Bücher zum Vers (41)

Wolfgang Binder: Friedrich Hölderlin.

Nach dem unter (40) vorgestellten Hölderlin-Band ist das hier sozusagen die „zweite Hälfte“: Hölderlin-Studien, die Binder nach dem ersten Band verfasst hat, erschienen 1987 bei Suhrkamp. Auch hier ist der ganze Band lesenswert, und auch hier gibt es einen ganz besonders für Versfreunde wichtigen Abschnitt: „Hölderlins Verskunst“.

In ihm geht Binder noch einmal auf Hölderlins Odenstrophe ein, was sicher nicht falsch ist – Hölderlin ist ohne die Denstrophen nicht denkbar, und die deutsche Ode nicht ohne Hölderlin; darüber hinaus widmet er sich aber auch Hölderlins Distichen sowie den Versen der hölderlinschen Hymnen-Dichtung, immer mit Gewinn für den Lesenden. Wer also reinschauen will und kann – es lohnt sich.

Noch stärker ausdeutend der Vers:

Langsam eilt und kämpft das freudigschauernde Chaos

Der gehaltene Gang dieses Verses – alle Doppelsenkungen, bei denen es erlaubt ist, sind durch einfache ersetzt – veranschaulicht unmittelbar die langsame Eile des Chaos.

– Sagt Binder auf Seite 99; Auch so ein Vers Hölderlins, der durch die Vereinzelung erst so richtig in seiner (hexametrischen) Eigenheit verständlich wird …

Das Ein-Vers-Gedicht (10)

In W.H. Audens „Collected Poems“, erschienen 1976 bei Faber and Faber, findet sich auf Seite 636 das Gedicht „Natural Linguistics“. Das ist einer dieser Texte, bei denen mir der Eingangsvers so gut gefällt, dass ich den restlichen Text gar nicht mehr brauche; und das, obwohl zum Beispiel „Natural Linguistics“ 19 sehr schöne Distichen lang ist! Aber so ist das dann eben … Der allererste Vers, dementsprechend ein Hexameter:

 

Every created thing has ways of pronouncing its ownhood

 

– Das genügt?! Wiewohl der restliche Text, wie angedeutet, eine Beschäftigung mit ihm sicher reichlich entgelten würde.

Erzählverse: Der Hexameter (59)

Justus Friedrich Wilhelm Zachariäs „Murner in der Hölle“ (2)

Im zweiten Gesang des „komischen Epos“ stellt sich heraus, dass manches nicht so ist, wie es zuerst schien: die Klagen der Zofe Lisette etwa waren Schauspielerei, in Wirklichkeit freut sie sich über den Tod des Katers und ruft, mit dem Leichnam allein, aus:

 

Wohl mir, dass ich dich tot, du falsche Bestie, sehe!

 

Da wundert ihr Umgang mit dem toten Tier nicht:

 

Jetzt eröffnete Lisette das Fenster; sie fasset den Körper
Bei dem hintersten Bein, und wirft ihn zum Fenster herunter
Auf den schimpflichen Mist. So stürzten die Statuen eh’mals
Eines Tyrannen herab; so ward das Schrecken der Römer,
Nun ein verstümmelter Rumpf, in faule Kanäle geschmissen.

 

Da ist gleich im ersten Vers eine unbetonte Silbe zu viel:

Jetzt er- / öffnete Li- / sette das / Fenster; || sie / fasset den / Körper

X x / X x x x / X x x / X x || x / X x x / X x

– Da waren die Hexametristen der Frühzeit recht sorglos, und warum auch nicht: Es verändert die Bewegung des Verses ja nicht wirklich.

Raban versucht derweil, Rosaura von ihrem Schmerz durch geselliges Treiben abzulenken – was ziemlich gut gelingt:

 

Muntrer kam sie zu ihrem Gemach; des Lieblings vergessend,
Denket sie nicht an sein Grab, und setzt zum Putze sich nieder.
Schachteln gingen da auf, und Büchsen wurden eröffnet;
Eisen glühten in schwarzen Vulkanen, und Wolken von Puder
Wälzten sich gegen den Tag; dann rollte die rasselnde Kutsche
Glänzender Fremden über den Hof. Es dampfte die Küche
Hohen Geruch von Braten, Pasteten und kräftigen Brühen.
Eine muntere Tafel, von leichten Scherzen umflattert,
Schmauste den langen Nachmittag durch; die hellen Pokale
Taumelten unter den Junkern herum, bis durch die Gewölke
Freundlich der Abendstern blinkte; da unterdessen das Fräulein,
Von der horchenden Schar am silbernen Flügel umringet,
Mit dem holden Gesang die eilenden Stunden verkürzte.
So ward alles Leid und alle Trauer vergessen.

