Pfadfinder (1)

Nebelmorgen

Die alte Parkbank überragt nur knapp,
Mit ihrer Rückenlehne höchster Latte,
Den Bodennebel dieses Sommermorgens;
Und Heinrich sieht von Dr. Sotz, der sitzt
Auf ihr, die Brust samt Kopf und Denkerstirn,
Mehr nicht – er geht still lächelnd auf die Bank zu,
Wo Sotz ihn schon gesehen hat und aufsteht.
„Nun, Heinrich, wenn Sie schon am frühen Morgen
Der Welt ein derart breites Lächeln schenken,
Sind Sie gewiss bereit, mich zu begleiten
An einen Tatort der beson’dren Art.
Los, kommen Sie; es sind nur ein paar Schritte!“

2 – Unter Büschen

Erzählformen: Das Distichon (14)

Heinrich Hoffmanns „Der Fluch des Hauses“ ist ein gutes Gedicht, finde ich; jedenfalls vom Versbau her. Nicht allzu lang, aber dabei doch eher elegisch als epigrammatisch; was auch am Bau der Pentameter hörbar wird, die durchgängig auf ein antithetischens Gegeneinander der beiden Pentameterhälften verzichten und den Satz über den Zusammenstoß zweier betonter Verssilben in der Versmitte vergleichsweise geräuschlos hinweggleiten lassen! Auffällig (und wohl nicht ganz so gelungen) die große Menge an Ergänzungen in Form eines Mittelworts – zögernden, bittender, lauerndem, welkenden, fröstelndem: die bieten sich sicher an in Hexa- und Pentameter, weil sie die Senkungen aus zwei unbetonten Silben bequem füllen und auch helfen, die langen Verse „vollzubekommen“; aber diese Bequemlichkeit bemerkt man beim Lesen durchaus, erst recht, wenn diese Mittelwörter an derselben Stelle aufeinanderfolgender Verse gebraucht werden, zum Beispiel im fünften Fuß, wie es hier bei Hoffmann in den beiden letzten Versen geschieht.

 

Wehe dem Unglückshaus, von dessen verödeter Schwelle
Zögernden Schrittes der Geist freundlicher Liebe entflieht.
Oftmals blickt er zurück, und es füllt sich mit Tränen das Auge,
Weil, ach! zur Umkehr nicht ladet ein bittender Wink.
Noch in der Ferne einmal. Umsonst! Er bleibt ein Verstoß’ner.
Trauernd verhüllt er das Haupt, wandelt die Straße und weint.
Aber da innen am Herd, am verlassenen, sitzet die Zwietracht;
Schweigend, mit lauerndem Blick stützt sie das Kinn auf die Hand,
Und die Flamme verlischt auf dem Herd im verderblichen Atem;
Blickt sie ihn an, so verstummt plötzlich des Vogels Gesang;
Dort an dem Fenster entfallen der Rose die welkenden Blätter,
Und von Gemach zu Gemach weht es mit fröstelndem Hauch.

 

Zu finden ist das Gedicht in Hoffmanns 1853 erschienenem „Breviarium der Ehe“  – er wird gewusst haben, warum …

Erzählverse: Der Blankvers (66)

Georg Heyms „Dionysos“ ist ein langes Gedicht; ich stelle hier die letzten fünfzehn Verse vor. Heym hat Dreiergruppen von ungereimten iambischen Fünfhebern geschrieben, also: von Blankversen. Vielleicht könnte man auch „Strophen“ sagen; aber wirkliche Strophen wiederholten auch die Anordnung der „männlichen“ und „weiblichen“ Schluss-Silben; und das geschieht eben nicht, die Dreiergruppen haben mal diese Versenden, mal andere:

 

Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.

Kehr wieder, Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.

Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.

Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens Traurigkeit.

Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.

 

Ein wirkungsvolles Gedicht, keine Frage! Das sicher auch durch die Art geprägt wird, auf die Satz und Vers fast immer zusammenfallen; deckungsgleich sind. Wie das im Expressionismus im Allgemeinen und bei Heym im Besonderen halt so üblich war … Ob auch die Verteilung von betonten (Im Textausschnitt in großer Überzahl) und unbetonten Schluss-Silben eine Rolle spielt?! Wer weiß; dafür müsste man sicher das ganze Gedicht ansehen.

