Poetische Sprache

Der vor einiger Zeit schon einmal beim Verserzähler, genauer: hier aufgetretene Charles Nodier treibt immer noch sein bruchstückhaftes Wesen in meinen Papierhaufen – diesmal in Form von vier nicht mit einer Quellenangabe versehenen Kopien, die einen Text Nodiers mit dem Titel „Poetische Sprache“ enthalten. Ein kurzer Auszug:

„Das Unglück unserer perfektionierten Sprachen besteht darin, dass sie Wörter für alle ideelichen Nuancen geschaffen haben. Bei den Völkern mit umfangreichem Sprachschatz ist das Wort nur noch das Kleingeld der Empfindung, ein exaktes Zeichen, wenn man so sagen will, in seinem gebräuchlichen Sinn. Es ist eine minderwertige Münze und kein Gold mehr. Wir fragen uns oft, warum die Poesie sich selbst den Bemühungen des Genies in den alternden Sprachen fast immer verschließt.  Der Grund ist leicht zu finden. Er besteht darin, dass es außerhalb einer armen Sprache keine Poesie gibt.“

Das kann man mit einigem Recht für Unsinn halten; und kann, trotzdem, darüber nachdenken …

Erzählformen: Der Zweiheber (22)

Zweiheber verstärken. Das bekannte „Nachtwächterlied“ zum Beispiel hat eine einprägsame Strophenform:

 

Hört, ihr Leut, und lasst euch sagen:
Unsre Glock hat Zwölf geschlagen!
Zwölf, das ist das Ziel der Zeit;
Mensch, bedenk die Ewigkeit!

 

– Ein weiblich schließendes Reimpaar aus trochäischen Vierhebern, dem ein männlich schließendes folgt; wodurch die Strophe ein kräftiges, kantiges Ende bekommt nach einem weichen, fließenden Beginn.

Derselbe Aufbau in einem kurzen „Sinngedicht“ des wunderbaren Barock-Epigrammtikers Friedrich von Logau:

 

Klug an Hirne,
Schön an Stirne
Bringt den Mann
Hoch hinan.

 

Und da ist durch die kurzen Zweiheber-Verse die beschriebene Wirkung noch stärker zu spüren?!

Wortvergnügt (4)

Heute ist mir ein ungewöhnliches Wort aufgefallen in einem Brief, den Gottfried August Bürger an Christian Gottlob Heyne geschrieben hat – der entsprechende Satz:

Da es indessen keine Kunst sein würde, gegengrob zu sein, so täte dies alles noch nichts.

Gegengrob! Höchst ungewöhnlich, werden doch mit dem Präfix „gegen-“ nur Substantive gebildet, „Gegen-satz“, „Gegen-teil“, und viele mehr. Aber Adjektive?!

Der Online-Grimm führt zu gegenhart an:

Gegenhart, gekürzt aus hart gegen hart, Hartes mit Hartem vergeltend, und ergänzt: Es wird solcher kurz und fein bezeichnenden Adjektivbildungen mit „gegen“ mehr gegeben haben.

„Kurz und fein bezeichnend“ – das trifft es gut, glaube ich?! Zu gegenklug finden sich im Grimm noch diese Verse von Burkhard Waldis:

Es ist mancher so gar verschlagen
Und denkt, er sei so klug allein.
So find’t er doch zu Zeiten ein‘,
Der auch geschickt und gegenklug
Kann Trug vergelten mit Betrug.

Schon etwas älter, keine Frage, aber trotzdem ein schönes Beispiel für eine Gestaltungsmöglichkeit, die man im Hinterkopf behalten sollte – wirksam ist sie sicherlich!