 

Ein Abschnitt, in dem der Hexameter glänzen kann dank der Fülle an gegenständlicher Beschreibung, die auch nach 250 Jahren immer noch frisch wirkt und fröhlich-verspielt. Der letzte Vers ist dabei zwar regelgerecht gebaut, aber doch eine Seltenheit:

So ward / alles / Leid || und / alle / Trauer ver- / gessen.

X x / X x / X || x / X x / X x x / X x

Die ersten vier metrischen Einheiten haben in der Senkung lediglich eine unbetonte, leichte Silbe – das ist ungewöhnlich, üblicherweise sind Senkungen dabei, die zwei leichte Silben haben! Der Vers wirkt so sehr langsam und ruhig?!

Murners Geist wandert inzwischen durch die Unterwelt und kommt an den Styx und seine Wasser:

 

Durch sie fuhr der finstere Charon; ein schmutziger Alter,
Dessen grauer, verworrener Bart den Gürtel herabfloss.
Mürrisch saß er im Kahn und steuerte langsam sein Fahrzeug
Gegen die brausende Flut zum Ufer, wo Scharen von Seelen
Zum Gestade sich drängten. Hier gingen unter einander
Fürsten, Komödianten und Dichter, und Huren und Nonnen,
Goldmacher, Räuber und Prokuratoren, und Ärzte; mit ihnen
Totengräber, nebst lachenden Erben. Auch gingen hier Seelen
Vornehmer Damen, mit Seelen von Hunden und Katzen, und Vögeln;

 

Beschreibungen der Unterwelt gibt es in der Antike, und so auch in deutschen Hexameter-Epen; zum Beispiel auch in Eduard Mörikes „Märchen vom sichern Mann“, wo es über die Unterwelt unter anderem heißt:

 

Vorn bei dem Eingang sammelte sich unliebsames Kehricht
Niederen Volks: trugsinnende Krämer und Kuppler und Metzen,
Lausige Dichter dabei und unzählbares Gesindel.

 

Zwischen diesen Versen und denen von Zachariä liegen fast hundert Jahre – man hört es?! Murner jedenfalls muss feststellen, dass Charon ihn nicht übersetzen will,

 

Denn der mürrische Greis führt keine verstorbenen Seelen
Über die Stygischen Wasser und hohen Cocytischen Fluten,
Wenn nicht ihr Körper auf Erden die letzten Ehren erhalten.

 

Was bleibt Murner übrig? Er kehrt wieder in die Oberwelt und

 

Zu dem Schlosse zurück, wo sein verachteter Leichnam
Auf dem Miste noch lag, dem Knecht und der Viehmagd zum Abscheu.

 

– Mit diesem beiden Versen schließt der zweite Gesang …

Abendlied

Die Nacht gießt still ihr Dunkel aus,
Verrätselt Brunnen, Baum und Haus
Zu Märchenwunderwesen.

Das Flüstern tief im Brunnen sehnt
Sich nach dem Wind. Am Rande lehnt
Ein Birkenreisigbesen.

Den habe ich einst selbst gemacht,
Die Ästlein, die der Sturm bei Nacht
Herabriss, aufgelesen.

Nun knackt er von der alten Zeit,
Vermindert so der Quelle Leid
Und hilft ihr, zu genesen.

Erzählformen: Das Sonett (6)

Ist das folgende Sonett von Friedrich Rückert wirklich ein „Erzählsonett“?

 

Amaryllis

Amara, bittre, was du tust ist bitter,
Wie du die Füße rührst, die Arme lenkest,
Wie du die Augen hebst, wie du sie senkest,
Die Lippen auftust oder zu, ists bitter.

Ein jeder Gruß ist, den du schenkest, bitter,
Bitter ein jeder Kuss, den du nicht schenkest;
Bitter ist, was du sprichst und was du denkest,
Und was du hast, und was du bist, ist bitter.

Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen,
Zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten,
Und eine folgt den Spuren deiner Füße.

O du mit Bitterkeiten rings umfangen,
Wer dächte, dass mit all den Bitterkeiten
Du doch mir bist im innern Kern so süße.

