Die Bewegungsschule (55)

Der „große Bruder des Bewegungsschulenverses“ hat auch einen richtigen Namen, nur klingt der nicht besonders schön: „Katalektischer anapästischer Tetrameter“. Dann doch lieber „Aristophanischer Vers“, denn so heißt er auch! Aristophanes hat ihn viel in seinen Komödien benutzt, zum Beispiel in den 414 vor Christus zum ersten Mal aufgeführten „Vögeln“; in der ersten Szene wendet sich dort der Chorführer an die Zuschauer:

 

O ihr Menschen, verfallen dem dunklen Geschick, „den Blättern des Waldes vergleichbar“,
Ohnmächtige Zwerge, Gebilde von Lehm, traumähnliche Schattengestalten,
O ihr Eintagsfliegen, der Flügel beraubt, ihr erbärmlich-verweslichen Wesen,
Jetzt lauschet und hört die Unsterblichen an, die erhabenen, ewiglich jungen,
Die ätherischen, himmlischen, seligen, uns, die Unendliches sinnenden Geister,
Die euch offenbaren die Lehre vom All und den überirdischen Dingen:

 

Nun weiß ich nicht, was da im griechischen Ursprungstext steht, sondern kenne nur die (klassische) Übersetzung von Ludwig Seeger; die aber hat viele wunderbare Stellen, an denen die Sprache so kraftvoll und doch immer beherrscht und gebändigt dahinströmt, dass es eine Freude ist!

(Im letzten der angeführten Verse ist „euch“ betont: Die euch /offenba– / ren die Leh– / re vom All …, TAM TAM / ta ta TAM / ta | ta TAM / ta ta TAM || … Das stellt wahrscheinlich wieder einmal das Offensichtliche fest, aber ich dachte, ich erwähne es sicherhaltshalber.)

Erzählverse: Der Hexameter (134)

Im Anschluss an (133), und im Vergleich zu Friedrich Rückerts Distichen aus dem vorletzten Beitrag hier ein Epigramm desselben Verfassers, bestehend nicht aus Hexa- und Pentameter, sondern aus zwei Hexametern:

 

Leicht ersteigst du den Berg mit frischen Füßen und Sinnen;
Sorg‘ im Gemüt, ein Steinchen im Schuh, und im Ebenen hinkst du.

 

Rund, abgeschlossen, gelungen!

Der zweite Hexameter zeigt in Bezug auf die Wortfüße einen sehr gelungenen Aufbau, finde ich:

Sorg‘ / im Gemüt, / ein Steinchen / im Schuh, / und im Ebenen / hinkst du.

— / ◡ ◡ — / ◡ — ◡ / ◡ — / ◡ ◡ — ◡ ◡ / — ◡

Genau die Art von Vielfalt, die den gelungenen Hexameter ausmacht …

Das Königreich von Sede (86)

Sitzt der Frosch auch unbeweglich,
Wandert doch sein Schatten weiter,
Hastig nicht und nicht gemächlich,
Eines Schrittes mit der Sonne,
Bis er einer Nacht begegnet,
Selbst zur Nacht wird und die Dinge
In sich aufnimmt und verwandelt,
Und vom Frosch, der ihn geworfen,
Nicht mehr weiß; der fortgehüpft ist.

Erzählformen: Das Distichon (23)

Wenn Dichter Hintergrundwissen zu ihren Werken preisgeben, ist das immer gut und ein Grund, genau hinzuhören. Friedrich Rückert tat solches in seinem Liedertagebuch-Eintrag vom 8. Januar 1846:

 

Nachhornrufserinnerung

Heute Nacht, gegen Morgen, als die Wächter in Berlin abriefen, wachte ich auf mit der Erinnerung an zwei Distichen, die ich vor 36 Jahren in Jena, in einer einsamen Nacht, geschrieben, und damals in Erinnerung an einen früheren Hornruf, aus meiner Kindheit in Oberlauringen, da ich als Knabe dem Nachtwächterhorne des Dorfes in der stillen Nacht ein andres aus dem Nachbardorfe über den Berg her (Theinfeld heißt das Dorf, wohin ich selbst meines Wissens nie hineingekommen, sondern es nur einmal von ferne gesehen) antworten hörte. Die zwei Distichen aber sind diese, von denen ich jetzt mich nicht erinnern kann, ob sie gedruckt sind, was sie wegen eines eigenen warmen Hauches, der sie durchatmet, wohl zu verdienen scheinen:

Ruhn sie? Rufet das Horn des Wächters drüben im Osten;
Und aus Westen das Horn rufet dagegen: Sie ruhn!
Hörst du, zagendes Herz, die tröstenden Stimmen der Engel?
Lösche die Lampe getrost, hülle in Frieden dich ein!

