Das Königreich von Sede (16)

Prinz Klappstuhl geht an einem Feld entlang,
Das eine hohe Feldsteinmauer säumt,
Davor ein Frosch sitzt und den Prinzen mustert;
Der hält und mustert seinerseits den Frosch,
Und als sich Frosch- und Menschenblick begegnen,
Fühlt sich der Prinz von einem Lied erfüllt,
Ganz fremd und nicht von dieser Welt, und singt es –

Hinter der Mauer,
Hinter den Steinen,
Kauert die Trauer –
Hörst du sie weinen?

– Und mit dem letzten Ton entspringt der Frosch.
Der Prinz jedoch weiß nicht, was er gesungen
(Wen sich das Froschorakel wählt zur Stimme,
Der ist nicht Aug‘, nicht Ohr, ist nur Gesang),
Und geht, nicht ahnend, dass die Feldsteinmauer
Prinzessin Sofarosa ihm verbirgt,
Die sich verlaufen hat und schlimm zerkratzt
Von Dornen, und mit Blasen an den Füßen
Im Mauerschatten Kühlung sucht: und schläft.

Bücher zum Vers (7)

Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte

Das ist ein älteres Werk: erschienen bei deGruyter in den 1920ern, nachgedruckt Ende der 1960er … Wer es irgend in die Hände bekommen kann, zum Beispiel über eine größere Bibliothek, sollte aber trotzdem einen Blick hineinwerfen, und das aus zwei Gründen:

– Einmal schlicht des Inhalts wegen. Die „Deutsche Versgeschichte“ ist dreibändig und widmet sich dem deutschen Vers in wirklich allen Einzelheiten, es gibt also unglaublich viel Wissenswertes zu erfahren! Wobei es in den meisten Fällen wahrscheinlich ausreicht, sich mit dem dritten und letzten Band zu beschäftigen; denn dessen Thema ist fast ausschließlich „Der neudeutsche Vers“, also die Art Vers, die auch heute noch eine Rolle spielt.

– Zum anderen Andreas Heuslers wegen. Heusler war einer der wirkmächtigsten Metriker des 20. Jahrhunderts, und viele andere Verfasser haben sich auf das, was er geschrieben hat, bezogen – weiterführend, ablehnend, abwandelnd; auf jeden Fall so, dass es wirklich hilfreich ist, zu wissen, wo all diese Gedanken und Begriffe ihren Ursprung haben!

Heuslers Darstellung ist manchmal etwas trocken, langweilig dagegen nie; und wenn man auch nicht sofort alles versteht, was er darzulegen versucht, so ist doch immer mehr als genug zu erfahren. Kein Grund also, sich vor seinen manchmal gewöhnungsbedürftigen Begrifflichkeiten zu fürchten!

Erzählformen: Das Sonett (1)

Der Verserzähler stellt fast ausschließlich Verse und Formen vor, die auf den Reim verzichten; Verserzählen im 21. Jahrhundert wird, wenn überhaupt, meiner Meinung nach in ungereimter Form eher wahr- und aufgenommen als in gereimter. Zwei Ausnahmen möchte ich aber doch machen, und die eine davon ist: das Sonett.

Das Sonett kann vieles; und es kann ohne Zweifel auch erzählen! Sicher wird man beim Begriff „Sonett“ zuerst eher an das „Ich-Sonett“ denken, in dem ein „Ich“ über Liebe, Vergänglichkeit und Tod nachdenkt, oder sein Leiden an der Welt schildert, oder in Worte fasst, was immer sonst ihm widerfährt; aber der Sonett-Raum von vierzehn fünfhebigen Versen ist auch groß genug und geeignet, um eine wirkliche, echte Geschichte sogar recht ausführlich zu erzählen!

Ein inzwischen schon klassisches Beispiel für ein solches Erzähl-Sonett kann „Gold“ gelten, das erste der „Kriminalsonette,“ die von Ludwig Rubiner, Livingstone Hahn und Friedrich Eisenlohr verfasst worden sind und gerade ihren 100. Geburtstag gefeiert haben.

