Bücher zum Vers (22)

Lucie Schädle: Der frühe deutsche Blankvers unter besonderer Berücksichtigung seiner Verwendung durch Chr. M. Wieland. Eine versstilistische und literaturhistorische Untersuchung.

Zum Glück liest sich dieser Band keineswegs so umständlich, wie es sein langatmiger Titel vermuten lässt. Es geht um die Umstände und Bedingungen, die dazu geführt haben, dass der Blankvers im Deutschen heimisch werden konnte. Daher bildet eine Übersicht über die Entwicklung des  englischen Blankverses den Anfang; daran schließt sich eine Zusammenfassung der ersten Versuche eines deutschen Blankverses an, ehe dann über Ewald von Kleist und Lessing (Nathan!) schließlich „Wielands Blankverskunst“ in den Einzelheiten vorgestellt und besprochen wird.

Der Leser hat bei diesem Buch zweierlei Gewinn, denke ich: Einmal erfährt er vieles über die Dinge, die der Blamkvers ausmachen; und zum zweiten ist er gleichsam zugegen in einem der sehr spannenden Augenblicke, in denen etwas neues in der deutschen Dichtung Fuß fasst, wächst und sich entwickelt – gegen Widerstände, gegen das Alte, in Versuch und Irrtum; und schließlich fertig dasteht und schaffen und wirken kann. Das Wie und Warum dieses Vorgangs zu verstehen verschafft manche neue Einsicht!

Erschienen ist der Band 1972 bei Kümmerle.

Erzählverse: Der iambische Trimeter (10)

Der Trimeter kann viel. Er kann erzählen; er kann aber auch epigrammatisch gebraucht werden, wie zum Beispiel Friedrich Rückert zeigt in vielen seiner Einträge in die Liedertagebücher.

 

Ein junges Herz nimmt mit der ganzen Welt es auf;
Wie groß die Welt, wie klein ein Herz ist, weiß es nicht.

 

Ein gänzlich rundes, gänzlich geschlossen wirkendes Verspaar?! Diesen Inhalt hätte man sicher auch in ein klassisches Distichon gießen können, das mit Hexameter & Pentameter dem Eindruck der Reihung auch auf der Formseite entgegenwirkte; aber Rückerts Trimeter schaffen das alleine über den Inhalt.

 

Der höchst erfindungsreichen Zeit Erfindungen
Bezwecken eines, dass der Reichtum reicher sei;
Dass reich die Armut würde, wer erfände das!

 

Drei Verse, die ersten beiden durch einen Zeilensprung zu einer Einheit verbunden; dagegen abgesetzt der dritte, schließende Vers. (Der Inhalt ist heute so frisch wie zu Rückerts Zeiten; vielleicht frischer und drängender …)

 

Wir gehen eine Weil‘ auf unserm Grab umher,
In welchem andre liegen, die vergehn, damit
Uns werde Raum zu liegen, und wir legen uns
Ins Grab hinein, und andre gehn darauf umher.

 

WIederholungen, die allem Form geben, wodurch auch die Zeilensprünge nichts zerreißen; und zum Schluss die Wiederaufnahme des Schlusses des ersten Verses.

 

Der süße Mai hat dieses Jahr nicht seine Kraft,
In Wonnetraum ein Herz zu wiegen mit Gesang
Der Nachtigallen; denn inzwischen schreit die Not
Ums teure Brot. Was hilft der Apfelblüten Duft?
Drei lange lange Monde sinds zur Ernte noch.

 

Frage im vorletzten, Antwort im letzten Vers. Seltsam der Reim „Not-Brot“?! Auf jeden Fall gibt Rückert hier bedenkenswerte Beispiele, wie man auch aus lauter gleichen Versen schöne, geschlossen wirkende Epigramme bauen kann. Bei mehr als fünf Versen fehlt vielleicht schon die Knappheit, die ein solches Epigramm anziehend macht; aber auch die etwas längeren Trimeter-Texte Rückerts sind sehr lesenswert, wer die Zeit findet, sollte sie sich anschauen!

Erzählverse: Der Hexameter (28)

Johann Wolfgang Goethes „Erste Epistel“

 

Jetzt, da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur
Ungeduldig durchblättern und, selbst die Feder ergreifend,
Auf das Büchlein ein Buch mit seltner Fertigkeit pfropfen,
Soll auch ich, du willst es, mein Freund, dir über das Schreiben
Schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden,
Dass auch andere wieder darüber meinen und immer
So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze.

