Erzählformen: Das Sonett (5)

„Der Tod des Priesters“ ist ein Sonett von Franz Werfel, in seinen gesammelten Werken zu finden im Band „Das lyrische Werk“ (Fischer 1967) auf Seite 422.

 

Gesammelt und geordnet liegt er fest,
Damit kein Tropfen Sterbens ihm entgehe.
Er will, die Hände auf die Brust gepresst,
Dass wie ein Messdienst rein sein Tod geschehe.

Die schwarze Nonne, die ihn nicht verlässt,
Kniet fern. Sein Hingang duldet keine Nähe.
Sie ministriert ihm, nun der Röchelrest
Des Atems einen Psalm singt, kurz und zähe.

Sein Auge hängt mit unnachsichtiger Strenge,
In die sich fein ein sichres Lächeln löst,
Am Winkel, wo die Spinne zieht den Faden.

Er harrt, dass dort der Engel in der Enge
Die dünne Wand der Hiesigkeit durchstößt,
Um ihn gemessenen Winkes vorzuladen.

 

Die Quartette sind abab / abab gereimt, statt des häufigeren abba / abba; aber das passt zu der Art, wie viermal je zwei Verse eine Einheit bilden?! Also eigentlich ein ab / ab / ab / ab. Die Terzette reimen cde / cde, und auch hier entpricht der Satzbau dieser Reimanordnung; ein Satz, eine Aussage für jedes Terzett.

An zwei Stellen wird die strenge Alternation unterbrochen: „unnachsichtiger“, „gemessenen“. Aber zum einen schadet das nichts, ein wenig Auflockerung tut immer gut; und zum anderen kann jeder, der es doch lieber im strengen Auf und Ab tönen lassen will, „unnachsicht’ger“ und „gemess’nen“ sagen …

„Wo die Spinne zieht den Faden“ klingt etwas ungelenk?! Nicht ungelenker als vieles von Werfel – er schrieb halt so  -, aber in diesem Text fällt es doch auf und stört mich ein wenig. Aber eben nur ein wenig – insgesamt halte ich dieses Gedicht für ein starkes Erzähl-Sonett!

Friedhofsverse

Wind vergnügt sich bei den Steinen –
Neu, poliert, mit goldner Schrift,
Alt, bemoost und zugesifft –
Wind vergnügt sich bei den Steinen,
Doch es klingt wie leises Weinen,
Wenn er eine Kante trifft.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (21)

Victor von Scheffels Versepos „Der Trompeter von Säckingen“ war einmal eines der bekanntesten und meistgelesenen deutschen Bücher; heute ist er vergessen. Das sicher nicht zu Unrecht, aber  ein Blick auf die Verse und die Art, wie von Scheffel sie benutzt, lohnt doch!

Das epische Gedicht beginnt mit einer „Zueignung“. Deren Anfang geht so:

 

„Wer ist dort der blonde Fremde,
Der auf Don Paganos Dache
Wie ein Kater auf und ab geht?“
Frug wohl manch ehrsamer Bürger
In dem Inselstädtlein Capri,
Wenn er von dem Markte rückwärts
Nach der Palme und dem maurisch
Flachgewölbten Kuppeldach sah.

Und der brave Don Pagano
Sprach: „Das ist ein sonderbarer
Kauz und sonderbar von Handwerk;
Kam mit wenigem Gepäck an,
Lebt jetzt stillvergnügt und einsam,
Klettert auf den schroffen Bergen,
Wandelt zwischen Klipp‘ und Brandung,
Ein Strandschleicher, an dem Meere,
Hat auch neulich in den Trümmern
Der Tiberiusvilla mit dem
Eremiten scharf gezecht.
Was er sonst treibt? – ’s ist ein Deutscher,
Und wer weiß, was diese treiben?
Doch ich sah in seiner Stube
Viel Papier – unökonomisch
War’s nur in der Mitt‘ beschrieben,
Und ich glaub‘, es fehlt im Kopf ihm,
Und ich glaub‘, er schmiedet Verse.“

Also sprach er. – Dieser Fremde
War ich selber; einsam hab‘ ich
Auf des Südens Felseneiland
Dieses Schwarzwaldlied gesungen.

 

Das liest sich einfach so weg; sichere Verse, aber nichts besonderes?! Zu einer wichtigen Frage führt allerdings dieser Zeilensprung:

Der Tiberiusvilla mit dem
Eremiten scharf gezecht.

