Der Wortumsteller kommt
und stellt um Worte die
und weiter immer um
stimmt bis mehr schließlich nichts.
Archiv für den Monat Juni 2014
Erzählformen: Das Distichon (9)
Friedrich Hölderlins „Brot und Wein“ ist ein sehr berühmter Text. Er besteht aus neun Abschnitten, die wiederum aus jeweils neun Distichen bestehen; ich stelle hier aber nicht den ersten dieser Abschnitte vor (der ist so oberberühmt, dass ihn ohnehin fast jeder kennt), sondern den vierten!
Seliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle,
Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört?
Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge
Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!
Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,
Wo mit Nektar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?
Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?
Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?
Wo ist das schnelle? wo brichts, allgegenwärtigen Glücks voll
Donnernd aus heiterer Luft über die Augen herein?
Vater Äther! so riefs und flog von Zunge zu Zunge
Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein;
Ausgeteilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,
Wirds ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt
Vater! heiter! und hallt, so weit es gehet, das uralt
Zeichen, von Eltern geerbt, treffend und schaffend hinab.
Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so
Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag.
Eigentlich immer gültig, aber hier noch einmal gesagt und angemerkt: Solche Verse müssen laut gelesen werden! Mag sein, man kommt hier und da noch ins Schleudern, aber nach einigen Versuchen sollten die Bewegungslinien gefunden sein, und dann haben diese neun Distichen einen Zug und Schwung, der wirklich wunderbar ist.
Nur an einer Stelle macht eine Besonderheit Hölderlins die Versbewegung ein wenig unkenntlich:
Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!
Wahrlich zu / einzi- / gem || Brauche vor / Alters ge- / baut!
Um dem „-gem“ die Hebungsstelle zuzuweisen, es als schwere Silbe zu betrachten: muss man den Vers schon sehr griechisch-antik denken … So etwas machte kein anderer Dichter, und auch Hölderlin nicht allzu häufig; aber während zum Beispiel Schiller in der Pentameter-Mitte fast immer einen klaren Einschnitt hat zwischen zwei deutlich betonten Silben, ist für Hölderlin die Pentameter-Mitte mehr ein Ort, wo zwei „schwere“ Silben aufeinanderstoßen, oft mit einem Sinneinschnitt verbunden; und ebenso oft nicht.
Wie man dieses „-gem“ nun im Vortrag verwirklicht – schwierig … Es einfach unbetont zu lesen, wird dem Vers jedenfalls nicht gerecht. Irgendeine Art von „Längung“ muss da sein, irgendein Verzögern; nur darf es auch nicht zu fremd wirken. Wie gesagt: Schwierig.
Das Königreich von Sede (50)
Grübeleule! Grübeleule!
Sag, was ist der Sinn des Lebens?
Schemel steht und ruft die Worte
In des alten Waldes Stille,
Und die Stille tritt zur Seite,
Um die Worte durchzulassen,
Lässt sie durch und stellt sich wieder
An des alten Narren Seite –
Grübeleule! Grübeleule!
Erzählverse: Der trochäische Vierheber (22)
Im vorgestern unter „Bücher zum Vers“ vorgestellten Arsenal findet sich auch manches Stück von Eduard Bauernfeld. Der war sich bewusst, kein „auctor maior“ zu sein, wie eines seiner Distichen verdeutlicht:
Publikum
Sage, was treibst du die Kunst? Erreichst doch nimmer das Höchste!
Pah! Ich befriedige mich, und ich genüge für euch.
– Kriegt einen Preis für die wirkungsvollste Verwendungs eines „Pah!“ in der deutschen Dichtung, nein?! Eine rührende Art bodenständiger Selbstbehauptung, jedenfalls. Jetzt aber zu einem der im Arsenal lagernden Texte des „auctor minor“ Bauernfeld:
Der beste Zustand
Nicht verliebt zu sein ist herrlich!
Alle Tagesstunden sind
Nun mein köstlicher Gewinn;
Muss jetzt nicht zu halben Tagen
Vor gewissen Fenstern lauschen,
Bin zu allem aufgelegt,
Habe Schlaf und Appetit.