Bücher zum Vers (79)

Eduard Belling: Die Metrik Schillers

Ein altes Werk, erschienen 1883 bei Koebner, und daher an vielen Stellen nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit; aber die knapp 350 Seiten enthalten trotzdem noch genug Nachdenkenswertes! Gegenstand der Betrachtung sind die Werke Friedrich Schillers, deren metrischer Aufbau aufs genaueste durchleuchtet wird.

Als Beispiel kann die Verteilung von „männlichen“ (betonte Schluss-Silbe) und „weiblichen“ (unbetonte Schluss-Silbe) Blankversen dienen; dazu sagt Belling, dort, wo die eine Art in beträchtlichem Umfang vorherrsche, entstehe dadurch ein spürbarer Ausdruckswert. Wallensteins Tod hat am Schluss des zweiten Aktes, in der Szene, in der Max und Octavio Piccolomini sich trennen,  57 Blankverse mit weiblichem Ausgang, aber nur 23 mit männlichem; das „passe recht gut zu dem elegischen Ton, der durch die ganze Szene klingt“. Das ist sicher eine Überlegung wert – ich gebe einige Verse, von Max gesprochen, damit man sich ein Bild machen kann:

 

Oh! wärst du wahr gewesen und gerade,
Nie kam es dahin, alles stünde anders!
Er hätte nicht das Schreckliche getan,
Die Guten hätten Kraft bei ihm behalten,
Nicht in der Schlechten Garn wär‘ er gefallen.
Warum so heimlich, hinterlistig lauernd
Gleich einem Dieb und Diebeshelfer schleichen?
Unsel’ge Falschheit! Mutter alles Bösen!
Du jammerbringende, verderbest uns!
Wahrhaftigkeit, die reine, hätt‘ uns alle,
Die welterhaltende, gerettet. Vater!
Ich kann dich nicht entschuldigen, ich kann’s nicht.
Der Herzog hat mich hintergangen, schrecklich,
Du aber hast viel besser nicht gehandelt.

 

– Nur zwei männlich endede Verse, so dass die angesprochene Wirkung hier deutlich werden müsste?! Hm. Wer nicht Bellings Meinung ist und den Weg seiner Gedanken für nicht geradlinig hält, kann das immerhin mit Max‘ Vers, der den obigen unmittelbar vorausgeht, zum Ausdruck bringen:

 

Dein Weg ist krumm, er ist der meine nicht.

 

Der dann, passenderweise, nicht weiblich, sondern männlich schließt …

Grabspruch

Sieben Jahre, dann löschte ein Auto dein leuchtendes Dasein,
Quintus, mein Kater! aus – Ruhe in Frieden, mein Freund.

Die Bewegungsschule (43)

Ein dritter und letzter Tagebucheintrag von Friedrich Hebbel, wieder aus dem Februar 1849 (tatsächlich stehen alle drei auf derselben Seite); diesmal aber einer, den man zwar „verversen“ kann, bei dem man aber auf jeden Fall davon Abstand nehmen sollte:

 

Würmer haben keine Löwenschmerzen, Löwen teilen aber Würmerschmerzen.

 

Das lässt sich als ein Paar trochäischer Fünfheber lesen:

Würmer haben keine Löwenschmerzen,
Löwen teilen aber Würmerschmerzen.

– Es klingt aber schrecklich! Was am Zusammenfall der metrischen Einheiten mit den Sinn-, beziehungsweise hier sogar:  der Worteinheiten liegt: jedes „TAM ta“ wird durch ein entsprechend gebautes Wort ausgefüllt, „Würmer“, wen“ …

Würmer / haben / keine / wen- / schmerzen,
wen / teilen / aber / Würmer- / schmerzen.

Ein übles Geleier und nicht zu gebrauchen, es sei denn als abschreckendes Beispiel für die Gefahren, die bei Versen mit trochäischem Metrum auf den unachtsamen Versebastler lauern!

Die Bewegungsschule (42)

Eine der wunderlicheren Freuden im Leben eines Versebastlers ist es, nichtsahnender Prosasprache, schwupps! ein Verskleid überzuziehen. Zum Beispiel diesem Eintrag aus Friedrich Hebbels Tagebüchern (wieder aus dem Februar 1849):

 

Wenn ein Hund bellt und ein Mensch spricht: ist das eine Konversation?