 

Gold

FRED wird in einem braunen Tabakballen
Vom Hafen auf die Zollstation getragen.
Dort schläft er, bis die Schiffsuhr zwölf geschlagen.
Erwacht und schleicht sich in die Lagerhallen.

Am Gold-Depot, wo trunkne Wächter lallen,
Lässt er den kleinen Mörtelfresser nagen,
Bis wie beim Kartenhaus die Mauern fallen.
Dann lädt er Gold in einen Grünkohlwagen.

Als Bauer fährt er sächselnd durch den Zoll.
Doch dort verraten ihn zwei blanke Barren.
Berittne jagen den Gemüsekarren.

Fred sinnt verwirrt, wie er sich retten soll.
Da sitzt DER FREUND in hoher Eberesche
Und schießt ihm pfeiferauchend eine Bresche.

 

Eine Geschichte, ganz im Ton der Zeit um 1910; aber eben eine Geschichte! „Gold“ habe ich auf http://www.rubiner.de/ gefunden, wo auch sämtliche anderen Kriminal-Sonette nachgelesen werden können.

Ohne Titel

Die Beine wollen tanzen,
Der Kopf will seine Ruh –
Die Teile eines Ganzen
Sind immer Ich und Du.

Erzählverse: Der iambische Trimeter (6)

Ich möchte noch einmal kurz auf den Einschnitt, die Zäsur des Trimeters zurückkommen!

1740 war Johann Elias Schlegel einundzwanzig Jahre alt und noch Student in Leipzig. In dieser Zeit hat er Aristophanes übersetzt, in Trimetern; und auch ein eigenes „Lustspiel“ in dieser Versart verfasst, „Die entführte Dose“. Dessen Anfang liest sich so:

FOPPENDORF
Triumph, Herr Bruder! Rufe doch; Triumph, Triumph!

GLOCKE
Von Herzen gerne. Tausend, tausendmal Triumph!
Triumph, mein werter, allerliebster Foppendorf!
Triumph noch einmal! – Aber nun sei auch so gut,
Und lass mich wissen, warum ich Triumph geschrien?

Ein etwas alberner Einstieg, vielleicht; den ich trotzdem mag. Wichtiger ist aber, vom Vers aus gedacht, der Umstand, dass die sehr deutlichen Einschnitte des Verses (erkennbar an den Satzzeichen) immer hinter der fünften Silbe liegen! Und das ist nicht nur zufällig bei diesen fünf Versen so, sondern das ganze Stück hindurch. Diese Festlegung der eigentlich beweglichen Zäsur macht den Vers starr, er bewegt sich anders, als wenn der Einschnitt auch immer mal wieder nach der siebten Silbe erfolgt, oder gar zwei Zäsuren vorhanden sind (Beispiele haben die früheren Trimeter-Einträge)!

Eine solche Starrheit kann gefährlich sein, weil sie das Ohr leicht langweilt und die Aufmerksamkeit von Leser und Hörer nicht gehalten werden kann. In einem lustigen Wechselgespräch, wie es diese fünf Verse enthalten, fällt das vielleicht gar nicht auf; aber in ruhigeren, längeren Abschnitten macht sich das doch bemerkbar.

Foppendorf „triumphiert“, weil er von seiner Angebeteten etwas, nun ja: „erobert“ hat, wie er es nennt, oder „ein mit Gewalt entführtes Geschenk“.

GLOCKE
Das ist was Neues! Ein Geschenke, das man stiehlt.
Was ist es aber?