Die Lektüre darf nicht ruhn,
Und der Menschen buntes Treiben
Steigt in klaren, frischen Bildern
Vor der freien Seele auf-
Und das freie Herz erstarkt,
Harrt in Ruhe seiner nächsten,
Seiner süßen Sklaverei!
Nichts besonderes, ein nettes, kleines Stück. In der Versbewegung kommt es mir allerdings ein wenig unentschlossen vor?! Das liegt, scheint mir, an den vielen betont endenden Versen. Fallen Versende und Satzende zusammen, kann die entstehende recht tiefe Pause die Rolle der unbetonten Schluss-Silbe im Vers übernehmen:
Alle Tagesstunden sind
Nun mein köstlicher Gewinn;
Hier gut erspürbar am zweiten, mit „Gewinn“ schließenden Vers. Im ersten Vers dagegen springt der Inhalt in den Folgevers, die Pause ist, wenn überhaupt vorhanden, hier kurz; und darüber hinaus ist die Hebungsstelle auch noch mit einem recht schmalbrüstigen „sind“ besetzt, was den Versschluss über die fehlende unbetonte Silbe hinaus noch weiter verwischt.
Ich glaube, dieser bei vielen Verfassern zu beobachtende Gedanke, durch das gelegentliche Zulassen eines betonten Vers-Schlusses die Versbewegung ein wenig aufzulockern, der Auflockerung aber gleichzeitig wieder entgegenzuwirken durch die Pause, die beim Zusammenfall von Vers- und Satz-Schluss entsteht: dieser Gedanke ist gut, und wer seine Texte in trochäischen Vierhebern so anlegt, schreibt ausdrucksstarke, wohlgeformte Verse.
es ist
mein auge ein hafen
der himmel der himmel
Die Bewegungsschule (25)
Es gibt insgesamt sechs Möglichkeiten, zwei „schwere“ und zwei „leichte“ Silben anzuordnen, zwei „gewöhnliche“, „ta TAM ta TAM“ und „TAM ta TAM ta“, und vier ein wenig bis sehr ungewöhnliche:
ta ta TAM TAM
ta TAM TAM ta
TAM TAM ta ta
TAM ta ta TAM
Davon sind die ersten drei auch schon hier in der Bewegungsschule verhandelt worden; alle vier aber lassen sich aus dieser Silbenfolge gewinnen:
… ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM ta ta TAM TAM …
Wenn man von Beginn an nach jeder vierten Silbe einen Abteilungs-Strich macht …
… ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM …
… erhält man Einheiten der Form „ta ta TAM TAM„, die, wie schon festgestellt wurde, einen ganz eigenen, wohltönenden Klang haben:
Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Das sind nun keine besonders geistvollen Beispiele, aber es kommt ja auch auf den Klang an.
Die zweite Möglichkeit unterscheidet sich sehr stark von der ersten, das „ta TAM TAM ta“ ist viel rauer, misstönender. Es entsteht, wenn die Einschnitt-Stellen um eine Silbe nach rechts versetzt werden:
.. ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ta | ta TAM TAM ..
Ich schreibe die begonnene Geschichte mal mit diesen Einheiten weiter:
Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
Klingt wirklich gänzlich verschieden?! Die dritte Möglichkeit, „TAM TAM ta ta“, lässt sich im Deutschen schwer nachbilden, sie formt sich, wenn der Trenn-Stich wiederum um eine Silbe nach rechts versetzt wird:
.. ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ta ta | TAM TAM ..
Daher auch nur zwei Beispiele im weitergeführten Text:
Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
„Grundgütiger …
Helft, rettet mich!“
Und dann sofort weiter zur vierten Möglichkeit, „TAM ta ta TAM„; das Weiterschieben des Trenn-Strichs um eine Silbe nach rechts führt nun wieder zu einer sehr wohlklingenden Einheit!
.. ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ta ta TAM | TAM ..
Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
„Grundgütiger …
Helft, rettet mich!“
Seht nur! Erhört
Wurde ihr Ruf,
Denn es erscheint:
Helmut der Held.
Jeder Vampir
Hasst diesen Mann
Mehr als des Tags
Gleißendes Licht;
Völlig zu Recht!