 

An sich: Nein. Aber  Rudolf Borchardt hat sich in seiner 1926 erschienenen Anthologie „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“ auf Seite 469 zu Rückerts Werk im allgemeinen – diesem bescheinigt er eine „unerschütterliche Existenz“ – und seinen Amaryllis-Sonetten im besonderen geäußert:

Es sind die einzigen durch und durch leidenschaftlichen Liebesgedichte, die der Vorrat deutscher Poesie besitzt, die einzigen ausfluchtlosen, die meinen, was sie sagen, und fast alles sagen, was sie meinen, eine erbitterte Burschenwerbung um ein sprödes Ding, – besessen, mit zusammengebissenen Zähnen, rasend und reizend, taub gegen die ganze Welt.

Und das hat dann doch wieder mit dem Erzählen zu tun; einiges. Aber von dieser Frage abgesehen ist Rückerts Text einfach ein gutes Gedicht, eine nähere Betrachtung allemal wert!

Die Bewegungsschule (34)

Fünfsilbige Sinneinheiten kamen schon vor – ganz früh das recht unscheinbare „ta ta TAM ta ta“, später dann ausführlich das wichtige und ausdrucksstarke „TAM ta ta TAM ta“. Lohnt nun der Blick auf noch umfangreichere Sinneinheiten?! Hm. Sechs- und siebensilbige Einheiten kommen immer mal wieder vor, aber nicht oft. Eine besondere Klasse sind da die vielsilbigen Wörter – die sind auch am besten dagegen geschützt, doch in Unter-Sinneinheiten zu zerfallen. Ein Beispiel wäre:

Nachtigallengesang

TAM ta TAM ta ta TAM

– Eine sechssilbige Wort- und Sinnheit, die drei schwere Silben hat und umfangreich genug ist, um zum Beispiel in einem Pentamter eine Vershälfte zu füllen; und das in einer Elegie Rudolf Alexander Schröders („Tivoli“) auch tut:

 

Da du hinaufsteigst, schattenumwogt, und hörest nun wieder
Nachtigallengesang unter den Wipfeln und schaust
Ruhende Segler im Blau; denn hoch auf goldener Klippe,
Über dem fliegenden Schaum haben die Tauben ihr Nest.

 

– Zu finden im ersten Band von Schröders „Gesammelten Werken“, 1952 bei Suhrkamp erschienen, auf Seite 95. Siebensilbige Einheiten / Wörter sind noch seltener – und liegt dabei im Schriftbild auch ein einziges Wort vor, im Vortrag kann das ganz leicht in zwei Einheiten zerfallen! Wieder Schröder, diesmal aus „Der Landbau“ (S. 86):

 

Zwingt uns die neueste Weise des Markts und des kritischen Froschteichs
Breites Gequäk und langöhriger Hänse Geschrei,
Und den poetisch-politischen Tratsch und gedunsener Wichte
Seelenzerkleinernden Schwatz höflich zu leiden, o Freund,

 

„Seelenzerkleinernden Schwatz“ gehört als siebensilbige Pentamterhälfte zusammen, doch ich denke, das zerfällt an der Wortgrenze:

TAM ta ta TAM ta ta / TAM

Und bei ganz langsamem, deutlichen Vortrag zerfällt vielleicht sogar der Sechssilber noch einmal? „Seelen-zerkleinernder Schwatz“,

TAM ta / ta TAM ta ta / TAM

Das „poetisch-politischen“ des Vorverses jedenfalls hat die Bruchstelle auch für’s Auge gleich eingebaut …

Es ist schwerig mit diesen sehr langen Sinneinheiten. Trotzdem lohnt es sich durchaus, nach langen Wörtern Ausschau zu halten – sie machen immer etwas her, zeichnen einen Vers aus; aber sind auch schwer unterzubringen in einem festen Metrum und wirken leicht fehl am Platz. Darauf zu achten, wie andere das machen, muss da nützlich sein?!

„Seelenzerkleinernder Schwatz“ – Schröder hat noch einige genau gleich gebaute Siebensilber, zum Beispiel: „Felsüberschauernden Walds“. Na gut, nicht ganz gleich gebaut, die „innere Bruchstelle“ liegt woanders:

TAM / ta ta TAM ta ta / TAM

– Aber trotzdem eindrucksvoll, und in einem Text, der in Distichen geschrieben ist, die solche Ausdrücke ohne Schwierigkeiten tragen können: ein Gewinn!

Von daher – ruhig mal eine kleine Liste fertigen mit allen derartigen Einheiten, die beim Lesen und Hören unterkommen; und dann sorgfäktig abklopfen und nutzbar machen für die eigenen Verse!