Mit Versen erzählen!? (3)

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was ein (Vers-)Epos ausmacht, lohnt ein Blick auf August Wilhelm Schlegels klassischen Text „Vom Epos“, entstanden 1801/02.  Vor dem Blick auf einzelne Abschnitte dieses Textes ist es aber sinnvoll, kurz die Grundannahme allen epischen Erzählens zu erwähnen:

So wie ein Lesedrama, auch wenn es nicht für die Aufführung auf einer Bühne vorgesehen ist, in seinem Aufbau trotzdem von den Forderungen geprägt ist, die an ein Bühnenstück gestellt werden; so ist auch ein in schriftlicher Form vorliegendes Epos immer der Annahme eines „Rhapsoden“, eines Erzählers verpflichtet, der den Inhalt des Epos einem Zuhörerkreis in mündlichem Vortrag nahebringt! Und auch hier formt sich der schriftliche Text nach den Erfordernissen, die dieser (angenommene) Vortrag mit sich bringt.

Nun aber zu „Vom Epos“. Schlegel beginnt mit einer sehr knappen Bestimmung des Begriffs Epos: es sei „eine ruhige Darstellung des Fortschreitenden“. Die beiden Bestandteile dieser Bestimmung erläutert er näher:

– „Die epische Ruhe ist eben die Absonderung des rein Objektiven, wodurch sich diese Gattung über die gewöhnliche Wirklichkeit zum Idealischen erhebt. Denn die Wahrnehmung der Außenwelt ist immer mit Beziehungen auf unseren Zustand, folglich mit Gemütsbewegungen verknüpft, und deswegen kann sie nicht die höchste Klarheit und Vollkommenheit erreichen. Der epische Dichter aber gibt uns eine Darstellung der Außenwelt, wie sie aus einem bloß anschauenden, durch keine teilnehmende Regung gestörten Geiste hervorgehen würde, und erhebt uns zur gleichen Besonnenheit der Betrachtung.“

Unbewegliches darzustellen erfordert Beschreibung, aber: „Bei allem Beschreiben ist die Arbeit für den, welcher redet, gering, für den Zuhörer aber sehr groß.“

Was schon an sich ein bemerkenswerter Satz ist … Doch es geht Schlegel eigentlich um die Wirkung des Gegensatzes, also der Bewegung :

– „Wird hingegen etwas in seiner Fortschreitung aufgefasst, so hebt und trägt die dem Gegenstande entsprechende Bewegung der Worte den empfangenden Geist, und an dieser, als der Grundlage der gesamten Darstellung, entwickelt sich vom Simultanen so viel, als nötig ist, mit Leichtigkeit zu anschaulichen Bildern.“

Also: Bewegung, Geschehen erzeugt Anschaulichkeit.

Dieses Geschehen wird im Epos aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Schlegel:

– „Das Epos ist die Darstellung des rein Objektiven; es wird also auch das Geschehene nur als zufällig erscheinen lassen; denn die Anerkennung der Notwendigkeit desselben ist Konstruktion aus Gesetzen unseres Geistes, folglich aus etwas Subjektivem.“

Und:

– „Das Geschehene wird weit weniger nach seiner Verknüpfung betrachtet als wie eine bloße Folge von Veränderungen, bei welcher also Raum und Zeit den ersten auf der Oberfläche liegenden Zusammenhang geben. Scheinbare Stetigkeit ist folglich das Gesetz der epischen Komposition, sowie scheinbare Notwendigkeit der tragischen Verknüpfung. Die menschlichen Handlungen treten in jener nicht als solche, das heißt durch Freiheit bewirkt, sondern gerade wie andere Naturerfolge in die Reihe mit ein.“

Das sind schon einige sehr tragfähige Grundaussagen … Das meiste von dem, was im weiteren vom Versepos zu sagen sein wird, lässt sich aus ihnen entwickeln!

Mit Versen erzählen!? (2)

In welchem Ausmaß genau ist die Gattung Versepos vergessen?! – Vollständig, ganz und gar, ohne Rest und Überbleibsel!