Ein trochäischer Vierheber endet auf einer unbetonten Silbe und beginnt mit einer betonten Silbe. Das ist manchmal nicht leicht zu bewerkstelligen, und die Versuchung ist groß, ein Paar „Artikel & Substantiv“ in der Mitte durchzuschneiden; den unbetonten Artikel noch dem einen Vers zuzuschlagen und mit dem Substantiv den anderen Vers zu eröffnen – eben „dem // Eremiten“. Das kann man sicherlich machen, ist es wie hier die Ausnahme; geschieht es öfter, beginnt aber der Vers unkenntlich zu werden! Ein Beispiel dafür aus von Scheffels „Zwölftem Stück“ – die Heldin, Margareta, besucht den verwundeten und schlafenden Helden, Werner:

 

Leise in jung Werners Stube
Eintrat jetzo Margareta,
Scheu, neugierig schauend, ob der
Arzt ihr wahre Kunde gab.
Sanft entschlummert lag jung Werner,
Blass und jugendschön, gleich einem
Marmorbildnis. Wie im Traume
Hielt er ob der Stirn‘ und ob der
Frischvernarbten Wund‘ die Rechte,
So wie einer, der das Aug‘ vor
Blendend lichter Sonne deckt;
Um die Lippen spielt ein Lächeln.

 

„Ob der Stirn“ = „über der Stirn“; wichtiger aber die gehäuften Zeilensprünge: „der // Arzt“, „einem // Marmorbildnis“, „der // Frischvernarbten“, auch: „vor // blendend“ – dadurch löst sich der Vers auf, wird dem Ohr nicht mehr erkennbar, wenn der Vortragende nicht sehr tiefe und satzfremde Pausen zur Hilfe nimmt?! Nur als Silbenzählerei – „sieben, acht, Umbruch!“ – leistet der Vers aber nichts fürs Gedicht!

Da liegt also eine Gefahr; doch kann ein solcher Umbruch auch sinnvoll genutzt werden. Einige Verse später:

 

Doch sie mischte nicht den kühlen
Heiltrank, nicht die Arzeneien:
Beugte scheu sich zu ihm nieder,
Scheu, – sie wagte kaum zu atmen,
Dass kein Hauch den Schlumm’rer störe,
Schaute lang auf das geschlossne
Aug‘, und unwillkürlich neigten
Sich die Lippen, – doch wer deutet
Mir das seltsam sonderbare
Spiel der ersten Liebesneigung?
Schier vermuten darf der Sang, sie
Wollt‘ ihn küssen: nein sie tat’s nicht,
Schreckte jäh zusammen, – seufzte, –
Schnell sich wendend, einem scheuen
Reh gleich, floh sie aus der Stube.

 

„sie // wollt'“: da ist eine Pause, samt starker Betonung auf dem „wollt'“ ja durchaus dem Inhalt entsprechend und damit angemessen?! Auch noch recht wirkungsstark ist „scheuen // Reh“; schlechter steht es um „geschlossne // Aug“, auch, weil das „Aug“, das letzte Wort aus dem entsprechenden Satz ist und unschön „überhängt“. „kühlen // Heiltrank“ ist im Rahmen?! Also: Kann man machen, aber vorsichtig sein muss man …

Erzählverse: Der Hexameter (39)

Paul Heyses „Thekla“ (7)

Die zentrale Szene der Legende, daher auch ohne große verstheoretische Unterbrechung vorgestellt!

Alles strömt ins Amphitheater, obwohl das Wetter nicht das beste ist:

 

Da schwand völlig der Mond, ein plötzlicher Sturmwind wälzte
Hinter den Bergen hervor ein Wolkengebirg, und bedrohlich,
Wie ein geborsten Gewölb, hings über den Häuptern der Menge.

 

Midas will Thekla nackt und gefesselt auf dem Scheiterhaufen sehen; das mit dem Nackten weiß aber Skyron zu verhindern, und die Fesslung ist unnötig, weil Thekla den Scheiterhaufen freiwillig besteigt und sich an den Pfahl stellt. Midas hält, die Fackel in der Hand, eine Rede, und dann:

 