Jetzt wird es gänzlich albern – aber wie immer: Hinhören! Hinhören! Wenn man jetzt noch einmal den Trennungs-Strich um eine Silbe nach rechts verschiebt, ist man wieder am Beginn, beim „ta ta TAM TAM„:
… ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM | ta ta TAM TAM …
damit schließe ich dann auch die „Geschichte“:
Als die Nacht kommt
Und die Jungfrau
Vor die Tür tritt,
Ist der Mond voll:
Entsetzt sieht sie
Vampirfänge
Im Licht schimmern!
„Grundgütiger …
Helft, rettet mich!“
Seht nur! Erhört
Wurde ihr Ruf,
Denn es erscheint:
Helmut der Held.
Jeder Vampir
Hasst diesen Mann
Mehr als des Tags
Gleißendes Licht;
Völlig zu Recht,
Denn mit Wucht rammt
Er den Holzpfahl
Ins Vampirherz,
Und nur Staub bleibt
Von dem Unhold …
Doch der Held eilt
Hin zur Jungfrau,
Die ihn huldreich
Auf die Stirn küsst!
Äh … Oder so ähnlich. „In den Arm nimmt“, möglicherweise; aber es ist ja gerade ohnehin Schluss.
Wer mag, kann sich ja mal auf einen Versuch einlassen: Einfach einen Text schreiben, in dem die vier vorgestellten Möglichkeiten wie gezeigt abwechseln, und dann vorlesen lassen – eigentlich egal, von wem: Ich vespreche, dass man die Wechsel, das plötzliche Andersklingen in jedem Fall heraushören wird!
Bild & Wort (61)
Bücher zum Vers (34)
Die bisher vorgestellten dreiunddreißig Bücher waren allesamt Bücher über Dichter, Dichtung und Gedichte; dieses hier ist eine Gedichtsammlung. Noch dazu eine mit weitläufigem Namen:
Gustav Noll: Arsenal. Poesie deutscher Minderdichter vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ausgewählt, bearbeitet, eingeleitet, mit Dichterbiographien versehen und herausgegeben von Bernd Thum. Berlin: Propyläen 1973.
„Minderdichter“: Das ist, sagt Bernd Thum in seiner Einleitung, die Eindeutschung des lateinischen auctor minor, was zusammen mit dem auctor major die Grundlage einer „komparavistischen, graduierenden Einteilung“ ist, wie sie zum Beispiel das Mittelalter gekannt hat; und die in Deutschland der mit der Klassik aufgekommene Dualismus „Kunst / Kitsch“ verdrängt hat.
Warum aber neunhundertsechsundneunzig Gedichte solcher Minderdichter sammeln?! Auf Seite Siebzehn schreibt Thum dazu:
Die engen, aber stets unsicheren Grenzen der Wirklichkeit auszuweiten und neu abzustecken, den Vorrat an Zeichen zu vergrößern, welche die Verständigung der Menschen verbessern und auch ihrer Sehschärfe nützlich sind, dies ist, meine ich, die wesentliche Aufgabe der Poesie. Minderdichter erfüllen diese noble Pflicht nur ungenügend. Warum dann diese Sammlung? Weil die darin enthaltenen Gedichte den Zeitgenossen wichtiges mitzuteilen hatten; weil diese Gedichte Übersetzungen sind von einst vertrauten Begriffen und Normen; weil sie Schattenbilder waren der sie umgebenden und auf anscheinend sicheren Fundamenten ruhenden Wirklichkeit; weil sie das kollektive Denken, Fühlen, Sehen, Reden, Handeln ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft wiedergeben; kurz, weil sie mindestens im gleichen Maße wie die Großen, wenn auch anders, an der Geschichte teilhaben. Durch diese Teilhabe setzen sie den heutigen Leser dem Anprall der Vergangenheit aus. Wie der Zusammenstoß mit dem Neuerschaffenen bewirkt dies: Wirklichkeitserweiterung, Schärfung der Wahrnehmung und Sensibilität.
„Der Anprall der Vergangenheit“ also. Wer ab und an im Verserzähler vorbeischaut, wundert sich nicht, dass ich damit viel anfangen kann … Aber auch noch in anderer Hinsicht ist diese Sammlung den Verserzählern von Nutzen – sie versammelt eine gewaltige Masse an Gedichtformen, die fast alle genutzt werden können, um Geschichten in Verse zu kleiden: Anregungen und Beispiele, so weit das Auge reicht!