 

Die erste Hälfte, das sind eindeutig zwei Ioniker:

Wenn ein Hund bellt / und ein Mensch spricht:

„ta ta TAM TAM / ta ta TAM TAM“ – gut, wer möchte, kann die zweite schwere Silbe sicherlich etwas leichter sprechen als die erste, das wäre dann „ta ta TAM TAM / ta ta TAM TAM“; aber dem Inhalt nach sind hier sicher auch zwei reine Ioniker möglich! Was aber macht man mit dem zweiten Teil?! Da sind die Dinge nicht ganz so klar … Ich schlage folgendes vor:

ist das eine / Konversation?

Also wieder ein Ioniker, diesmal aber ein fallender (die beiden anderen waren steigende); und zum Abschluss ein Choriambus: TAM TAM ta ta / TAM ta ta TAM. Das sieht erst einmal gewagt aus – „ist“ und „das“ sind vom Silbengewicht her kaum geeignet, zwei Betonungen zu tragen; und hinter ihnen das „eine“ in die Senkung zu drücken, ist auch eher schlechter Versbau. Aber hier geht es vielleicht doch, weil der Inhalt eine solche Lesung stützt, und wenn man es versuchsweise so spricht, scheint mir: das klingt! Also:

ta ta TAM TAM / ta ta TAM TAM || TAM TAM ta ta / TAM ta ta TAM

Mir gefällt es jedenfalls, und Hebbel wird es mir nachsehen. Hoffe ich …

Das Ein-Vers-Gedicht (18)

In Friedrich Hebbels Tagebüchern (sehr anregender Lesestoff!) findet sich im Februar 1849 folgender Eintrag:

 

Heute trat ich E. auf den Fuß und bat P. um Verzeihung.

 

Das ist, zum einen, das knappe schriftliche Festhalten eines doppelten Missgeschicks; es ist aber, zum anderen, auch ein Hexameter:

Heute / trat ich / E. auf den / Fuß || und bat / P. um Ver- / zeihung.

X x / X x / X x x / X || x x / X x x / X x

Gänzlich regelmäßig gebaut … Hebbel hat auch viele Distichen geschrieben und ein kürzeres Hexameter-Epos; die Bewegungslinien des Hexameters waren ihm also sicher vertraut! Trotzdem fehlt es Hebbels Satz, als Vers betrachtet! ein wenig an Schwung?! Ich glaube, dafür ist der doppelte Trochäus am Beginn verantwortlich; so was bremst doch immer sehr. Aber gut, so schrecklich entscheidend ist das nicht. Hinzu kommen sicherlich die beiden Abkürzungen „E.“ und „P.“, die zwei der wichtigen Hebungsstellen besetzen, aber zum sinnlichen Gehalt des Verses nichts beitragen!

Ein seltsamer kleiner Reim ist drin, „trat / bat“, in der Hexameter-Bewegung einmal Hebung und einmal Senkung; so wird er nicht ganz so stark hörbar, was eigentlich gut sein müsste?!

Erzählverse: Der Blankvers (65)

Es gibt unendlich viele völlig zurecht vergessene Gedichte, jedenfalls, wenn es ums ganze Werk geht; an einzelnen Stellen kann auch das schlechteste Gedicht etwas zu bieten haben, das aufhorchen lässt. Ein Beispiel ist „Der homerische Esel“ von Heinrich Joseph von Collin:

 

Wie laut Homeros oft den Esel rühmt,
Den nun die Welt nur mit Verachtung nennt.
Ich wag’s und preis‘ ihn auch, ein edles Tier!
Nur in der Knechtschaft wird er dumm und träge,
Was selbst der hohen Menschheit widerfährt;
Doch frei hüpft er, wie mutig, Wälder durch –
Er hat Gemüt, ist melancholisch worden.

 

Ja. Nichts besonderes, aber im vorletzten Vers hat Collin, zum Inhalt passend, eine versetzte Betonung im Versinnern:

Doch frei / hüpft er, / wie mu– / tig, Wäl– / der durch

Versetzte Betonungen im Versinnern gibt es beim Blankvers selten, und wenn, dann nach einem Sinneinschnitt, so dass die entstehende Sprechpause das Aufeinandertreffen der beiden betonten Silben abmildert. Hier stehen sie „einfach so“ nebeneinander, was aber gut zum „frei“ und zum „Hüpfen“ passt!