Erzählverse: Der Hexameter (113)

Rudolf Hamerling hat sich über die Form seines langen „Schwanenlieds der Romantik“ viele Gedanken gemacht. Entscheiden hat er sich am Ende für die Nibelungenstrophe, aber er hat zuvor auch einige Bruchstücke in Kanzonenform verfasst; und auch einige Teile in Hexametern! Von diesen stelle ich hier einen vor.

 

Aber am schönsten erglänzt, auf des nächtlichen Himmels azurnem
Grunde gemalt, San Marco, die schimmernde Goldarabeske,
Dämmrig zart, wie gehaucht, und doch so golden und farbig-
Hell, so ruhig und groß; schwerwuchtig auf mächtigen Quadern
Thronend und doch auch wieder so leicht, schwungkräftig und strebend,
Gleich als wär‘ eine Gondel der Dom, die, golden beflittert,
Wartet des Festaufzugs – prunkvoll, gleichschwebend und sicher
Rastend auf ruhiger Flut, doch bereit, pfeilschnell zu entgleiten;
Oder ein riesiger Vogel mit goldnem Gefieder, ein Phönix,
Der, aus ätherischen Höhen herab sich senkend, den Boden
Eben nur streift und schon wieder mit flammenden Fittichen aufstrebt.

 

– Da fällt so manches auf?! Die beiden heftigen Zeilensprünge gleich am Anfang, im ersten und im dritten Vers, zum Beispiel; aber vor allem die „geschleiften Spondeen“.  Hier …

Hell, so / ruhig und / groß; || schwer- / wuchtig auf / mächtigen / Quadern

… passt es noch wirklich gut zum Inhalt, und auch das „schwungkräftig“ mag noch angehen; aber dieser Vers …

Wartet des / Festauf- / zugs ||  – prunk- / voll, gleich- / schwebend und / sicher

v v / — — / || / — — / — v v / — v

… zeigt ganz gut, warum man mit diesem – auf jeden Fall zum Hexameter gehörenden! – Darstellungsmittel besser vorsichtig umgeht. Sicher, das „Prunkvolle“, Ungewöhnliche wird bekommt so Gestalt; aber der Vortragende muss sich doch sehr abmühen, um der Bewegungslinie Glaubhaftigkeit zu verleihen.

Dafür sind die letzten drei Verse sehr schön geworden und lassen ein klein wenig Bedauern aufkommen, dass am Ende doch nicht das ganze Werk in diesem Maß geschrieben worden ist!

Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (9)

„Brunnen-Strophe“, ich erwähnte es schon, ist ein Verlegenheits-Begriff; bei irgendeinem Namen muss diese Strophe ja genannt werden! Als ich heute kurz in Conrad Beyers „Deutsche Poetik“ schaute, stellte ich fest, dass er diese Aufgabe, nun, rustikaler gelöst hat: Da die Strophe leicht zu handhaben sei und daher von dilettierenden Dichtern sehr geschätzt werde, nannte Beyer sie einfach eine Dilettanten-Strophe. Tja … Nicht nett, aber wahrscheinlich zutreffend. Das folgende Werklein, „Liebe“, stammt von Victor Ludwig Eduard von Cambecq:

 

Die Lieb‘ ist eine Blume,
Im Paradies erblüht –
Ein lichter Traum, der wonnig
Das Menschenherz durchglüht.

Die Lieb‘ ist ein Gedanke
Der Gottheit, groß und schön –
Und wer ihn denkt, kann mutig
Dem Tod ins Auge seh’n.

 

Das ist, vielleicht: ein ganz gutes Beispiel für ein dilettierendes Gedicht. Sein Verfasser war mir gänzlich unbekannt, aber heutzutage gibt es ja nichts, was das Netz nicht weiß; und so erfuhr ich dann aus Franz Brümmers 1913 erschienenem „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“:

Cambecq, Victor Ludwig Eduard von, * 1833 in Dorpat, kam in seinem dritten Lebensjahre nach Kasan, wohin sein Vater als Professor des römischen Rechts für die dortige Universität versetzt worden war. In Kasan empfing der Sohn seine Bildung; er widmete sich naturwissenschaftlichen, historischen und besonders philologischen Studien, starb aber schon 1854, kurz vor Abschluss derselben.

Hm. Ein Leben von nur 21 Jahren … Da blieb dann auch nicht viel Zeit, aus dem Dilettanten-Dasein herauszuwachsen; und die Sache mit „Dem Tod ins Auge seh’n“ bekommt so einen etwas anderen Klang?!