FOPPENDORF
                                                 Eine Dose! Denke doch!
Ach lieber Bruder! Eine Dose, die so oft
Den schönen Händen tausend Zeitvertreib gemacht;
Aus der sie schnupfte, wenn ihr was zuwider war;
Mit der sie spielte, wenn sie in Gedanken saß;
Die schöne Dose! die kein Silber und kein Gold,
Und keine Bänder zu bezahlen fähig sind;
So viel ich immer bei den Mägdchen lange Zeit
Geraubt, erbettelt, aus den Winkeln vorgesucht.
Von nun an rühr ich keine Dose weiter an;
Nur die ist würdig, dass sie mich zu niesen macht.

Da lässt es sich diese Auswirkung der festen Zäsur vielleicht schon besser ahnen?! Noch deutlicher zu hören ist sie am Anfang von Schlegels „Gärtnerkönig“ – der angesprochene „Alexander“ ist „der Große“:

HEPHÄSTION
Hier, Alexander, zeig ich dir den Helden an,
Den zu erwählen mir dein Wink befohlen hat.
Das reiche Sidon, das um einen König fleht,
Wünscht diese Hände, die das Grabscheid hart gemacht,
Durch seinen Zepter würdiger gebraucht zu sehn.
In seinen Adern fließt noch altes Königsblut,
Das selbst die Armut nicht beflecket noch erstickt.
Und seine Tugend hat die Ehrfurcht ihm verschafft,
Die man dem Glücke sonst nur zu bezeigen pflegt.
Der Sitten Einfalt und der Worte Niedrigkeit,
Die er als Gärtner stets nach seinem Stande misst,
Umhüllt vergebens die vortrefflichste Vernunft.
Des Geistes Adel glänzt verkleidet noch hervor,
Durch Gärtnerlippen redet eines Helden Herz.

Das ist … langweilig. Was sicher auch an der Wortwahl liegt, aber eben auch am Vers, der sich nie wirklich deutlich ausprägt in seiner Bewegung, und vor allem nicht abwechslungsreich gliedert dabei.

Johann Elias Schlegel ist früh gestorben, mit Dreißig; seine Werke hat dann sein Bruder Johann Heinrich Schlegel herausgegeben. „Die entführte Dose“ in Ausschnitten, vom „Gärtnerkönig“ nur die oben zu lesenden Verse. Zu denen schreibt Johann Heinrich in Bezug auf den festen Einschnitt nach der fünften Silbe:

Dadurch wird der Ausgang der Zäsur weiblich, oder so, dass er den Akzent immer in der vorletzten Silbe hat. Das Ausgang des Verses ist dagegen stets männlich gemacht worden, und dadurch unterscheidet sich beständig die zweite größere Hälfte des Verses von der ersten. Doch eben dieses scheint mir schon zu viel Monotonie zu haben, und es würde, wo ich nicht irre, eine völlige Freiheit besser gewesen sein, weil eine so regelmäßige, in jedem Vers vorkommende Abwechslung den Wert der Mannigfaltigkeit verliert.

Dem schließe ich mich an. Na ja, bis auf die „völlige Freiheit“, vielleicht; denn ich denke, das beste Verhältnis zwischen der dem Ohr erfreulichen „Wiedererkennbarkeit“ und der genauso erfreulichen „Abwechslung“ erreicht man, wenn man wechselt zwischen Zäsuren nach der fünften Silbe und Zäsuren nach der siebten Silbe; und immer mal wieder einen ganz anders zäsurierten Vers einfließen lässt!

Soviel dazu; im nächsten Trimeter-Eintrag steht dann wieder ein „wirklicher“ Erzähltext an, bei dem ich ein Auge auf den Zeilensprung haben möchte.

