Erzählformen: Das Sonett (4)

Korf und Palmström
wetteifern in Notturnos

– schreibt Christian Morgenstern über zwei Gedichte, eins mit „v. K.“ unterzeichnet, eins mit „P.“; das Korfsche Werk ist dabei ein durchaus bemerkenswertes Sonett:

 

Die Priesterin

Nachdenklich nickt im Dämmer die Pagode …
Daneben tritt aus ihres Hauses Pforte
T’ang-ku-ei-i, die Hüterin der Orte
vom krausen Leben und vom grausen Tode.

Aus ihrem Munde hängt die Mondschein-Ode
Tang-Wangs, des Kaisers, mit geblümter Borte,
in ihren Händen trägt sie eine Torte,
gekrönt von einer winzigen Kommode.

So wandelt sie die sieben ängstlich schmalen
aus Flötenholz geschwungnen Tempelbrücken
zum Grabe des vom Mond erschlagnen Hundes –

und brockt den Kuchen in die Opferschalen –
und lockt den Mond, sich auf den Schrein zu bücken,
und reicht ihm ihr Gedicht gespitzten Mundes …

 

Ein Erzähl-Gedicht?! Auf seine Weise: Allemal.

Erzählverse: Der Knittel (3)

Theodor Fontane hat viele Gedichte in Knittelversen geschrieben, und dazu zählen auch einige seiner berühmtesten Balladen. Auf die muss hier wie auch später noch eingegangen werden; aber als „eigentlichen“ Text dieses Eintrags möchte ich ein weniger bekanntes, kurzes  Gedicht Fontanes vorstellen:

 

Ikarus

Immer wieder dieselbe Geschichte:
Siege, Triumphe, Gottesgerichte.

Wem jeder Sprung, auch der kühnste, geglückt,
Der fühlt sich dem Gesetz entrückt,
Er ist heraus aus dem Alltagstrott,
Fliegen will er, er ist ein Gott;
Er fällt dem Sonnengespann in die Zügel, –
Da schmelzen dem Ikarus die Flügel,
Er flog zu hoch, er stürzt, er fällt,
Ein neu Spektakelstück hat die Welt,
Eben noch zum Himmel getragen …
Apollo, zürnend, hat ihn erschlagen.

 

Auch das kein übermäßige schwieriges Stück in seinem formalen Aufbau – alles liest sich ganz selbstverständlich. Nur einmal gilt es, eine Entscheidung zu treffen: Ein neu Spektakelstück hat die Welt lässt zwei Lese-Möglichkeiten zu:

Ein neu Spektakelstück hat die Welt,

Ein neu Spektakelstück hat die Welt,

– Aber da mag jeder entscheiden, wie er will und nach seinem Geschmack, denn eine gute Bewegungslinie ist hier wie da gegeben?!

Der fühlt sich dem Gesetz entrückt, / Er flog zu hoch, er stürzt, er fällt, – das sind zwei streng alternierende Verse. Die gibt es selbstredend auch in Knittelgedichten! Aber eben nur zufällig, oder besser gesagt: Als eine von vielen Möglichkeiten, die einem Vers mit vier betonten Silben offenstehen.

(Etwas erstaunt bin ich über das zweimalige „Stottern“: heraus aus / er, er – aber auch das gehört wohl zu den bewussten Nachlässigkeiten, an denen es dem Knittel nicht mangelt.)

 

Über Fontanes große Balladen kann man sich eigentlich überall schlau machen. Ich hänge hier trotzdem noch zwei Lesungs-Links an:

Lutz Görner: Die Brück am Tay, John Maynard, Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Otto Sander: Die Brück am Tay

Görner trägt vor allem die „Brück“ sehr, na ich sag mal: ausdrucksstark vor; kann man bestimmt machen. Sanders Lesung habe ich als Vergleichsmöglichkeit dazugestellt, ganz anders, aber sehr überzeugend! Beiden Vortragenden gelingt es jedenfalls, die Knittelverse in ihrer ganzen Lebendigkeit zu vermitteln; und das Nachdenken über das Wie lohnt sich da schon, will man den Knittelversen auf die Schliche kommen?!

Zu den weniger bekannten Knittelvers-Balladen Fontanes dann ein ander Mal!

Bücher zum Vers (23)

Christoph Hönig: Neue Versschule

Den 2008 in der Reihe UTB bei Fink erschienenen Band lasse ich diesmal selbst zu Wort kommen – genauer, den Umschlagstext:

Die Neue Versschule geht von der Frage aus: Welche Kenntnisse brauchen Studierende und Schüler wirklich, um Verse analysieren und interpretieren zu können? Dieses Buch liefert das Werkzeug dazu. Ein kurzer Intensivkurs vermittelt zunächst die wichtigsten Elemente der Verslehre. 12 Lektionen erweitern Kenntnisse und Analysefähigkeiten. 8 Essays sorgen für vertieftes Wissen. Tests und eine Probeklausur ermöglichen es, den Lernerfolg selbstständig zu überprüfen. Alle Lektionen wurden in Lehrveranstaltungen vielfach erprobt und funktionieren fast von selbst, da alles einfach und klar formuliert ist.

