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Das Königreich von Sede (6)

– Bruchstück –

Am Rand des alten Waldes, müßig hingelehnt
An einer Eiche schattenschweren, kühlen Stamm:
Betrachten Schemel und sein Prinz den Sommertag,
Der mittagsheiß und träge Schloss und Menschen hüllt.

„Da es viel zu warm ist heute, irgendwas zu tun“,
Beginnt der Prinz, den Schemel lächelnd unterbricht:
„Und irgendwas zu tun uns ohnehin nicht liegt …“
„… Da alledem“, fährt Klappstuhl würdig fort, „so ist:
Erzähl mir, Schemel, heut‘ aus deiner Jugendzeit!“

„Den Kram von früher? Ach, das liegt so weit zurück …
Obwohl: Da war ein heißer Sommer, grad wie der
In diesem Jahr; ich war erst fünfzehn, glaube ich,
Und war mit Patsche – Meister unseres Pulverfass‘,
Und damals Seher – schon seit Wochen unterwegs,
Ein Mittel aufzutreiben, das den Nebelfrosch
Samt seinem stummen Quarren fern vom Schlosse hält.

Mit welchem Horn hast du getutet?!
Ich weiß nicht mehr, mit welchem Horn!
Dann frisch geraten und vermutet!
Ich glaub, es war das Horn da vorn!
Los! Nimm dies Horn und blas es wieder!

Er bläst das Horn; das Horn macht „Tut“;
Das Böse gähnt, und legt sich nieder,
Und schläft, vergessend aller Wut.

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Philosophie am Badestrand

Abend wurde es am Strand,
Als ein Jüngling, voll bekleidet,
Dort ein nacktes Mädchen fand.

Sprach der Jüngling:

Eine Maske immer bleibt,
Die verhindert, dass sich zeigt,
Was in unserm Innern harrt,
Die uns vor uns selbst bewahrt.

Sprach das Mädchen:

Kleidung wird im Wasser nass,
Wer schwimmen will, bedenke das!

Schweigend blieb der Jüngling stehen,
Sah das Mädchen baden gehen.

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Klopstocks Schulter – Vier

Klopstock sagt:

Durch ein gutes Silbenmaß wird so viel Mannigfaltigkeit der Bewegung bestimmt, als nötig ist, genug ausdrücken zu können. Dies kann man aber nicht, wenn nicht so bestimmt worden ist, dass die Bewegung vornehmlich aus bedeutenden Füßen bestehet. In den bedeutenden Füßen liegt einesteils die metrische Kraft. Andernteils liegt sie in der durch die Bestimmung nothwendig gewordenen Wiederholung der Füße überhaupt, wobei sich von selbst versteht, dass die Rückkehr der bedeutendsten die größte Kraft habe. Das Bestimmte eines guten Silbenmaßes ist also bedeutende und wiederholte Bewegung, und dadurch hervorgebrachte doppelte metrische Kraft.

 

Klopstocks Liste der Wortfüße,
geordnet nach rhythmischer Schönheit:

32:    — v                      Träne
31:    v — v                   gelinde
30:    v —                      der Zorn
29:    — —                    Heerzug
28:    — v v v               Seligere
27:    — v v                  Fliegende

….

6:    v v v — —            Zu dem Gericht kam
5:    v v — — —          von dem Tod aufstand
4:    — v v v —           schwangen sich empor
3:    v v — —              am Olymp scholl
2:    — v v —              Donnergebrüll
1:    v v v — — —      Wo die Posaun hinscholl, und das Gebirg einsank.

 

Klopstock sagt:

Rhythmische Schönheit wirkt auf unsere Seele.

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Klopstocks Schulter – Drei

Der Ionikus ist den natürlichen Betonungsverhältnissen des Deutschen wenig gemäß. (Otto Knörrich)

Klopstocks Ästhetik des zu überwindenden Widerstands: je stärker die Stauung einer Bewegung, desto mehr lädt sie sich auf, gewinnt an Kraft; je ausgeprägter ihre Begrenzung, desto machtvoller zugleich ihr Anschwellen über diese Grenze hinweg. (Winfried Menninghaus)

 

Die Gegenüberstellung: Ionikus – Iambus

Prometheus ( v v —  — )

Nun heran ihr,
Die im Schwarm schon
Um die Felskluft,
Eure Nachtburg,
Aus dem Busch auf,
Eurem Schirmdach,
Strebend aufsummt!

