Erzählformen: Das Sonett (13)

Der Verserzähler hat den Rheinfall nun schon in Hexameterform vorgeführt, und in eher freien Versen; hier nun eine Sonett-Fassung, geschrieben von Joseph Victor von Scheffel:

 

Zum hohen Randen trägt der Wind ein Brausen,
Durch hohlzerspülten Stromgrunds weite Bogen
Kommt voll und breit ein Flutenschwall gezogen
Und stürzt sich tosend durch die Felsenklausen.

Das sind die Donner Gottes, die hier sausen,
Das ist, milchweiß, ein Schaumgestieb der Wogen,
Von Irisglanz neunfarbig überflogen
Der Fall des Rheins im Tale von Schaffhausen.

Im Mondenschein wirst du sein Bild betrachten
Vom Hotel Weber und dort übernachten …
Wo Wasser schäumt, will auch der Schaumwein knallen,

Und schrilles Pfeifen hörst du jenseits schallen:
Glutroten Augs zischt durch des Bergschachts Tiefe
Der Neuzeit Drache, die Lokomotive.

 

– Die übliche Naturbeschreibung in den Quartetten, ehe „gut sonettisch“ sich in den Terzetten der Blickwinkel verschiebt! (In den Quartetten hat, behaupte ich mal, „Schaffhausen“ einen der Reime festgelegt; in den Terzetten sind die drei Paarreime eigentlich gar nicht so sonettgemäß …)

Erzählverse: Der Blankvers (55)

Das folgende Gedicht, entnommen Friedrich Rückerts „Liedertagebüchern“, wirkt nur im ersten Augenblick wie ein ganz gewöhnlicher Blankvers-Text:

 

Du fütterst deine Kuh im Stall, und merkst nicht,
O Mädchen, wer bei dir zu Gaste geht.
Die Mücke kommt um deine Kuh zu melken,
Sie melkt anstatt der Milch das Blut ihr ab.
Die Schwalbe kommt in deinem Stall zu nisten,
Und trägt die Mücken ihrer Brut ins Nest.
Die junge Schwalbe nährt sich von der Mücke,
Die von der Kuh sich nährte, die du nährst.

 

– Inhaltlich ein „typischer Rückert“?!

Was aber bezüglich der Form auffällt: Es wechseln immer Fünfheber mit betonter Schluss-Silbe mit solchen, die unbetont enden. Wenn man so will, sind es also vier genau gleichgebaute Verspaare, ein Eindrück, der sich verstärkt, da ja immer eines dieser Verspaare einen Satz, einen Gedanken fasst!

Ein klein wenig also wie ein Text in Distichen, nur dass es eben doch iambische Fünfheber sind. W
ieder eine Art und Weise mehr, wie Blankverse genutzt werden können – einfach einmal versuchen! Der Text gliedert sich angenehm unaufdringlich und ist doch viel „fester“, als es reine Blankverse im allgemeinen sind.

Bücher zum Vers (68)

Peter Dronke: Die Lyrik des Mittelalters. Eine Einführung.

Nichts fällt vom Himmel, die Dichtung nicht und die Gedichte auch nicht; sie haben eine Geschichte. Sich mit der zu beschäftigen lohnt sich, und das knapp 300 Seiten starke Werk von Dronke ist ein guter Weg, sich mit ihrem mittelalterlichen Teil bekannt zu machen. Dabei bleibt Dronke immer dem einzelnen Beispiel verpflichtet, ohne jedoch das große Ganze, für das er sich in ganz Europa umschaut, aus den Augen zu verlieren; und hat darüber hinaus noch Zeit für die eine oder andere Kleinigkeit, die nicht unbedingt sein müsste … Seite 17:

Einmal zu Weihnachten, um 1066 herum, versuchten Erzbischof Adalbert von Hamburg und sein Klerus, die ausgelassenen Trinklieder, die der Sachsenherzog Magnus und seine Gesellschaft „in ihre Becher grölten“ (in poculis ulularent), zu übertönen, indem sie antiphonisch dagegenan psalmodierten. Leider konnten der Herzog und seine Leute durchaus ihre Stellung halten, und Adalbert „schloss sich in seinen Andachtsraum ein und weinte bitterlich“.