 

So geht sie los, Goethes Ende 1794 geschriebene „Erste Epistel“. Es ist das erste Gedicht, das während der Zusammenarbeit mit Schiller geschrieben wurde, und es eröffnete das erste Heft von Schillers berühmter Zeitschrift, den „Horen“. Die auf sie folgenden Schillerschen Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ sind, wie man bei diesem Titel und bei ihrem Autor schon vermutet, nicht eben heiteren Tons; Goethe dagegen führt im Brief an seinen „Freund“ eine fröhlich-unbeschwerte Sprache. Er redet über die Möglichkeiten der Literatur, und so ganz kann er Schillers Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen durch das Wort nicht teilen:

 

Reden schwanken so leicht herüber hinüber, wenn viele
Sprechen und jeder nur sich im eigenen Worte, sogar auch
Nur sich selbst im Worte vernimmt, das der andere sagte.
Mit den Büchern ist es nicht anders. Liest doch nur jeder
Aus dem Buch sich heraus, und ist er gewaltig, so liest er
In das Buch sich hinein, amalgamiert sich das Fremde.
Ganz vergebens strebst du daher, durch Schriften des Menschen
Schon entschiedenen Hang und seine Neigung zu wenden;
Aber bestärken kannst du ihn wohl in seiner Gesinnung
Oder, wär er noch neu, in dieses ihn tauchen und jenes.

 

Tscha. Aber schön ausgedrückt!

Ich mag Goethes Hexameters wirklich. Diese hier auch, obwohl sie nun nicht unbedingt das beste sind, was Goethe in dieser Versart geschrieben hat. Leicht und plaudernd (wie es sich für eine Epistel natürlich auch gehört ein Stück weit), und fast ganz frei von den griechischen Anklängen, die andere Verfasser so schätzten: Deutsche Hexameter im besten Sinne. Und sauber gebaut allemal. Nur manchmal sind die Verse etwas zu leicht, vor allem in der Mitte; aber na ja… Die schlussendliche Einschätzung etwa umfasst zwei Verse:

 

Sag‘ ich, wie ich es denke, so scheint durchaus mir, es bildet
Nur das Leben den Mann und wenig bedeuten die Worte.

 

Trägt im ersten Vers das „wie“ die zweite Betonung oder das „ich“? Metrisch schwer zu entscheiden… Ich bin für das „ich“, weil das erstens inhaltlich besser passt und ich, zweitens, im Zweifel immer für die (Neben-)Zäsur in der metrischen Einheit bin:

Sag‚ ich, wie / ich es / denke, || so / scheint durch- / aus mir, es / bildet

Das hat aber natürlich den Nachteil, dass „ich es“ nun wirklich eine sehr schlappe zweisilbige Einheit ist. Hm. Aber irgendetwas ist ja immer …

Das Königreich von Sede (37)

In den alten Zeiten, wenn es Sommer war, und heiß, und sich seit Tagen kein Lüftchen mehr geregt hatte, die schwitzenden Menschen abzukühlen – wenn dann, ganz plötzlich, ein Wind aufkam, und einige Augenblicke wehte, und schon stand die Luft wieder still; dann hockten sich alle hin, jung wie alt, und sangen:

„Der da stumm singt, der Frosch – springt!“

Und bei „springt!“ machten alle einen Frosch-Sprung, denn der Glaube war, der große Frosch sei über sie hinweggesprungen, und der plötzliche Wind der dabei entstandene Luftzug; und wer bei „springt!“ sprang, ja nicht zu früh, ja nicht zu spät! – dem war das Glück hold das ganze Jahr hindurch.

Erzählverse: Der Knittel (1)

Mit „Knittel“ ist die Art des Knittelverses gemeint, die seit Goethes Zeiten wieder vermehrt in der deutschen Dichtung gebraucht wurde; der „alte“ Knittelvers aus dem 15. und 16. Jahrhundert soll dagegen nur am Rande erwähnt werden.

Ein Knittel ist, rein von der Bauweise her, sehr schnell beschrieben, denn es gibt nur zwei Regeln:

– Der Knittel ist ein Reimvers. Für gewöhnlich wird der Paarreim verwendet, aber alle anderen Reimformen sind genauso möglich.

– Der Knittel enthält vier Hebungsstellen, also vier betonte Silben; die Anzahl der unbetonten Silben ist sowohl am Versanfang als auch im Versinnereren frei: Keine, eine, zwei, drei – alles ist möglich.