Das Königreich von Sede (15)

Drei Rosen

Eingesunken lag Schloss Sede,
Lag in Schnee und Nacht versunken,
Als Prinzessin Sofarosa,
Sich vom Fenster wendend, seufzte.
„Schemel“, sagte sie zum Narren,
Zu des Königs altem Narren,
Der in ihren Räumen weilte,
Gegen der Prinzessin Schwermut
Anzusingen, anzuspielen
Auf der Laute, liederkundig –
„Schön ist dein Gesang und tröstlich,
Doch im Dunkel geht verloren,
Doch in Eis und Schnee verliert sich,
Was, die Einsamkeit zu mildern,
Zu versüßen Not und Mangel
Fremder Länder, alter Zeiten
Dichter uns an Worten schenkten:
Winter ist es, Winter bleibt es!“
Schemel ließ sein Lied verklingen,
Und auf seiner treuen Laute
Saiten ruhten nun die Finger,
Da der Narr all dies bedachte,
In der Winternacht bedachte;
Auf hob er sodann die Hände,
Schlang sie umeinander, schlang sie
Ineinander, dass die eine
Fort zu sein schien, dann die andre
Aus der Welt, und der Prinzessin
Schien das ganz und gar natürlich
Und zur gleichen Zeit unmöglich –
Nahm die Hände auseinander,
Bot sie der Prinzessin. Siehe!
Rosen lagen in den Händen,
In des alten Narren Händen
Bargen sich drei junge Rosen,
Rot, und weiß, und rosafarben.
„Stell die rote dir ans Fenster,
Dass dein Blick, der in den Schnee geht,
Feuers Wärme mit sich führe;
Stell die weiße an dein Bett dir,
Dass im Traum du Frieden findest;
Steck die rosa an den Busen,
Dass in Schönheit ihr vereint seid.“
Lächelnd tat wie ihr geheißen
Die Prinzessin, und sie fragte:
„Woher stammen diese Rosen,
Frische Rosen, die im Winter
Deine leeren Hände füllten?“
„In den nächsten Sommer griff ich“,
Gab der Narr ihr leise Antwort,
„Nahm des nächsten Sommers Rosen,
Damit deinen Schmerz zu lindern;
So ist dieser Winter reicher,
Und so wird der nächste Sommer
Ärmer sein; Um diese Rosen.“
Sprachs, und griff nach seiner Laute,
Und begann erneut zu spielen,
Sehnsuchtsvolle Dissonanzen,
Voller Würde, ohne Heimat.

Das Ein-Vers-Gedicht (2)

Will man ein Ein-Vers-Gedicht schreiben, ist der Hexameter eine gute Wahl: Er ist mit bis zu 17 Silben ein Langvers, und durch die Auswechselbarkeit von zwei- und dreisilbigen Versfüßen sehr abwechslungsreich, eine Eigenschaft, die durch die verschiedenen möglichen Zäsuren noch verstärkt wird (Einzelheiten kennen die Beiträge aus der Kategorie „Hexameter“!).

Ein Beispiel liefert wieder Friedrich Rückert:

 

Leichter hinein als hinaus, und leichter hinab als hinauf gehts.

 

Ein einwandfreier Hexameter, wieder aus Rückerts Liedertagebüchern. Der folgende Hexameter stammt allerdings nicht aus einer Gedichtsammlung:

 

Gottslohn! sagte der Bettler; da fiel ihm das Brot durch die Kiepe.

 

Ein vollkommener Hexameter, der aber aus den Aphorismen von Wilhelm Busch stammt; aus Prosa-Texten! Also strenggenommen kein Gedicht?! Eigentlich nicht, aber ich bin doch stark dafür, hier zumindest das Gastrecht gelten zu lassen. Hexameter bilden sich eben immer mal wieder zufällig in Prosatexten; und auch ein zufälliger Vers ist zuallererst ein Vers, und erst dann zufällig!

Beim dritten Beispiel dieses Beitrags gibt es wieder keinerlei Zweifel, der Hexameter steht in Johann Wolfgang Goethes gesammelten Gedichten!

 

Blumen reicht die Natur, es windet die Kunst sie zum Kranze.

 

Und wie es sich für einen Dichterfürsten gehört – nicht wie der Hexameter Rückerts eine schlichte Wahrheit aussprechend, und nicht wie der Hexameter Buschs eine leicht rätselhafte Szene vorstellend kommt Goethes Vers vollendet geformt und erkennbar sinnschwer daher …