Ohne Titel

Einer, der vom Leben dachte,
Dass es nichts als Mühe machte,
Und: „Ich kann doch nur gewinnen,
Scheide ich schon früh von hinnen“,
Sah am Ende seiner Zeiten
Seinen Tod die Arme breiten,
Dahinein er folgsam lief,
Langsam auch; pejorativ
Schien der Tod mit einem Mal –
Und dann war’s auch schon egal.

Mit Versen erzählen!? (5)

Verserzählungen werden heutzutage nicht geschrieben, und würden sie geschrieben, läse sie niemand; Romane dagegen werden in unüberschaubaren Mengen von Schreibern geschrieben und von Lesern gelesen.

Da macht es Sinn, die beiden Gattungen einmal nebeneinander zu halten!? Carl Spitteler schreibt in seinem kleinen Aufsatz „Das Kriterium der epischen Veranlagung“:

Als Kennzeichen der epischen Veranlagung gelten mir: die Herzenslust an der Fülle des Geschehens, seien es nun Taten oder Ereignisse, die Freude am farbigen Reichtum der Welt, und zwar, wohlgemerkt, Reichtum der äußeren Erscheinungen, die Sehnsucht nach fernen Horizonten, das durstige Bedürfnis nach Höhenluft, weit über den Alltagsboden, ja über die Wirklichkeitsgrenzen und Vernunftschranken.

Und wenig später:

Zur Kontrolle von der Gegenseite her dient mir als sicheres Kennzeichen des Nichtepikers: die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse – also an psychologischen Problemen -, an der wohlmotivierten logisch-vernünftigen Erzählung.

Das ist nichts für einen Epiker,

weil es ja das oberste Gesetz epischer Kunst ist, Seelenzustände in Erscheinung umzusetzen. Umständliche seelische Motivierung, von innen heraus geschildert, würde also jedesmal in einem epischen Gedichte einen Fehler bedeuten.

Demnach ist das, was ein Nichtepiker – also für gewöhnlich ein Romanerzähler – betreibt,

nicht etwas ähnliches auf anderer Stufe, nein, es ist das schnurgerade Gegenteil in allem und jedem.

Ich glaube, da ist etwas dran …

Wie aber fügt sich der Vers hier ein?! Das legt Spitteler in einem anderen Text dar, „Über die tiefere Bedeutung von Vers und Reim“. Darin ordnet er der Prosa die „Verstandeslogik“ zu, der lyrischen Dichtung die „Gefühlslogik“, der epischen Dichtung aber die „Phantasielogik“ oder auch „Bildlogik“; und erklärt, zum Gelingen eines Textes sei es nötig, dass der Leser ihn im Rahmen der dazugehörigen  Logik wahrnimmt!

Der Rhythmus stimmt die Seele des Hörers anders, als sie im gewöhnlichen Alltagsleben gestimmt ist, denn in dem spricht man Prosa; der Rhythmus weckt Bedürfnisse, die unter den gewöhnlichen Umständen schlummern, rückt Dinge, die im Hintergrund der Seele ruhten, an den ersten Platz und beseitigt dafür andere, die im täglichen Leben das große Wort führen. Die Seele des Hörers erwartet und begehrt einen anderen Inhalt von der rhythmischen Rede als von der prosaischen Rede und ist gewillt, gewissen Ansprüchen, die sie an die prosaische Rede oder Erzählung stellt, zu entsagen.

Und etwas weiter:

Wenn ich eine epische Poesie ohne starkschwingenden Rhythmus und ohne Vers und Reim bringen wolle, so würde ich unter die Herrschaft der nüchternen Verstandeslogik zu stehen kommen; der Hörer würde den Mangel einer Einleitung, einer genauen Situationsbeschreibung, die Unterlassung der Charakterschilderung als Lücken, die Gedankensprünge als Stöße und beides als Fehler empfinden. Auch hier erzeugen Rhythmus, Metrum und Reim andere Seelenstimmung, andere Wünsche und dadurch die Herrschaft einer anderen, höheren Logik.

Das steht nun auf wackligeren Füßen, finde ich; aber ein nachdenkenswerter Gedanke ist es allemal!

