Drei Stimmen

Der junge Dichter

Gedichte will ich schreiben,
Die niemand je vergisst,
Die im Gedächtnis bleiben:
Weil Wahrheit darin ist.

 

Der alte Dichter

So viel hab ich gedichtet,
Schön, herrlich, wunderbar:
Die Zeit hat es vernichtet,
Weil Wahrheit darin war.

 

Die Zeit

Ob schön, ob hässlich, trage
Dein Lied in mich hinein;
Am Ende aller Tage
Wird Wahrheit darin sein.

Erzählverse: Der Hexameter (147)

Ich habe die in (146) vorgestellten Überlegungen inzwischen an einem Text aus der Frühzeit des deutschen Hexameters geprüft: Das komische Epos „Murner in der Hölle“ von Justus Friedrich Wilhelm Zachariä.

Dessen vierter Gesang enthält 105 Hexameter, was ihn gut vergleichbar macht mit Goethes erster Epistel (106). Der „Murner“ hat einige Hexameter mehr, die daktlyisch beginnen, insgesamt sind es 44. Von diesen 44 haben 22, bezogen auf die ersten drei Füße, die Form 3-3-3; dann aber kommt schon das 3-2-3 mit 13 Hexametern, während vom Typ 3-3-2 nur neun Verse vorkommen! Das 3-2-2 fehlt ganz. Wie liest sich das? Nun, so (geschildert wird ein Paradies):

 

Hier ging munter das edle Ross auf grünenden Wiesen;
Frische Winde kräuselten ihm die fliegenden Mähnen,
Und es wieherte Freiheit. Auf holden blumigen Angern
Stand der nützliche Stier, auf ewig vom Joche befreiet.
Das unschuldige Schaf sprang auf dem lachenden Hügel
Scherzend einher, und erntete hier die süße Belohnung
Seiner Geduld und Nützlichkeit ein. Die blühenden Wälder
Schallten wieder von farbigen Sängern. …

 

Das klingt dafür, dass Zachariä kaum Vorbilder hatte und den Vers ganz aus dem eigenen Empfinden gestalten musste, schon ziemlich gut? Etwas sehr weich, und das Vokabular ist auch recht abgegriffen; aber beides passt ganz gut zum Inhalt, denke ich. Der vorgestellte Abschnitt hat gleich zwei aufeinanderfolgende 3-2-3-Hexameter:

Scherzend einher, | und erntete hier | die süße Belohnung
Seiner Geduld | und Nützlichkeit ein. | Die blühenden Wälder

Wieder der schon bei Goethe häufige Bau: Eine Sinn- und damit Wortgrenze im zweiten Fuß, samt der eigentlichen Zäsur im vierten Fuß! Von den 13 3-2-3-Hexametern sind fünf so gebaut. Drei haben gleichfalls zwei Einschnitte, den ersten aber nach dem zweiten Fuß:

Räubrische Füchse | liegen gefesselt | an feurigen Ketten

Hölle statt Paradies, diesmal – auch in Bezug auf die Versbewegung; das eigentlich für den Schluss des Verses vorgesehene „X x x X x“ erklingt hier gleich zweimal nacheinander am Versbeginn und in der Versmitte! Auch nicht schön:

Ratten und Mäuse, | Schlangen und Eidechsen, | Spinnen und Raupen

Ein Vers ohne jede Spannung, der in Teilverse zerfällt?! Die fehlenden fünf Verse haben im 3-2-3 ein zweisilbiges Wort als „2“, dafür aber eine Zäsur im dritten Fuß – oder gar keine:

Bis er zu jenen glücklichen Wäldern und Auen gelangte

Was auch nicht gut ist eigentlich; der Vers wird verschwommen und dabei gehetzt. Aber das sind so die Dinge, die die deutschen Dichter erst einmal erproben mussten. Fünfzig Jahre später hätte sich Hölderlin einen solchen Vers kaum noch erlaubt, und Mörike hundert Jahre später schon gar nicht; aber der baute ja auch auf dem umfangreichen Hexameter-Wissen auf, das drei Generationen Dichter zuvor gesammelt hatten!