Eh‘ ihr auszieht
In das Fernland,
Diesem Nachbar
Werdet hilfreich
Und befreit ihn
Vom Gewaltschlag
Wilder Rachlust!

Krieger ( v — v — )

Der Ruf des Herrn,
Des Vaters, tönt;
Wir folgen gern,
Wir sind’s gewöhnt;
Geboren sind
Wir all‘ zum Streit,
Wie Schall und Wind
Zum Weg bereit.

Wir ziehn, wir ziehn
Und sagen’s nicht;
Wohin? wohin?
Wir fragen’s nicht;
Und Schwert und Spieß,
Wir tragen’s fern,
Und jens und dies,
Wir wagen’s gern.

(Johann Wolfgang Goethe, Pandora)

 

Klopstock sagt:

Silbenmaß ist Mitausdruck durch Bewegung.

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Klopstocks Schulter – Zwei

Dass ihn etwas bewege, dies ist das heißeste Dürsten
Unseres Geistes; er liebt alles, was so ihn erquickt.

(Klopstock)

 

Klopstock sagt:

Wortfüße bestehen nicht immer aus einzelnen Wörtern, sondern oft aus so vielen, als, nach dem Inhalte, zusammen gehören, und daher beinah wie ein Wort müssen ausgesprochen werden. Dieser Hexameter:

Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschar

hat vier Wortfüße.

— v v  — Schrecklich erscholl
v v  — v v der geflügelte
— v v  — Donnergesang
v v — — in der Heerschar.

Der Zuhörer hört nur die Wortfüße: und fällt, nach diesen allein, sein Urteil über den Vers.

ta ta TAM TAM / in der Heer-schar / v v — — / ta ta TAM TAM

 

Klopstock fragt:

Sie kennen den schönen Rhythmus des Jonikus?

 

Johann Heinrich Voss: Der Zauberanblick (1.Strophe)

v v — —, v v — —, v v — —, v v — —
v v — —, v v — —, v v — —, v v — —
v v — —, v v — —

O du Jungfrau, die so altklug aus der Kindheit du hervorblühst
Wie das Röslein in dem Stirnhaar, und mich anlachst, wie gereift schon
In dem Liebreiz Afroditas:

ta ta TAM TAM

 

 

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Klopstocks Schulter – Eins

Klopstock sagt:

Die Wortbewegung ist die Hauptsache, worauf es in der Verskunst ankommt.

 

Bellhumor im Garten begraben

Windfänger, Steigedach, Teichmesser, Entenfechter,
Luftspringer, Wagehals, Grundfischer, Flutverächter,
Steinträger, Büchsenhold, Nachtwächter, Bettlerfeind,
Zeitkürzer, Stundendieb, Lustmacher, Gästefreund,
Bringwieder, Tragenach, Postrenner, Suchverloren,
Klug von Verstande, zart von Nas und schön von Ohren,
Türöffner, Sperretor, Feldmauser, Schlüsselheld,
Wildstörer, Katzenmord, Wettlaufer, Springinsfeld:
Dies war mein wahrer Ruhm. Doch werden, die mich missen,
Noch mehr von kluger Treu mir nachzusagen wissen.
Als ich von Jahren satt mein müdes Leben schloß,
Gab mir Pomona selbst ein Grab in ihrem Schoß.

(Hans Assmann von Abschatz)

 

TAM ta TAM, TAM ta TAM, TAM ta TAM, TAM ta TAM,

Steigedach, Wagehals, Büchsenhold, Bettlerfeind

TAM ta TAM,  — v —, TAM ta TAM, — v —

Stundendieb, Gästefreund, Tragenach, zart von Nas

— v —, — v —, — v —, — v —

Sperretor, Schlüsselheld, Katzenmord, Springinsfeld

 

Klopstock sagt:

Die Silben sind lang, wenn sie Hauptbegriffe, und kurz, wenn sie Nebenbegriffe ausdrücken. Das Wort Ruf ist lang. In Rufes ist die Silbe Ru lang, und die Silbe fes ist kurz.