Erzählformen: Das Reimpaar (24)

Der folgende, aus vier Reimpaaren bestehende und dabei recht hemdsärmlige Text stammt aus der Feder Wilhelm Buschs:

 

Ich saß vergnüglich bei dem Wein
Und schenkte eben wieder ein.
Auf einmal fuhr mir in die Zeh
Ein sonderbar pikantes Weh.
Ich schob mein Glas sogleich beiseit
Und hinkte in die Einsamkeit
Und wusste, was ich nicht gewusst:
Der Schmerz ist Herr und Sklavin ist die Lust.

 

Bemerkenswert ist er vor allem wegen der höchst eigenartigen Wirkung, die von dem Schlussvers ausgeht, der nicht wie die sieben Verse davor vierhebig ist, sondern fünfhebig! Jedenfalls, solange man keine dreisilbige Senkung lesen möchte:

Der Schmerz/  ist Herr / und Skla– / vin ist die Lust.

Auch das ginge?! Die drei Silben sind sehr leicht, man kann sie schnell lesen. Oder man lässt den Vers durch eine sehr deutlichen Sprechpause nach „Herr“ in einen Zwei- und einen Dreiheber zerfallen:

Der Schmerz / ist Herr, || und Skla– / vin ist / die Lust.

Wieder ein anderer Gedanke: Eine Sprechpause innerhalb der dreisilbigen Senkung!

Der Schmerz / ist Herr / und Skla– / vin – || ist die Lust.

Warum nicht – aber irgendwie verhalten muss man sich zu diesem Abweichler, und das macht aus einem nicht besonders beeindruckenden Gedicht immerhin noch eine echte Aufgabe in Bezug auf das Versverständnis und den Vortrag …

Das Königreich von Sede (75)

Sommer ist es, Mittag ist es,
Und zum Tintenfässchen kommen
Viele Menschen, auszuruhen
Von der Arbeit auf den Feldern
Und zu essen und zu trinken.
Vor der Kneipe, in der Sonne
Sitzen sie und sitzt auch Schemel,
Sitzt der alte Narr des Königs,
Rülpst und nimmt zufrieden lächelnd
Seines Eintopfs letzte Reste
Auf den Löffel, isst sie, legt dann
Fort die Schüssel wie den Löffel,
Greift zur Laute, räuspert sich;
Und zu spielen und zu singen
Hebt er an, singt König Bodens
Sieben Nächte bei den Fröschen
,
Sich zur Freude und den andern.

Erzählverse: Der Hexameter (112)

Wenn man immer mal wieder in Bücher schaut, die sich mit Versfragen beschäftigen, stößt man unweigerlich auch auf weniger gelungenes; vor allem, wenn solche Versfragen gar nicht der eigentliche Gegenstand des Buches sind.

So erging es mir eben mit Ignaz Jeitteles‘ „Ästhetischem Lexikon“, erschienen 1839 bei Mösle & Braumüller; den dortigen Eintrag zum Hexameter kann man in weiten Teilen getrost als Unsinn bezeichnen.

Aber einige sinnvolle Aussagen sind selbstverständlich trotzdem enthalten. Zwei Beispiele:

– Je verschiedener die Teile des Hexameters durch die Einschnitte werden, desto schöner ist die Gliederung.

– Mehr Feile verdient immer die zweite Hälfte des Verses, weil die Schlussbewegungen am meisten auf das Ohr wirken.

Das ist so, dagegen lässt sich rein gar nichts sagen. Als Beispielverse dienen die berühmten, den Hexameter erklärenden Hexameter von Johann Heinrich Voß, die in ihrem Bau die jeweils verhandelten guten und schlechten Eigenschaften getreulich abbilden:

 

Dass wir geregelten Klang mit dem Ohr abmessen und Fingern,
Gnüget nicht; sondern damit auch keinerlei Tugend ihm mangle,
Sei der Gesang vieltönig im wechselnden Tanz der Empfindung.
Wenig behagen dem Ohre die Verse mit gleichem Getrippel;

 

Wobei der vierte Vers fünf amphibrachische Wortfüße, also Sinneinheiten der Form „x X x“ enthält, was der Forderung nach „Vieltönigkeit“ gerade entgegengesetzt ist!

Wenig / behagen / dem Ohre / die Verse / mit gleichem / Getrippel;

– Wirklich  ein in seiner Bewegung sehr eintöniger und damit langweiliger Vers! Was im Vergleich mit den ersten drei Versen erst richtig deutlich wird, die auf Amphibrachen fast vollständig verzichten.

Und wer das damals aus diesem merkwürdigen Eintrag mitgenommen hat: der hat etwas Wichtiges gelernt. Immerhin!