Schon um 1800 hatten es die Epiker nicht leicht; das Epos galt als hervorragende Gattung, doch wie es zeitgerecht verwirklicht werden konnte, das war nicht so einfach zu sagen. Aber immerhin: Nach vielem Hin und Her und langem Nachdenken schrieb Goethe 1797 „Hermann und Dorothea“, und ließ sich dieses Werk von seinem Verleger sehr gut bezahlen; und nicht ohne Grund, das epische Hexameter-Gedicht wurde ein großer Erfolg.

Hundert Jahre später, um 1900, schrieb Carl Spitteler seinen „Olympischen Frühling“, und auch dieses Versepos war ein gewisser Erfolg (und einer der Gründe für Spittelers Literatur-Nobelpreis 1919); aber kurz zuvor, 1898, hatte er in einem Essay beschrieben, was geschähe, gäbe jemand ein Epos zwecks Veröffentlichung an einen Verlag:

Zunächst würde man sich unter der Hand in schonender Weise nach den Gesundheitsverhältnissen des Verfassers erkundigen. Ob ihn die Heimatbehörde frei herumlaufen lasse, ob er etwa erblich belastet wäre und dergleichen. Lauten wider Erwarten die ärztlichen Zeugnisse günstig, so heißt es: „Gottlob, es ist nur ein vorübergehender Anfall. Demnach können wir immer noch hoffen, dass er uns das nächste Mal wieder etwas Vernünftiges, Menschenmögliches schreibe.“ Und damit wandert das Werk in den Papierkorb, ungelesen und ungeprüft.

Das klingt schon nicht mehr so berauschend … Und wieder 100 Jahre später, also heute, hat sich bestenfalls am Grad der Ablehnung etwas geändert: sie ist noch größer geworden. Wer also heute ein Versepos wagt, sollte eine wirklich gute Geschichte zu erzählen haben; mit Widerständen ist zu rechnen!

Pfadfinder (4)

3 – Still!

Verschwinden

Und beide lauschen. Schon nach kurzer Zeit
Gibt Sotz es auf: „Sie haben sich getäuscht,
Da ist nichts, Heinrich.“ Heinrich gibt nicht nach:
„Da ist etwas, und es kommt zügig näher,
Und macht mir Angst – mir sträuben sich die Haare …
Wir sollten schnell von hier verschwinden, Sotz!“
„Verschwinden? Und der tote Frosch?! Ich muss
Den Grund erfahren, wissen Sie, was Liese …“
„Scheiß drauf!“, schreit Heinrich, und er packt den Doktor
Und reißt ihn buschwärts, und es packt sich Sotz
Den Frosch und reißt ihn mit, und hört nun auch
Und fürchtet, was da kommt, und jetzt ist’s da!

5 – Götterspeise

Mit Versen erzählen!? (1)

„In der Geschichte der Gattungen zeigt sich immer wieder dieser typische Verlauf: die zuweilen uralte oder aus dunklem Abseits herkommende Form wird ergriffen, zur Blüte gebracht, dann lange gepflegt, ohne eine andere Veränderung als die des Alterns durchzumachen, vergessen, um endlich wieder von einer anderen Epoche im Urgrund ihres Wesens begriffen und zu neuer Blüte entwickelt zu werden.“

Das schrieb Karl Vietor auf  Seite 3 seiner „Geschichte der deutschen Ode“ (2. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1961). Zu den jetzt gerade vergessenen und auf das Begreifen wartenden Gattungen zählt: das Versepos, und mir scheint, die Zeiten sind nicht ungünstig für seine neue Blüte.

Pfadfinder (3)

2 – Unter Büschen

Still!