 

– Soweit Rückert. Ein „warmer Hauch, der sie durchatmet“: In der Tat. Wobei mir das erste Distichon etwas besser gefällt als das zweite, auch, weil der Pentameter nicht den harten Bruch aufweist, der sich im Deutschen leider oft an dieser Stelle findet, sondern den Satz über das Zusammentreffen der beiden schweren Silben in schöner Weise hinweggleiten lässt.

Erzählverse: Der iambische Vierheber (8)

Christian Morgenstern hat eine Reihe von Gedichten geschrieben, die Träume beschreiben – alle recht eigenartig, alle sehr lesenwert. Darunter ist auch „Der gläserne Sarg“:

Zwölf stumme Männer trugen mich
in einem Sarge von Kristall
hinunter an des Meeres Strand,
bis an der Brandung Rand hinaus.
So hatte ich’s im Testament
bestimmt: Man bette meinen Leib
in einem Sarge von Kristall
und trage ihn der Ebbe nach,
bis sie den tiefsten Stand erreicht.
Der Sonne ungeheurer Gott
stand bis zum Gürtel schon im Meer:
An seinem Glanze tränkte sich
wollüstig noch einmal die Welt.
Ich selber lag in rotem Schein
wie ein Gebilde aus Porphyr.
Da streckte katzengleich die Flut
die erste Welle nach mir aus.
Und ging zurück und schob sich vor
und tastete am Sarg hinauf
und wandte flüsternd sich zur Flucht.
Und kam zurück und griff und stieß
und raunte lauter, warf sich kühn
darüber, einmal, viele Mal.
Und blieb, und ihrer Macht gewiss
umlief frohlockend sie mein Haus
und pochte dran und schäumte auf,
als ihrer Faust es widerstand.
Und hoch und höher wuchs und wuchs
das Wasser um mein gläsern Schloss.
Nun wankte es, als hätt‘ ein Arm
und noch ein Arm es rauh gepackt,
und scholl in allen Fugen, als
ein Wellenberg auf ihm sich brach
und es wie ein Lawinensturz
umdröhnte und verschüttete.
Und langsam wich der nasse Sand.
Und seitlings neigte sich der Sarg.
Und, unterwühlt und übertobt,
begann er um sich selber sich
schwerfällig in die See zu drehn.
Zu mächtig, dass die Brandung ihn
zum Strand zu schleppen hätt‘ vermocht,
vergrub er rollend sich und mich
in totenstillen Meeresgrund.
So lag ich denn, wie ich gewollt.
Und dunkle Fische zogen still
zu meinen Häupten hin und her.
Und schwarzer Seetang überschwamm
mein Grab. Und mein Bewusstsein schwand.

– Es soll ja Leute geben, die die Verwendung von „und“ am Versanfang für unschicklich halten; denen wird dieser Text keine Freude machen. Davon abgesehen hat er aber einen ganz eigenen Ton, sehr „morgensternisch“; und ich bezweifle, dass dieser Ton in anderen Maßen so gut erreichbar gewesen wäre, wie er hier mit dem iambischen Vierheber glückt …

Erzählverse: Der Hexameter (133)

Ich erwähnte es schon: ein Hexameter und ein Pentameter, im (einzelnen) Distichon verbunden, eröffnen einen wunderbar geschlossenen Raum – doch zwei Hexameter sind, auf ihre Weise, ein ebenso tauglicher Rahmen.

Deutlich macht das zum Beispiel ein Rätsel von Christian Ludwig Neuffer:

 

Einem Manne verlobt hat sich mein Erstes; das Zweite
Birgt vor dem Auge des Tags die trunkene Wonne des Ganzen.

 

Gesucht ist ein zweisilbiger, heute nicht mehr häufig verwendeter Begriff: Die Brautnacht! Das mag nun ein gutes Rätsel sein oder auch nicht; vom Versstandpunkt aus wichtiger ist der Umstand, dass die beiden Hexameter als eine abgeschlossene Einheit erfahrbar werden.

Erzählverse: Der iambische Trimeter (22)

Ich habe mich am Wochenende über den Trimeter unterhalten, und ein wenig über ihn nach gedacht; eine gute Gelegenheit, wieder einmal einen der bewundertswerten Trimeter-Texte von Eduard Mörike vorzustellen. Wer mag, kann ihn auf seine Versbewegung hin anhören; der mühelosen Selbstverständlichkeit, die Mörike hier erreicht, auf die Schliche zu kommen, ist die dabei aufgewendete Zeit auf jeden Fall wert – ein „unnennbarer Reiz“, wie es der Text selbst sagt.

 

Göttliche Reminiszenz

Vorlängst sah ich ein wundersames Bild gemalt,
Im Kloster der Kartäuser, das ich oft besucht.
Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging,
Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat,
Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir.