Das stimmt halt auch alles so … Ich ergänze daher nur:

– Intensivkurs und Lektionen sind zwar solide gemacht, man findet das dort vermittelte aber genauso gut oder besser auch an anderer Stelle

– der Band ist wirklich auch für Schüler geeignet

– Wenn man nicht der Typ dafür ist, kann man sich Tests und Klausur auch einfach schenken

– Es geht tatsächlich mehr um das Verstehen und Nachvollziehen; das eigene Schreiben wird nur gestreift, sinnigerweise unter der Überschrift „Selber dichten?“; mit Fragezeichen eben

– Das gehaltvollste am Band sind sicherlich die Essays. Hier findet man manches, was zum Nachdenken anregt oder den Blick auf schon bekanntes schärft. Gut auch, dass die Essays oft eingehen auf den „mündlichen Vortrag“, „Mündlichkeit in der Dichtung“ und ähnliches.

Insgesamt jetzt kein Wunderbuch, aber wer es in die Hand bekommt, kann durchaus mal reinschauen; verschwendet wird die Zeit sicherlich nicht sein.

Das Königreich von Sede (38)

Dämmerstill, der Gott des Waldes,
Schläft im Schatten seiner Bäume
Schon seit ungezählten Jahren –
Weich auf Laub und Moos gebettet,
Zugedeckt vom Grün der Farne …
Dämmerstill, der Gott des Waldes,
Hat die längste Zeit geschlafen;
Bald schon wird er sich erheben,
Wird die Welt durchstreifen, wird sich
Einen neuen Namen geben:
Dämmerstill, der Gott des Waldes,
Erstgewordener der Götter.

Erzählverse: Der Hexameter (29)

Gotthelf Wilhelm Christoph Starkes „Der Dichter“

Worum geht es?

Während Philetes, ein Dichter, über dem Dichten die Zeit vergisst, warten seine Frau und seine Kinder mit dem Essen auf ihn. Als er endlich heimkommt, findet Philetes seinen Hund sterbend; er hat einen Happen vom Essen bekommen. Es stellt sich heraus, dass das Essen versehentlich vergiftet worden ist. Alle sind froh, mit dem Schrecken davongekommen zu sein, und Philetes dankt überschwenglich den Musen, die ihn sich haben verspäten lassen.

Das klingt harmlos, und ist es auch: Diese 77 Hexameter lange Dichtung ist ein hübsches Nichts. Brauchte Starke, einer der typischen „Dichter im Nebenberuf“ des 18. Jahrhunderts, eine Entschuldigung, weil er selbst nie pünktlich war? Wer weiß …

Man kann den Text aber trotzdem schnell mal lesen, denn Starke hat den Vers recht gut im Griff. Die Hexameter passen sich dem Inhalt an, sie sind leicht – die Versschlüsse etwa sind meist auf Silben mit schwachem „-e“ – und vor allem schnell. Ich gebe einige Verse, die den dichtenden Philetes zeigen:

 

Wonniglich ging er einher, versunken in schönen Gedanken,
Hörte der Himmlischen Gruß, die des Sterblichen Hütte besuchten,
Schwebte mit ihnen empor zum Olympos, und kostete Nektar,
Folgte dann schauernd hinab zu den Schatten dem schwebenden Hermes;
Freundlich umstrahlt ihn der Glanz von Elysiums goldenen Blumen.
Süß war seine Begeistrung, und süß sein liebendes Streben,
Ihre Gebild‘ in den Schmuck harmonischer Rede zu kleiden.

 

Das kann man fraglos einfach so runterlesen, es schmeckt und man wird doch weder satt noch fett davon. Das „hinauf – hinab“ ist aber nett gemacht, scheint mir.

„Schnell“ sind diese Verse nun, weil sie fast jede Senkung mit zwei unbetonten Silben besetzen. Wenn man die ersten vier metrischen Einheiten betrachtet, bei denen sich die Frage „Zwei- oder dreisilbig?“ ja nur stellt, ergeben sich in diesem kurzen Abschnitt 85% dreisilbige Einheiten!