Riefs und schleudert den Brand in das Fichtengestrüpp, und die Seinen
Taten es nach. Und ein Qualm stieg auf, und es schwärmten die Funken
Knisternd im Nadelgezweig.
.                                                                    Da horch! Hochher vom Gebirge
Schwang sich die Windsbraut auf und schnaubt‘ in die Tiefe. Gerölle
Riss sie vom Abhang nieder und trieb es in wütendem Wirbel
Über die Stufen hinab ins dichteste Menschengewoge.
Und sie fuhr in die Brände, zerwühlte sie, drängte mit schwerem
Odem die Gluten zurück und zerstreute die schweifenden Funken,
Dass die feurigen Zungen verloderten unten im Sande.
Doch in Purpur gehüllt, hoch unter dem Nachtfirmamente,
Raste das Wetter heran, und die Wolke zerriss, und ein Blitzstrahl
Flammte, solang wie ein Schwimmer den Hauch anhielte des Atems,
Dass in zuckendem Glanze die Nacht zum Tag sich erhellte.
Nur ein Schrei des Entsetzens erscholl ringsum in der Menge.
Denn als ließe der Berg sein felsiges Haupt von der Höhe
Rollen, den Bau zu begraben und weit zu verschütten die Ebne,
So vom Himmel erklang die betäubende Stimme des Donners
Furchtbar lange Minuten. Die Helle verschwand, und im Finstern
Dröhnte der Schall noch fort und erschütterte Mauern und Stufen.
Jetzo ein kürzerer Blitz, da brach das Gewölk, und der Regen
Prasselte laut in die Tiefe. Der Donner verscholl, von des Flutschwalls
Tosendem Heulen verschlungen. Hinaus in die ebene Landschaft
Wanderte schwer der Orkan und wälzte die Wucht des Gewitters
Über Ikonium hin und den See, und der düsteren Reise
Zeigten die Blitze den Weg.
.                                                             Im Sand, auf triefenden Sitzreihn
Lag das versammelte Volk mit geblendeten Augen und Sinnen
Wüst ineinander gewirrt. Besinnungslos in der Runde
Irrten in törichter Flucht um die Zinne des Amphitheaters
Weiber mit flatterndem Haar, am Arme die schreienden Kinder.

 

Und Thekla, in all der Verwirrung? Nun:

 

.                                                Da wagten verschüchterte Blicke
Sich vom Boden zu lösen, und sieh, in Mitten der Bühne
Stand noch immer das Opfer und wartete willig des Endes.

 

Nun gut … Und die anderen? Der Prätor kommt gerade wieder auf die Beine, da

 

Deutet er, schaudernd erwacht, mit gebrochenem Schrei an den Boden
Neben dem Holzstoß hin. Da lag zu Füßen der Leiter
Tot, das Gesicht vom Blitze verkohlt, der Kybelepriester.

 

Da scheint es mir berechtigt, zu sagen: Der Himmel hat, so oder so, sein Urteil gesprochen!

Ansonsten mal wieder eine Gewitter-Szene – zu denen scheinen sich die Dichter hingezogen zu fühlen … Eine gut gestaltete?! Hm, weiß nicht. Die Verse gefallen mir, aber inhaltlich ists natürlich schon sehr das Übliche. Na, mal sehen, wie es weitergeht – noch sind zwei Gesänge zu durchschreiten!

Das Königreich von Sede (47)

Und als der Richter sagen wollte,
Wie er die Dinge sah,
Und auch, was nun geschehen sollte,
Da:
Entstieg ein Frosch dem aufgemachten Munde,
Der schaute fröhlich in die Runde
Und quakte,
Das klang, als ob er sagte:
Nicht.
Und hüpfte fort aus dem Gericht.

Bücher zum Vers (31)

Udo Pillokat: Verskunstprobleme bei Eduard Mörike

Mörikes Verse sind … gut. Wirklich gut! Und wenn da jemand drüber schreibt, sollte man es zur Kenntnis nehmen. Erst recht, da Pillokat vieles bedenkenswerte sammelt. Der erste Teil des 1969 bei Buske erschienenen Bandes beschäftigt sich mit Mörikes Madrigalen und freien Rhythmen; der zweite mit seinen Hexametern und Distichen; auf beides wird in den über 200 Seiten des Buches ausführlich eingegangen. Ich stelle hier als Beispiel für die verhandelten Texte das zu Mörikes Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene „Rotkäppchen und Wolf“ vor, ein Erzähltext, wie für den „Verserzähler“ gemacht. Die erste Hälfte liest sich so:

 

Wir sind Geister, kleine Elfen,
Und wir müssen jetzo helfen,
Dass ein armes Menschenkind
Guten Schlaf im Walde findt.
Ein böser Wolf hats totgemacht
Und ist dafür auch umgebracht,
Aber wir tragen
Und wir begraben
Allhier in schöner Nacht
Allhier im Mondenscheine
Ach seine weißen Beine
Und seine lieben Hände
Und sein rot Mützchen auch;
Alles andre hat der Wolf im Bauch.
Horch, wie ist der Wald so still!
Die Vöglein schweigen alle,
Und auch die Nachtigalle
Heut gar nicht singen will;
Rotkäppchen ist tot,
Ist tot, ist tot,
Und alles hat ein Ende,
In der Bahre liegen blutigrot
Seine weißen Füße und Hände.

Bald aber – liebe Schwestern, freuet euch! –
Wird dieses Kind uns allen gleich.
Es windet sich aus feuchtem Moos
Mit frischen Elfengliedern los,
Dann wiegt es sich im schwanken Mondenstrahl
Auf Blumen und auf Halmen
Und tanzt durch Wald und Wiesental.

