In Emanuel Geibels nicht allzu langer Verserzählung „Die weiße Schlage“ erlangt Stojan durch den Verzehr ebendieser Schlange die Gabe, die Sprach der Tiere zu verstehen (und, wie sich später zeigt, auch die des Feuers). Er stellt aber schnell fest, dass die Tiere über ihm nicht genehme Dinge reden – zwei alte Raben machen den Anfang:
Spricht der erste Rabe da zum zweiten:
Bruder, sprich, woher hast du den Goldreif,
Den ich gestern sah in deinem Schnabel,
Fein und blank, mit sieben roten Steinen?
Wo nur hast du den gefunden? Sag mir’s!
Ihm erwidert drauf der andre Vogel:
Märlein will ich dir erzählen, Bruder,
Von dem Goldreif wunderliche Märlein.
Sind nun siebenundzwanzig Jahr und länger,
Dass ein Mägdlein hier im Walde wohnte,
Weiß und rot, mit langen schwarzen Zöpfen.
Trug sie nur ein Hemd von grobem Linnen,
Nur Sandalen an den weißen Füßen,
Trug sie doch ein Antlitz wie die Blumen.
Heller schien die Sonne, wenn sie lachte,
Wenn sie sang, so stand das Bächlein stille,
Grüner ward der Rasen, drauf sie tanzte.
Sieh, da kam des Wegs ein Herr geritten,
Reiherfedern an der Zobelmütze,
Gold sein Zaum, sein Säbel mit Smaragden.
Einmal kam er erst, dann kam er vielmals,
Sprach ihr zu und schwur ihr hundert Schwüre,
Steckt‘ ihr an den Finger einen Goldreif
Fein und blank, mit sieben roten Steinen,
Dass sie seinen Schwüren glauben möchte;
Und sie glaubt‘ und ließ von ihm sich küssen.
Lieblich däucht‘ es ihr den langen Sommer.
Aber als im Herbst die Vögel zogen,
Fernhinzogen und nicht wiederkamen,
Kam auch er nicht wieder gleich den Vögeln;
Wo er blieb, das mag die Sonne wissen.
Doch jedweden Abend kam das Mägdlein,
Saß am See und weinte heiße Tränen,
Weint‘ hernieder auf den Schnee im Winter,
Und im Frühjahr auf die blauen Veilchen.
Aber in der Nacht der Frühlingsgleiche
Schrie sie laut empor vor großer Trübsal,
Sprang hinunter dann ins schwarze Wasser.
Keiner hat sie wieder je gesehen;
Nur den Goldreif warf der See ans Ufer.
– Auch die weiteren Einzelheiten der Geschichte werden so erzählt, bis sich Taten und Untaten offenbart haben und am Schluss – wie es sich gehört, ist man versucht zu sagen – alle tot sind. Wer mag, kann das nachlesen; um Geibels Vers einzuschätzen, reicht schon der knappe Ausschnitt hier.
Wie immer bei Geibel: Sichere Verse, nichts besonderes, aber allemal in der Lage, die Erzählung zu tragen?! Ich glaube, das lässt sich auch heute noch gut lesen … Schriebe man es heute, müsste man es sicher hier und da auf den heutigen Stand bringen; aber auch dann trüge der Vers, da bin ich sicher!