Wer den Band in die Hand bekommt, sollte die Gelegenheit also nutzen, Bekannschaft mit diesem oder jenem „Minderdichter“ zu machen.
Verlags-Wesen
ein korrektor, über einen papierstapel gebeugt
„ein lupenreimer vers …“ – fehlerteufel, hab ich dir!
eine schweflige stimme aus dem nichts
lies weiter, narr!
korrektor
„ein lupenreimer vers um vers ersann
der art, die nur ein lupenreimer kann:
mein auto hat ’ne winzigkleine hupe,
sie aufzufinden, braucht’s ’ne gute lupe.“
der korrektor legt das blatt weg und steht auf
mittagspause!
Erzählverse: Der Hexameter (45)
Meine Wilhelm-Busch-Ausgabe habe ich von meinen Eltern geerbt – diese Anfang der Sechziger erworbenen zwei Bände, erschienen bei Bertelsmann, aus denen ich in jungen Jahren dann meinen ganzen „Busch“ verinnerlicht habe.
In „Fipps der Affe“ finden sich im zehnten Kapitel folgende Verse:
„O verehrtester Freund!
Nichts gehet doch über die hohe Weisheit
der Mutter Natur. –
Sie erschuf ja so mancherlei Kräuter,
Harte und weiche zugleich,
doch letztere mehr zu Gemüse.
Auch erschuf sie die Tiere, erfreulich,
harmlos und nutzbar;
Hüllte sie außen in Häute,
woraus man Stiefel verfertigt,
Füllte sie innen mit Fleisch
von sehr beträchtlichem Nährwert;
Aber erst ganz zuletzt,
damit er es dankend benutze,
Schuf sie des Menschen Gestalt
und verlieh ihm die Öffnung des Mundes.
Aufrecht stehet er da,
und alles erträgt er mit Würde.“
In dieser Form haben sich mir die Verse auch eingeprägt. Eigentlich aber sind es Hexameter:
„O verehrtester Freund! Nichts gehet doch über die hohe
Weisheit der Mutter Natur. Sie erschuf ja so mancherlei Kräuter,
Harte und weiche zugleich, doch letztere mehr zu Gemüse.
Auch erschuf sie die Tiere, erfreulich, harmlos und nutzbar;
Hüllte sie außen in Häute, woraus man Stiefel verfertigt,
Füllte sie innen mit Fleisch von sehr beträchtlichem Nährwert;
Aber erst ganz zuletzt, damit er es dankend benutze,
Schuf sie des Menschen Gestalt und verlieh ihm die Öffnung des Mundes.
Aufrecht stehet er da, und alles erträgt er mit Würde.“
Wer hat sie auseinandergenommen, meist, aber nicht immer an der Zäsur; und warum?! Dass ursprünglich einmal Hexameter da gestanden haben, scheinen mir Großschreibungen nahezulegen, die den Hexameter-Anfang kennzeichneten, aber in der umgebrochenen Fassung falsch sind: „Füllte“, „Schuf“. Aber eigentlich kann das auch gerne ein Rätsel bleiben, man muss nicht alles wissen, und manchmal ist ein kleines Geheimnis sehr anziehend.
Warum Busch hier Hexameter geschrieben hat, ist dagegen nicht so schwer zu verstehen: Es handelt sich um eines Professors „belehrende Rede“, und der Gegensatz zwischen dem ernsten, getragenen Tonfall des Hexameters und der Wunderlichkeit des Inhalts wirkt herrlich unpassend; und damit, wie erwünscht, komisch.
Auch stechen die Verse sehr heraus, denn den restliche „Fipps“ beherrscht der kennzeichnende Ton der Reimverse Buschs – so im vierten Kapitel:
„Pudding“, sprach er, „ist mein Bestes!“
Drum zum Schluss des kleinen Festes
Steht der wohlgeformte große
Pudding mit der roten Soße
Braun und lieblich duftend da,
Was der Freund mit Wonne sah.
Grießpudding mit Erdbeeren mochte ich als Junge sehr gern. Ob das der Grund war? Jedenfalls habe ich diese Verse damals auswendig gelernt – und die schönen Hexameter nicht …