Erzählformen: Das Distichon (22)

Gustav Theodor Fechner hat viele Versrätsel geschrieben; unter anderem auch ein längeres in Distichen. Dessen Anfang lautet:

 

Halb wie Hufschlag klingt’s und halb wie Tritte von Männern,
jetzt wie Leiergetön, wieder wie Flügelgerausch.
Naht eine festliche Schar? Es ist ein einziges Ross nur,
das sich selber zum Gang schlägt mit den Flügeln Musik.
Jetzo geht es im Schritt, im Trab, dann wieder im Fluge,
immer nach eigener Lust, nimmer nach eigenem Ziel;
denn es lenket das Ross ein hochgewaltiger Reiter,
ohne zu zügeln den Gang, sicherem Ziele doch zu.
Wer den Blick nicht erhebt, der schaut vom Ritt nur die Füße,
viere wechselnd im Takt, zween im sicheren Sitz;
höret tönen den Huf und stehet und lauschet und staunet,
ahnend, ein Mächtiges sei’s, was ihm betäubet das Ohr.
Aber wes Auge begegnet dem Auge des reitenden Geistes,
den erfasst er sogleich, führet im Ritt ihn dahin.

 

Und später dann:

 

Ruhig wandelt er nun, das Ross geleitend am Zügel,
strafend den raschen Schritt, neben der lieblichsten Frau.
Sorglich ein jedes misst den Schritt nach dein Schritte des andern,
Anmut sahst du und Kraft nimmer so traulich gesellt.
Niemals geht sie allein, nicht wär‘ es geziemend dem Weibe,
aber an seiner Hand gerne betritt sie die Flur.
Zarter ist sie gebaut und auch nach anderm Verhältnis,
mit dem holdesten Reiz gürtet ein Band ihr den Leib.
Fünf der Füße nur misst, was sechs bei ihm hat gemessen,
wie so anmutvoll schaut sie zum Höheren auf!

 

Ich denke, diese Ausschnitte genügen, um die beiden gesuchten Begriffe zu finden? Er ist der Hexameter, sie ist der Pentameter! Der zweite Teil gibt da, seines nicht mehr ganz zeitgemäßen Frauenbildes ungeachtet, doch deutliche HInweise. Am besten gefällt mir aber dieses Distichon aus dem ersten Abschnitt:

Wer den Blick nicht erhebt, der schaut vom Ritt nur die Füße,
viere wechselnd im Takt, zween im sicheren Sitz;

– Das verbindet das Gezeigte und das Gemeinte auf wirklich überraschend-kluge Weise!

Erzählformen: Der Zweiheber (21)

Wieder eine neue Möglichkeit der Zweiheber-Gestaltung zeigt ein Gedicht Karl Krolows, das sich in seiner 1988 bei Suhrkamp erschienenen Gedichtsammlung „Als es soweit war“ findet:

 

Was war, was ist:
es bleibt die Frist,
die uns gesetzt.

Nicht eine Spur –
wir wissen nur,
was bis zuletzt

uns eigen war.
Doch Haut und Haar
erbleichen jetzt.

Es fällt noch Licht
auf ein Gesicht,
das Abschied netzt:

im Lächeln feucht.
Die Hand: sie scheucht,
was uns verletzt,

was fassungslos
uns macht und bloß
noch uns entsetzt.

 

– Ganz regelmäßige, zweihebige Iamben „x X / x X“, zu Strophen zusammengesetzt aus einem Reimpaar und einem dritten Vers, der mit allen anderen dritten Versen reimt! Nun übt schon ein einfacher Reim bei so kurzen Versen eine starke Wirkung aus; das sechsmalige Vorkommen desselben Reimlauts steigert diese Wirkung allerdings noch einmal um ein Beträchtliches! Wobei ja die Reimwörter noch einmal von außen nach innen geordnet sind: „gesetzt“ / „entsetzt“, „zuletzt“ / „verletzt“, in der Mitte schließlich „jetzt“ / „netzt“. Dass sich in diesen Rahmen noch ein tragfähiger Inhalt einfügen lässt, erstaunt schon und zeugt von der Gestaltungskraft des Verfassers?! Ein wenig gezwungen wirkt es zwar hier und da, aber …