 

TAM TAM ta, TAM TAM ta, TAM TAM ta, TAM TAM ta,

Wind-fänger, Teich-messer, Luft-springer, Grund-fischer

TAM TAM ta, — — v, TAM TAM ta, — — v

Steinträger, Nachtwächter, Zeitkürzer, Lustmacher

— — v, — — v, — — v, — — v,

Bringwieder, Postrenner, Türöffner, Feldmauser

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Das Königreich von Sede (5)

Eingebettet in Stille, umhüllt von bäumischem Dämmer
Endlich, endlich! den Schrei der Grübeleule zu hören,
Just wenn des Daseins Zweck dem sinnenden Vogel sich aufschließt:
Hat sich des Königs Seher, hat Pulverfass sich begeben
Tief in den alten Wald, in sein Herz, zu den Bäumen der Vorzeit.
Alle die Stunden ging er des Tags, und wurde der Welt fremd;
Alle die Stunden saß er der Nacht, ein unendliches Lauschen;
Hört, was zu hören sein Wunsch war, und ahnt, was am Grunde des Schreis ruht.

Traurig kehrte zurück aus dem Wald, und fröhlich! der Seher,
Pulverfass, der nah am Tintenfässchen die Schatten
Hinter sich ließ der Bäume, die Kneipe betrat; und nach Wein rief.

Wein war verlangt, und Wein ward gebracht, und immer noch mehr Wein,
Bis zu Beginn der Nacht, im Licht des Monds und der Sterne,
Pulverfass, der Seher, von Wein und von Ahnungen trunken,
Heimwärts wankte, und schwankend kam: hin zum Trinkerschicksal,
Einer Verzweigung des Wegs, so genannt, weil der Weg hin zum Schlosstor
Links von ihr abging, rechts jedoch: der zur Jauchegrube.
Kehrte ein Zecher heim vom Tintenfässchen, so gab ihm,
gab dem gesamten Schloss nicht anzuzweifelnde Antwort
Auf die Frage, ob angeheitert, ob völlig besoffen
Er sich der Heimat nährt: die mit Weisheit gesegnete Gablung.

Antwort gab sie auch diesmal, gab Pulverfass ihre Antwort
Und dem gesamten Schloss, als hoch auf die Mauern, zur Wache:
Jauche, in die etwas stürzt, und ein angewiderter Schrei drang.

Wenige Schritte entfernt, am Graben, hatte Prinz Klappstuhl
Dieses vernommen; er riss sein Denken vom Denken der Frösche
Los und rannte zur Grube, und holte dabei aus der Tasche:
Wäschekammern, ein Paar. Ein solches trug jeder, dem einmal
Antwort gegeben hatte der Gabelung tiefere Weisheit,
Bei sich. Die eine drückte der Prinz auf die eigene Nase;
Streckte die Hand aus und zog den Seher mit Schwung aus der Grube;
Nahm dann die zweite und setzte sie Pulverfass auf die Nase.
Schweigend standen sie nun, und kamen zu Atem; doch schließlich
Fragte der Prinz, die Stimme erfüllt von leicht näselnder Neugier:

„Sag mal – ein Seher zu sein, was bringt das, wenn solcherlei … Unglück
Nicht vorhersehbar ist, und also nicht zu verhindern?“

„Klappstuhl, Junge“, begann nicht nur näselnd: auch lallend der Seher,
„Alles vorherzusehen, verlangte, zu jeder Minute
Über die Kugel gebeugt zu schauen die eigene Zukunft;
Aber was gäb’s dann zu sehen? Nur mich, der ich über die Kugel
Hingebeugt bin, und mich drin sehe, wie über die Kugel …“

Pulverfass verstummte, und während der Prinz noch versuchte,
Schlau zu werden aus dem, was der Seher ihm eben verkündet:
Trat ihm dieser so fest, wie sein Rausch es irgend erlaubte,
Auf den Fuß, und ein Schrei! drang, laut und vernehmlich, zum Schloss hin,
Drang auch zum Tintenfässchen, und weiter zum alten Wald noch,
Tief hinein, nun schon leis‘, und doch zweifelsfrei: eine Antwort.