 

Sich hier hineinzuhören lohnt wirklich. Schon, weil das Madrigal eine der Möglichkeiten sein dürfte, Reimverse im 21. Jahrhundert anbieten zu können. Jedenfalls eher als über kreuzgereimte Vierheberstrophen …

Vom Vers zum Epos

Das lästige am Verseschreiben …

Verslein, ebengeschriebnes, du weinst? Worüber, was quält dich!
Einsam bin ich, nur mir gab deine Feder Gestalt.
Verslein, geknicktes, fass Mut! und schau die Seite hinunter:
Brüder und Schwestern zuhauf rufe ich eilends ins Sein.

… ist: keiner will alleine bleiben.

Die Bewegungsschule (20)

Ich möchte diesmal einen genaueren Blick werfen auf diese Bewegungseinheit: „ta TAM TAM„. Oder, je nachdem: „ta TAM TAM“. Auf jeden Fall besteht die Einheit aus einer unbetonten, leichten Silbe, der zwei schwere Silben folgen; dabei tragen entweder beide gleichviel Betonung oder die erste ist etwas stärker betont als die zweite – wobei die zweite aber immer noch deutlich stärker betont ist als eine leichte Silbe!

Welche Art man bevorzugt, und ob man vielleicht im Vortrag etwas angleicht, das muss jeder selbst wissen. „Die Schrankwand“ ist ein klein wenig in Richtung „ta TAM TAM“ verschoben, „der Wandschrank“ ist eher „ta TAM TAM„. Wie immer gilt: möglichst viele dieser Einheiten finden, sie sprechen und dann einschätzen!

Als Anregung lasse ich ein Gedicht von Franz Werfel folgen, „Stufenleiter“ (zu finden in: Franz Werfel, Gesammelte Werke / Das lyrische Werk, Fischer 1967, Seite 280, 281):

 

Ich bin vornehm, sagt der See,
Ich steh‘ still.
Doch unedel bist du, Fluss,
Du fließt irr!

Fließe ich, so fließe ich
Doch vorwärts.
Edler Steher, stehst dich ab
Zum Sumpf einst.

Rollt das Meer aus seiner Tiefe:
Kruppzeug!
Fälschen ihre Ohnmacht um
Zum Wert gern.

Kannst du fließen, See? Und du,
Fluss, stillstehn?
Also ist dein Adel Neid, dein Fernlauf
Knechtschaft!

Ich nur fließe, Pack, und ich nur
Steh‘ fest.
Tief aus mir allein wächst Flut,
Wächst Stillstand!

Bricht ein Sturm aus: Lügnerin
Atlantis!
Wer bewegt dich, sag’s mir, wer
Entlässt dich?

Nur mein Wille. der dich stillt,
Dich toll macht.
Ich allein bin einig, und mein Wort
Ist: Frei sein!

Singt ein Stern: Du Sturm bist meiner
Herkunft.
Erzgeheim erreget dich
Mein Einfluss.

Ruhe bin ich und mich meidet
Maßlust.
Denn ich weiß, mein hoher Wert
Ist unmein.

Was an mir geschieht, heißt Licht.
Ihr teilt es.
Preiset drum das erste Wort
Des Urmunds.

 

Ich bin nicht wirklich sicher, was den Wert dieser Verse angeht; aber zum Nachdenken über die Bewegungseinheiten laden sie geradezu ein!

In den geraden Zeilen stellt sich die Frage: „ta TAM TAM„, „ta TAM TAM“, „ta TAM ta“ – was ist es?

„Zum Sumpf einst“ zum Beispiel ist, langsam gesprochen (was nicht schwerfällt, der ganze Text liest sich wie in Zeitlupe), für mich ein „ta TAM TAM„.

„Du fließt irr“ gehört zu „ta TAM TAM“, nein?!

„Ihr teilt es“ ist eindeutig „ta TAM ta“.

Diesen Einheiten hinterherzuhören, ist schon nicht einfach und braucht etwas; aber der Text hat noch einiges mehr zu bieten!

Da sind zum einen einige schöne „TAM ta TAM„: „sagt der See“, „Rollt das Meer“, „Singt ein Stern“.

Aber auch Folgen aus drei schweren Silben sind vertreten: „Fluss, stillstehn“.

Und was ist hiervon zu halten? „allein wächst Flut, // Wächst Stillstand!“ Das sind, streng genommen, sechs schwere Silben hintereinander weg … Wie trägt man das vor?

Also, ein Text, der Fragen aufwirft in Bezug auf die Versbewegung. Ich glaube, es lohnt sich, ihnen nachzugehen! Und manchmal gibt es ja auch ganz selbstverständliche, aber nichtsdestotrotz sehr wirksame Dinge zu bestaunen wie diesen Vers:

Rollt das Meer aus seiner Tiefe

– Da entsprechen sich Bewegung und Inhalt sehr eindrücklich.