An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum,
Von zweien Palmen überschattet, magre Kost
Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang,
Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein;
Ein weißes Vlies als Polster ist ihm unterlegt.
Nicht allzu kindlich deuchte mir das schöne Kind;
Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon,
Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab
Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum,
Hat die gesunden, zarten Wangen sanft gebräunt;
Aus schwarzen Augen leuchtet stille Feuerkraft,
Den Mund jedoch umfremdet unnennbarer Reiz.
Ein alter Hirte, freundlich zu dem Kind gebeugt,
Gab ihm soeben ein versteinert Meergewächs,
Seltsam gestaltet, in die Hand zum Zeitvertreib.
Der Knabe hat das Wunderding beschaut, und jetzt,
Gleichsam betroffen, spannet sich der weite Blick,
Entgegen dir, doch wirklich ohne Gegenstand,
Durchdringend ewge Zeitenfernen, grenzenlos:
Als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz
Der Gottheit, ein Erinnern, das im gleichen Nu
Erloschen sein wird; und das welterschaffende,
Das Wort von Anfang, als ein spielend Erdenkind
Mit Lächeln zeigt’s unwissend dir sein eigen Werk.

Satz und Vers

Das Verhältnis von Satz und Vers, beziehungsweise das Verhältnis von Satzeinschnitten und Verseinschnitten kam beim Verserzähler schon in Der Hexameter (78) zur Sprache, wo Johann Heinrich Voß‘ Anmerkungen aus seiner „Georgica-Vorrede“ vorgestellt wurden.

In diesem Eintrag soll es um denselben Gedanken gehen, vorgeführt und verdeutlicht aber nicht am Hexameter, sondern am Alexandriner, genauer: an einigen Alexandriner-Couplets des Barock-Epigrammatikers Friedrich von Logau!

 

Der Tod

Ich fürchte nicht den Tod, der mich zu nehmen kümmt;
Ich fürchte mehr den Tod, der mir die Meinen nimmt.

 

Hier fallen der Satzeinschnitt, beziehungsweise der Einschitt zwischen Haupt- und Nebensatz, mit dem (beim Alexandriner immer nach der sechsten Silbe liegenden) Verseinschnitt zusammen:

x X x X x X || x X x X x X

Das muss aber nicht so sein!

 

Die Sünden

Die Sünden scheiden Gott von uns und uns von Gott;
Ach, da wo Gott nicht ist, ist lauter Höll und Tod.

 

Der Satzeinschnitt liegt im ersten Vers hier:

Die Sünden scheiden Gott von uns || und uns von Gott;

Der Verseinschnitt liegt dagegen zwei Silben weiter vorne …

Die Sünden scheiden Gott || von uns und uns von Gott;

… und ich denke, er sollte im Vortrag auch hörbar gemacht werden, zumindest durch ein ganz kurzes Zögern und Absetzen; denn er hat hier durchaus eine Wirkung, da er die Scheidung Gott / Mensch erfahrbar macht!

 

Liebe brennt

Die Fische lieben auch; mag Wasser-Liebe brennen?
Kein Fisch bin ich, und sie sind stumm; wer will’s bekennen?

 

Hier geht es um den durch zwei kräftige Satzeinschnitte dreigeteilten zweiten Vers. Trotzdem ist der Verseinschnitt da – und kann auch hier zur Geltung gebracht werden! Dass dies möglich und sinnvoll ist, zeigt das Einfügen eines zusätzlichen Satzzeichens:

Kein Fisch bin ich, und sie – sind stumm; wer wills bekennen?

Ein kurzes Zögern vor der Pointe; das wird dem Inhalt gerecht, glaube ich.

 

Steuer-Kalender

Im Steuer-Almanach ist keine rote Schrift;
Sie feiert, weil die Welt steht, keine Stunde nicht.

 

In diesem Epigramm (leicht unverständlichen Inhalts) führt der zweite Vers die weitestmögliche Unterdrückung des Verseinschnitts vor; die kräftigen Satzeinschnitte liegen vorne und hinten, und der Verseinschnitt in der Mitte bleibt unhörbar. Dass er aber da ist und den Vers gliedert, zeigt der Wortschluss, der mit dem Schluss des ersten Halbverses zusammenfällt („Welt“)! Das ist die Grenze, die nicht überschritten werden darf, soll ein Vers noch als Alexandriner gelten.

Im allgemeinen aber fallen Satz- und Verseinschnitt weit häufiger zusammen, als dass sie auseinandertreten; und so hat man den Alexandriner im Ohr. Das letzte hier vorgestellte Epigramm Logaus hält es auch so:

 

Frühling und Herbst

Der Frühling ist zwar schön; doch wann der Herbst nicht wär,
Wär zwar das Auge satt, der Magen aber leer.