Das Verhältnis von zwei- und dreisilbigen Einheiten prägt den Vers recht eindrücklich, weswegen es auch für viele Dichter bestimmt worden ist von klugen Leuten mit viel Zeit. Bei Homer etwa, dem Griechen, zählte man 68 % dreisilbige Einheiten, beim Römer Vergil 40 %; die deutschen Dichter liegen dazwischen, Voss (65 % in der „Luise“) und Klopstock (61 % im „Messias“) näher bei Homer, Goethe (49 % im „Reineke“) in der Mitte mit Neigung zu Vergil.

Starkes Werte fallen sehr aus diesem Rahmen, aber über den ganzen Text ist der Prozentsatz, wenn auch immer noch hoch, so doch sicher geringer. Seine zweisilbigen Einheiten sind, wie hier, meist an Stellen gesetzt, die zeigen, dass sie „von der Dreisilbigkeit her“ gedacht sind:

Wonniglich / ging er ein- / her, || ver- / sunken in / schönen Ge- / danken,

Süß war / seine Be- / geistrung, || und / süß sein / liebendes / Streben,

Ihre Ge- / bild‚ in den / Schmuck || har- / monischer / Rede zu / kleiden.

In zwei der vier Fälle ist die zweisilbige Einheit die Einheit, in der auch die Zäsur liegt, so dass die dort nötige Sprechpause die zweisilbige Einheit „längt“ und so den dreisilbigen annährt; einmal ist die erste Einheit betroffen (Süß war), wo der Vers am Beginn eines neuen Satzes erst einmal Fahrt aufnehmen muss und eine langsamere Einheit ganz gut passt; was dann nach der Zäsur gleich noch einmal wiederholend-wiederaufnehmend geschieht (süß sein)!  Den Versuch, wie Voss die antiken „Spondeen“ (schwer-schwer) nachzubilden, unterlässt Starke völlig, und so ist sein Gesang dann, wie der des Philetes, „süß“, den Musen geschuldet,

 

Welche den Dichter verstrickten in Banden des süßen Gesanges.

 

Wer will da noch scheiden zwischen Schreibendem und Beschriebenem …

Erzählverse: Der Knittel (2)

Das folgende Epigramm stammt von Franz Grillparzer. Sicher kein Text, vor dem man auf die Knie fallen müsste; aber dafür gut geeignet, einige der Knittel-Eigenheiten vorzustellen.

 

Politisch

Mit wem soll sich verbünden der Hase!
Der Fuchs schleicht ihm nach im Grase,
Von oben rauschen des Geiers Schwingen,
Der Bauer im Kohlfeld legt ihm Schlingen,
Und macht er sich endlich auf die Füße,
Treffen ihn des Jägers Schüsse.

 

Gleich im ersten Vers stellt sich die Frage, welche vier Silben betont sind?! –bün– und Ha-, sicherlich; aber am Versanfang sind die Dinge weniger klar. Wie wäre es mit dem vom alternierenden Vers gewohnten „Auf und Ab“?

Mit wem soll sich verbünden der Hase!

Das ginge vielleicht; aber ist nicht das Hilfsverb „soll“ ein wenig schwerer als das Pronomen „sich“?! Und vor allem: Da der Knittel sich stärker am Satz und dessen Bedürfnissen ausrichtet, und da der Satz hier doch wohl so etwas aussagen soll wie „Es geht überhaupt nicht!“, trägt für mich das „soll“ die zweite Betonung, denn nur dann sagt der Satz genau das aus! Also:

Mit wem soll sich verbünden der Hase!

Da stoßen dann zwei betonte Silben aufeinander, aber das ist im Knittel nichts besonderes. Muss hier im ersten Vers noch gegrübelt werden, ist die Lage im zweiten klar:

Der Fuchs schleicht ihm nach im Grase,

– Da beträgt die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den betonten Silben Fuchs und schleicht – null. Auch das ist im Knittel kein Grund zur Aufregung, solange eine sichere, starke Versbewegung da ist!

Der dritte und der vierte Vers bieten wenig ungewöhnliches:

Von oben rauschen des Geiers Schwingen,
Der Bauer im Kohlfeld legt ihm Schlingen,

Dafür ist das dritte und abschließende Verspaar wieder einen genaueren Blick wert!

Und macht er sich endlich auf die ße,
Treffen ihn des gers Schüsse.

Da ist einmal der betonte Eingang in Vers sechs – die ersten fünf Verse begannen bei allen Unterschieden ausnahmlos mit einer Unbetont-Betont-Folge; der Schlussvers setzt betont ein und ist, da er auch gänzlich auf doppelt besetzte Senkungen verzichtet,  eigentlich ein trochäischer Vierheber!

Zum anderen fällt der nicht gerade saubere Reim „Füße – Schüsse“ auf. Auch das gehört zum Knittelvers, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Härten beim Reim trägt zu dem oft etwas rauen, unebenen Erscheinungsbild des Verses bei!