Der Arme.

Das alles zusammen ergibt jedenfalls eine Menge an nachdenkenswertem und hilfreichem Stoff. Auf Seite 118 stellt Dronke zum Beispiel des Kürenbergers „Ich zoch mir einen valken …“ vor, das jeder kennt, der schon mal mittelalterliche Texte gelesen hat. Deutlich unbekannter dürfte ein serbisches Volkslied sein, das gleich darauf zu Vergleichszwecken herangezogen wird (S. 119):

 

Der Falke sitzt auf der Stadt Saloniki,
gelb sind seine Füße bis zum Gelenk,
golden seine Flügel bis zur Schulter,
blutig sein Schnabel bis zu den Augen.
Ihn fragen die Mädchen von Saloniki:
„O so Gott dir, grau-grüner Falke,
wer hat die die Füße gelb gemacht?
Wer hat dir die Flügel vergoldet?
Wer hat dir den Schnabel blutig gemacht?“ –
„Lasst mich gehen, ihr Mädchen von Saloniki!
Gedient habe ich einem guten Herren.
Er hatte drei Töchter:
eine hat mir die Füße gelb gemacht,
die zweite hat mir die Flügel vergoldet,
aber die dritte hat mir den Schnabel blutig gemacht.“

 

Aber auch das: ein bedenkenswerter Text.

Erschienen ist der Band 1973 bei Beck!

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (5)

In Emanuel Geibels nicht allzu langer Verserzählung „Die weiße Schlage“ erlangt Stojan durch den Verzehr ebendieser Schlange die Gabe, die Sprach der Tiere zu verstehen (und, wie sich später zeigt, auch die des Feuers). Er stellt aber schnell fest, dass die Tiere über ihm nicht genehme Dinge reden – zwei alte Raben machen den Anfang:

 

Spricht der erste Rabe da zum zweiten:
Bruder, sprich, woher hast du den Goldreif,
Den ich gestern sah in deinem Schnabel,
Fein und blank, mit sieben roten Steinen?
Wo nur hast du den gefunden? Sag mir’s!
Ihm erwidert drauf der andre Vogel:
Märlein will ich dir erzählen, Bruder,
Von dem Goldreif wunderliche Märlein.
Sind nun siebenundzwanzig Jahr und länger,
Dass ein Mägdlein hier im Walde wohnte,
Weiß und rot, mit langen schwarzen Zöpfen.
Trug sie nur ein Hemd von grobem Linnen,
Nur Sandalen an den weißen Füßen,
Trug sie doch ein Antlitz wie die Blumen.
Heller schien die Sonne, wenn sie lachte,
Wenn sie sang, so stand das Bächlein stille,
Grüner ward der Rasen, drauf sie tanzte.
Sieh, da kam des Wegs ein Herr geritten,
Reiherfedern an der Zobelmütze,
Gold sein Zaum, sein Säbel mit Smaragden.
Einmal kam er erst, dann kam er vielmals,
Sprach ihr zu und schwur ihr hundert Schwüre,
Steckt‘ ihr an den Finger einen Goldreif
Fein und blank, mit sieben roten Steinen,
Dass sie seinen Schwüren glauben möchte;
Und sie glaubt‘ und ließ von ihm sich küssen.
Lieblich däucht‘ es ihr den langen Sommer.
Aber als im Herbst die Vögel zogen,
Fernhinzogen und nicht wiederkamen,
Kam auch er nicht wieder gleich den Vögeln;
Wo er blieb, das mag die Sonne wissen.
Doch jedweden Abend kam das Mägdlein,
Saß am See und weinte heiße Tränen,
Weint‘ hernieder auf den Schnee im Winter,
Und im Frühjahr auf die blauen Veilchen.
Aber in der Nacht der Frühlingsgleiche
Schrie sie laut empor vor großer Trübsal,
Sprang hinunter dann ins schwarze Wasser.
Keiner hat sie wieder je gesehen;
Nur den Goldreif warf der See ans Ufer.