Dadurch scheint der Knittel ein sehr anspruchsloser Vers zu sein. Das ist aber nicht unbedingt so, denn durch den Verzicht auf das „Auf und Ab“, das im gewöhnlichen Reimvers herrscht durch den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Silben, ergibt sich sowohl für den Verfasser als auch für den Leser die Notwendigkeit, die vier betonten Silben erst einmal aufzuspüren; wo die Betonung „sitzt“, ist nicht von vorneherein klar. Der Vers richtet sich dadurch ein Stück näher an den Anfordernissen des Satzes aus und eröffnet dem Verfasser viele neue Möglichkeiten – der Weg zum Gleichklang am Versende ist vielfältiger, die Bewegungsmuster sind zahlreicher und vielgestaltiger als im alternierenden Reimvers! Aber: Auch die Gefahren wachsen, da das Sicherungsnetz des „Auf und Ab“ fehlt und der Verfasser zum einen ein sicheres Gefühl für die Wort- und Versbewegung braucht; und zum anderen auch ein sicheres Gespür dafür, wie gut der Leser die gedachte und beabsichtigte Bewegungslinie erkennen kann und wird.

Einer, bei dem man desbezüglich keine Sorgen zu haben braucht, war Goethe. Daher hier zum Abschluss dieses ersten Beitrags ein kleiner, harmloser Text von ihm als Verdeutlichung des Gesagten; in den weiteren Beiträgen sollen dann Texte von Goethe und anderen Verfassern vorgestellt werden, die die Besonderheiten des Knittels nach und nach anschaulich machen.

 

Ein großer Teich war zugefroren,
Die Fröschlein, in der Tiefe verloren,
Durften nicht ferner quaken noch springen,
Versprachen sich aber, im halben Traum,
Fänden sie nur da oben Raum,
Wie Nachtigallen wollten sie singen.
Der Tauwind kam, das Eis zerschmolz,
Nun ruderten sie und landeten stolz,
Und saßen am Ufer weit und breit
Und quakten wie vor alter Zeit.

 

Das muss inhaltlich nicht aufgedröselt werden und macht auch formal von den Freiheiten des Knittels nur mäßig Gebrauch; wichtig ist aber, dass man böse auf die Nase fällt, will man den Versen mit der Vorstellung, mit der Erwartungshaltung eines alternierenden Reimverses beikommen – denn das geht nicht, die Betonungen, immer vier, befinden sich nicht an abzählbar dafür vorgesehenen Stellen, sondern verteilen sich; mal hier, mal da, ein wenig suchen muss man immer, bevor die Bewegungslinie steht … Aber dann ist der Text auch lebendig und schön.

Hier noch eine Lesung, von Peter Härtling:

Ein großer Teich war zugefroren

Schneewittchen

Lange bevor Schneewittchen die sieben Zwerge erspähte,
Drang aus dem dichten Wald vergnügtes Singen herüber.
„Wären all diese Berge mit ihren Graten und Klüften“,
Dachte die Königstochter, die lächelnd im Rahmen der Tür stand,
„Eine ebene Fläche, die bis in die Ferne sich dehnte;
Wären all diese Bäume mit ihren Ästen und Kronen
Gras, das vor kurzem erst der Gärtner sorgsam gemäht hat;
Sicher bezeugte die Art, wie der Zwerge ragende Hüte
Am Horizont sich zeigten, bevor ihre Träger in Sicht sind,
Einfach und leicht verständlich die Kugelgestalt des Planeten!“
Immer noch war kein Zwerg im Unterholz zu erkennen,
Doch der Klang ihrer Stimmen erscholl nun ganz in der Nähe –
Schnell ging Schneewittchen ins Haus, die Abendmahlzeit zu richten.

Bücher zum Vers (21)

Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock

Ich glaube, dies ist ein wirklich wichtiges Buch für alle, die sich mit Fragen des Versbaus beschäftigen! Im Mittelpunkt der fast 300 Seiten stehen die von Klopstock selbst entwickelten Strophenformen, und Hellmuth zeigt ausführlich, auf welchen theoretischen Grundlagen diese Strophen beruhen und welche Grundsätze Klopstock befolgt hat, als er sich schuf; und auch, wie sich Überarbeitungen bemerkbar gemacht haben. Dazu kommen noch Ausführungen über Klopstocks „stichische“ Versmaße und die metrischen Schriften Klopstocks, so dass der Gegenstand des Buches umfassend vermittelt wird. Und da Klopstocks metrische Vorstellungen sehr anregend sind für jeden Verfasser, lohnt sich das Lesen und Durcharbeiten dieses Bandes selbst dann, wenn man Klopstock in vielem nicht Recht geben möchte und kann. Ein echter Augenöffner also, und uneingeschränkt empfohlen – allerdings nur denen, die gerne mit Srich- und Hakenformeln umgehen, denn davon ist das Buch übervoll! (Erschienen 1973 bei Fink.)