„Ein toter Frosch“, sagt Sotz, „und ein besond’rer:
Der hier gehörte Liese. Gestern Nacht
Erschien sie in der Werkstatt mit dem Tier
Und wies mich an, es in den Park zu bringen …“
„Sie wies Sie an? Wie das? Die junge Dame
Ist Ihre Nichte!“ „Nun, da war ein Nachdruck
Ganz eig’ner Art in ihrer Stimme, welchem
Zu folgen ratsam schien; ich nahm das Glas
Samt Frosch und kam hierher, der Frosch
Entsprang, ich folgte ihm zu dieser Lichtung
– Und fand ihn tot; und kehrte um, auf Ihre Ankunft
Zu warten …“ „Still!“ „Warum?“ „Ich höre etwas.“

4 – Verschwinden

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (2)

Epigramme, die aus einem Paar von Langversen bestehen, neigen zur Antithetik: Des einen Verses Inhalt steht gegen den Inhalt des anderen Verses, oder der Inhalt der einen Vershälfte gegen den Inhalt der anderen Vershälfte. So auch beim Verspaar aus iambischen Siebenhebern, wie „Disharmonie“ von Wilhelm Müller zeigt:

 

Erzähl dein Glück dem Unglück nicht, dein Unglück nicht dem Glück!
Hier klingt dir Leid auf deine Lust, dort Lust auf Leid zurück.

 

Das wirkt durch den die einzelnen Teile streng verknüpfenden Aufbau möglicherweise sinniger, als es in Wirklichkeit ist; aber auch so, oder: gerade so?! ist es ein Beispiel für die Wirksamkeit solcher Versgestaltung …

Pfadfinder (2)

1 – Nebelmorgen

Unter Büschen

Er sagt’s und schlägt sich in die dichten Büsche,
Die hinter seiner Bank noch immer blühen.
„He! Warten Sie!“, ruft Heinrich und er folgt
Dem Doktor nach, der zwischen schweren Zweigen,
Im Nebel auch, kaum noch zu sehen ist;
Nach fünf, sechs Schritten schon weiß er nicht mehr,
Woher er kam, und nicht, wohin es geht –
Da stolpert er auf eine kleine Lichtung,
Kein Nebel dort und wundertiefe Stille,
Und findet Dr. Sotz, der kniet im Gras
Und blickt auf etwas. Heinrich geht zu ihm,
Kniet gleichfalls, schaut und fragt: „Ein toter Frosch?“

3 – Still!

Erzählverse: Der Hexameter (111)

Immer wieder spannend zu verstehen: Wie macht man als Dichter aus nichts etwas? In den alten Zeiten war das einfach – alle kannten die Grundlagen der griechischen Mythologie, und darauf aufsetzend lassen sich leicht kleine Geschichten erzählen. Reiht man dann auch noch Beispiele, steht bald ein ansehnlicher Text da … Als Beispiel diene Christian Adolph Overbecks „Der gefangene Amor“:

 

Habt ihr den Amor gehascht, und höhnt mutswillig, ihr Jungfraun?
Traut dem Gefangenen nicht, o ihr Lieblichen! Wisset, er lässt sich
Kürzen die Schwingen von euch: umsonst! Sie wachsen ihm wieder.
Kirr mit rosigen Seilen umschlingt er sich: aber o trauet,
Traut dem Gebundenen nicht; er ist glatt, er entschlüpft aus den Seilen.
Wieder lässt er sich greifen, der Schalk, und weinet so kläglich:
Traut dem Weinenden nicht! er will euch Tränen entlocken,
Und dann lacht er verschmitzt. Er fleht mit gebogenem Kniee:
Traut dem Knieenden nicht! er ist ein Tyrann, er will herrschen.
Mädchen, ich riet es euch nicht, die verwegene Jagd zu beginnen!
Aber habt ihr gefangen nunmehr den tückischen Vogel;
Eilt, und hinauf mit ihm vor Gericht! Bei Pallas verklagt ihn!
Seht, dort steht er beschämt, ein Verstummender, fürchtend die Rute.

 

Das ist kein großartiges Gedicht, keine Frage, und die Welt wäre nicht ärmer, wäre es nicht geschrieben worden; trotzdem hat es seinen Reiz, der gerade in seiner Flüchtigkeit besteht … Wozu der Hexameter als gewählte Versform sicherlich beiträgt, da sich die Sprache zwanglos in ihn einfügt?!