 

– Auch die weiteren Einzelheiten der Geschichte werden so erzählt, bis sich Taten und Untaten offenbart haben und am Schluss – wie es sich gehört, ist man versucht zu sagen – alle tot sind. Wer mag, kann das nachlesen; um Geibels Vers einzuschätzen, reicht schon der knappe Ausschnitt hier.

Wie immer bei Geibel: Sichere Verse, nichts besonderes, aber allemal in der Lage, die Erzählung zu tragen?! Ich glaube, das lässt sich auch heute noch gut lesen … Schriebe man es heute, müsste man es sicher hier und da auf den heutigen Stand bringen; aber auch dann trüge der Vers, da bin ich sicher!

Das Königreich von Sede (64)

Da ist ein Räderwerk in jedem Frosch,
Sind Räder ohne Zahl und vielbezahnt;
Die drehen sich und greifen ineinander,
Mal hier, mal da, unfassbar schnell, und machen,
Dass sich der Frosch bewegt.

Wintermorgen

Auf in die dämmernde Welt will die Sonne sich heben; doch heute
Kommt sie zu spät, denn empor glänzet der Schrei eines Hahns.

 

Um Zwei, Gottlob, und um die Drei / Glänzet empor ein Hahnenschrei,
– Mörike, Der alte Turmhahn. Knittelvers-Distichon-Transformation – warum nicht …

Erzählformen: Das Distichon (13)

In (12) war vom „Auftauchen unter den Göttlichen“ die Rede; so auch hier. In Johann Wolfgang Goethes siebter römischer Elegie verschlägt es den Dichter selbst unter die Unsterblichen:

 

O wie fühl ich in Rom mich so froh, gedenk ich der Zeiten,
Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer auf meine Scheitel sich senkte,
Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag,
Und ich über mein Ich, des unbefriedigten Geistes
Düstre Wege zu spähn, still in Betrachtung versank.
Nun umleuchtet der Glanz des helleren Äthers die Stirne.
Phöbus rufet, der Gott, Formen und Farben hervor.
Sternhell glänzet die Nacht, sie klingt von weichen Gesängen,
Und mir leuchtet der Mond heller als nordischer Tag.
Welche Seligkeit ward mir Sterblichem! Träum ich? Empfänget
Dein ambrosisches Haus, Jupiter Vater, den Gast?
Ach, hier lieg ich und strecke nach deinen Knieen die Hände
Flehend aus. O vernimm, Jupiter Xenius, mich!
Wie ich hereingekommen, ich kanns nicht sagen: es fasste
Hebe den Wandrer und zog mich in die Hallen heran.
Hast du ihr einen Heroen herauf zu führen geboten?
Irrte die Schöne? Vergib! Lass mir des Irrtums Gewinn!
Deine Tochter Fortuna, sie auch! die herrlichsten Gaben
Teilt als ein Mädchen sie aus, wie es die Laune gebeut.
Bist du der wirtliche Gott? O dann so verstoße den Gastfreund
Nicht von deinem Olymp wieder zur Erde hinab!
„Dichter! Wohin versteigest du dich?“ – Vergib mir: der hohe
Kapitolinische Berg ist dir ein zweiter Olymp.
Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich später
Cestius Mal vorbei, leise zum Orkus hinab.

 

– Da stecken nun sicher eine Menge an antiken Anspielungen drin und auch an solchen, die „Goethes Rom“ betreffen („Cestius Mal“, die Pyramide des Cesius, in deren Nähe der protestantische Friedhof Roms lag). Aber die muss man eigentlich gar nicht kennen; spannend ist vor allem zu sehen, wie Gothe den Inhalt durch die Verspaare führt. Mal einen Satz auf mehrere Distichen verteilt, mal zwei Sätze in einem Distichon, mal einen Satz, einen Gedanken genau in ein Verspaar gegossen. Auch die Zeilensprünge lassen aufhorchen! Und wie immer eigentlich bei Goethe: Nie schließt ein Gedanke im Hexameter, und im Pentamter beginnt ein neuer; sondern die Einheit des Distichons bleibt immer gewahrt.

Alles zusammen sorgt dann für ein sehr abwechslungreiches, doch nie ungeordnet wirkendes Spiel mit Form und Inhalt, das den Leser bis zum letzten Vers „an der Leine behält!“