manche lachen.
Manche essen Eis … und manche
Sprechen sehr galante Dinge …
… Nelken wiegen sich im Winde,
Hochgestielte weiße Nelken,
Wie ein Schwarm von weißen Faltern,
Und ein Bologneserhündchen
Bellt verwundert einen Pfau an.

 

In meinen Ohren sind das wundervolle Verse. Auch inhaltlich, da der zweite Abschnitt im besonderen, und die letzen fünf Verse noch gesteigert; aber vor allem klanglich, als Beispiel dafür, wieviel Wohlklang ungereimte Verse  aufweisen können! Da sind ja längst nicht nur solche Ketten von in den Versen versteckten Wörtern wie Klarinetten / Amoretten / kokette / Violette – auch die Wortwiederholungen, die Alliterationen, die Vokalfolgen: zusammen ein fast schon betäubender Wohlklang. Dem ganzen nachzuspüren, in der Hoffnung zu verstehen, wie Hofmannsthal das gemacht und erreicht hat: Da liegt viel nützliches fürs eigene Schreiben verborgen, glaube ich!

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Ohne Titel

Raum ist in der kleinsten Hütte,
Streit auch: um den einen Stuhl, der
Neben denen, die sich streiten,
In der kleinsten Hütte Raum hat …

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Erzählverse: Der Hexameter (18)

Coleridge und Klopstock

Im Herbst 1798 besuchten die englischen Dichter Samuel Taylor Colerdidge und William Wordsworth während ihrer Deutschlandreise auch Friedrich Gottlieb Klopstock. Die beiden Engländer, Mitte und Ende Zwanzig, und der bald 75-Jährige Klopstock unterhielten sich auf Französisch und ein wenig Englisch natürlich über die Dichter und das Dichten, über das Übersetzen, über Hexameter …

Coleridge schreibt dazu:

Klopstock dwelt much on the superior power which the German language possessed of concentrating meaning. He said, he had often translated parts of Homer and Virgil, line by line, and a German line proved always sufficient for a Greek or Latin one. In English you cannot do this. I answered, that in English we could commonly render one Greek heroic line in a line and a half of our common heroic metre, an I conjectured that this line and a half would be found to contain no more syllables than one German or Greek hexameter. He did not understand me: and I who wished to hear his opinions, not to correct them, was glad that he did not.

Hübscher Schluss-Satz. Davor stehen auch bedenkenswerte Dinge, aber man kann das auch einfach stehenlassen als ein Beispiel der Gespräche der drei. Jedenfalls hat Coleridge noch eine Fußnote dazu geschrieben:

I have translated some German hexameters into English hexameter, and find, that on the average three lines English will express four lines German. The reason is evident: our language abounds in monosyllables and dissyllables.

Auch diese Fußnote, die noch länger ist, enthält lesenswertes; aber noch spannender ist doch die Frage, was das für Texte sind, die Coleridge da übersetzt hat? Ein Distichon von Friedrich Schiller etwa!

 

Der epische Hexameter

Schwindelnd trägt er dich fort auf rastlos strömenden Wogen,
Hinter dir siehst du, du siehst vor dir nur Himmel und Meer.

 

Bei Coleridge liest sich das dann so:

 

The homeric hexameter

Strongly he bears us along in swelling and limitless billows,
Nothing before and nothing behind but the sky and the ocean.

 

Angesichts von Coleridges Ausführungen scheint bemerkenswert, dass die beiden englischen Verse je 16 Silben haben, die beiden deutschen aber nur je 14?!

Eigentlich müsste man sich mal mit einem englischen Muttersprachler zusammensetzen und solche Verse dann immer wieder einander vorsprechen. Und vergleichen. Aber auch so fällt auf, das Coleridge kein „richtiges Distichon“ als Wiedergabe gewählt hat! Schillers zweiter Vers ist, wie es sich im Distichon gehört, ein Pentameter:

Hinter dir / siehst du, du / siehst || vor dir nur / Himmel und / Meer.

Coleridges zweiter Vers ist dagegen ein Hexameter:

Nothing be- / fore and / nothing be- / hind || but the / sky and the / ocean.

Jedenfalls scheint es mir so. Vielleicht „finde“ ich den Pentameter aufgrund mangelnder Englisch-Kenntnisse aber auch einfach nicht … Wenn’s aber denn ein Hexameter ist, läge ja auch ein gewisser Sinn darin: Was hat ein Pentameter in einer Hexameter-Beschreibung zu suchen?!

Eigene Hexameter hat Coleridge natürlich auch geschrieben, und die Beschäftigung mit ihnen lohnt sicherlich. Hier sollen aber nur noch zwei folgen, die Coleridge auf der oben erwähnten Reise geschrieben hat – sie finden sich in als Teil eines längeren Hexameter-Stücks in einem Brief, den Coleridge in der Zeit nach dem Besuch bei Klopstock im Winter 1798/99 von Ratzeburg aus an den in Goslar weilenden Wordsworth geschrieben hat, und in denen er seine eigenen Hexameter beschreibt:

 

All my hexameters fly, like stags pursued by the staghounds,
Breathless and panting, and ready to drop, yet flying still onwards

 

Starkes Bild, starke Verse!