Erzählverse: Der Hexameter (132)

Manchmal finden sich in eigentlich ganz verschiedenartigen Hexameter-Epen Stellen, die sehr ähnlich aufgebaut sind. Im „Kirbisch“ von Anton Wildgans zu Beispiel kommt in den Jahren des ersten Weltkriegs ein Regierungsvertreter zu einem Dorfgendarmen, überrascht ihn beim Mittagsschlaf und

 

Ließ den Halbnackenden strammstehn und schnauzte ihn höhnisch und barsch an,
Ob er nicht wisse, dass Krieg sei, und ob er das Amtsblatt nicht lese!
Überall Hunger und Not, und hierorts lebe das Völkchen
Just wie in Abrahams Schoß und pfeife auf die Behörden!
Wenn der Gendarm nicht sofort, das heiße, binnen drei Tagen
Allen Erlässen bezüglich des Lebensmittelverbrauches
Geltung zu schaffen verstehe, so werde man Mittel und Wege
Unschwer finden genug, um ihn an die Front zu versetzen!
Knallte die Türe ins Schloss und stob mit dem Auto von dannen.

Schlotternd stand der Gendarm und rieb sich die glotzenden Augen,
Dann aber fasste ihn Wut und panische Angst vor dem Frontdienst,
Und er begann sich zu gürten, behelmte den Glatzkopf und pflanzte
Sein Bajonett aufs Gewehr und begab sich zum Störrischen Engel.
Dort konfiszierte er alles: Verbotenes und auch Erlaubtes,
Lärmte und spürte herum vom Dache bis in den Keller,
Nahm auch im Falle Crinis sofort ein Vorprotokoll auf
Und verließ das Lokal im Schweiße gebadet und grußlos.

 

Im viel älteren „Märchen vom sichern Mann“ von Eduard Mörike kommt der Gott Lolegrin den sicheren Mann, zählt dessen Verfehlungen auf und fährt dann fort:

 

„Siehe, dies wissen wir wohl, denn jegliches sehen die Götter.
Aber du reize sie länger nicht mehr! Es möchte dich reuen.
Schmeidige doch ein weniges deine borstige Seele!
Suche zusammen dein Wissen und lichte die rußigen Kammern
Deines Gehirns und besinne dich wohl auf alles und jedes,
Was dir geoffenbart; dann nimm den Griffel und zeichn‘ es
Fein mit Fleiß in ein Buch, damit es daure und bleibe;
Leg den Toten es aus in der Unterwelt! Sicherlich weißt du
Wohl die Pfade dahin und den Eingang, welcher dich nicht schreckt,
Denn du bist ja der sichere Mann mit den wackeren Stiefeln.
Lieber, und also scheid ich. Ade! wir sehen uns wieder.“

Sprach es, der schelmische Gott, und ließ den Alten alleine.
Der nun war wie verstürzt und stand ihm fast der Verstand still.
Halblaut hebt er zu brummen erst an und endlich zu fluchen,
Schandbare Worte zumal, gottloseste, nicht zu beschreiben.
Aber nachdem die Galle verraucht war und die Empörung,
Hielt er inne und schwieg; denn jetzo gemahnte der Geist ihn,
Nicht zu trotzen den Himmlischen, deren doch immer die Macht ist,

 

„… Sondern zu folgen vielmehr;“ und er geht an das Schreiben des verlangten Buches. Dinge wie der Aufbruch:

Knallte die Türe ins Schloss und stob mit dem Auto von dannen.

Sprach es, der schelmische Gott, und ließ den Alten alleine.

oder das sich an den Besuch anschließende Verhalten der Gemaßregelten:

Schlotternd stand der Gendarm und rieb sich die glotzenden Augen,

Der nun war wie verstürzt und stand ihm fast der Verstand still.

– Das klingt ähnlich und doch ganz anders; weil eben 70 Jahre und ein Weltkrieg dazwischen liegen.