Und nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Sehr viele von Zachariäs Versen sind wirklich gelungen, dieser 3-2-3-Hexameter zum Beispiel:

Seelen von Papageien, bestimmt, in Weise zu fahren

Da gibt es nicht das geringste zu bekritten, denke ich – ein feiner Vers!

Erzählverse: Der Hexameter (146)

Mir geht immer noch der in (145) erwähnte, 1821 im Rahmen einer Rezension der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ gefallene Satz im Kopf herum:

Auch ist es nicht gut, wenn nach einem daktylischen Anfang ein Spondeus, der nicht einmal ein voller ist, wieder einem nachfolgenden Daktylus vorangeht.

Hm. Im „klassischen deutschen Hexameter“ ist in der ersten Vershälfte die häufigste Anordnung von drei- und zweisilbigen Versfüßen das 2-3-2: Trochäus-Daktylus-Trochäus (oder eben „nicht voller Spondeus“ statt „Trochäus“, was hier aber gleichgültig ist). Warum gerade diese Bewegung so beliebt ist, ist leicht zu verstehen: Im ersten Fuß nimmt der Vers Bewegung auf, im zweiten bildet sich diese Bewegung rein, also daktylisch aus, und im dritten bremst sie schon wieder, weil sich dort meist die Zäsur befindet, eine Pause also.

Goethe hat unendlich viele so beginnende Hexameter, und besonders viele Daktylen im zweiten Fuß. Da ist anzunehmen, dass die Anordnungen der ersten drei Füße, die mit einem Daktylus beginnen, Ableitungen dieser Grundform sind – und tatsächlich: Schaut man die „erste Epistel“ durch, finden sich auf 106 Hexameter nur 34, die mit einem Daktylus beginnen; und darunter sind 14 der Form 3-3-2 und zwölf der Form 3-3-3 – das sind die besagten Ableitungen!

3-2-3, die in der Rezension erwähnte Form, ist nichts weniger als eine Umkehrung der gewöhnlichen Bewegung und sollte daher zwar vorkommen (der Hexameter lebt von der Abwechslung!), aber deutlich seltener; und in der Tat greift Goethe nur siebenmal zu dieser Anordnung der Füße (der dann noch fehlende Fall ist logischerweise ein 3-2-2).

Noch ein Gedanke: Wenn der zweite Fuß zweisilbig ist – liegt dort vielleicht eine verlangsamende Sinngrenze? Und ist die dann, wie so oft, mit einer Zäsur im vierten Fuß verbunden?! Nachzählen ergibt: vier der sieben Verse weisen diesen Bau auf! Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Beispiele:

Wäre Homer | von allen gehört, | von allen gelesen,
Schmeichelt‘ er nicht | dem Geiste sich ein, | es sei auch der Hörer,

Die Sinngrenzen sind nicht allzu deutlich, aber da (und rein äußerlich am Wortschluss nach der vierten Silbe erkennbar). Einige Verse später klingt der Einschnitt deutlicher:

Göttlich verehrt, | ein Märchen erzählen. | In Kreise geschlossen,

Auch die Zäsur im vierten Fuß ist klar vernehmbar. Der vierte so gebaute Vers ist wieder flüchtiger:

Müsset Ihr Euch | erst würdig beweisen | und tüchtig zum Bürger.

Für alle vier aber gilt: Das sind ganz feine Hexameter, und keiner von ihnen stützt die Behauptung der Rezension! Ein wenig anders sieht es mit den drei verbleibenden Versen aus:

Aber bestärken | kannst du ihn wohl | in seiner Gesinnung

Dieser Gesellschaft | jemals betrat; | sie lieget im Meere

Diese beiden Hexameter sind genau gleich gebaut und weisen wie die vier schon gezeigten zwei Einschnitte auf, den zweiten im vierten Fuß; der erste aber liegt diesmal hinter dem zweiten Fuß, was nicht ganz so glücklich ist, weil dadurch am Versanfang ein „X x x X x“ hörbar wird; und das ist bekanntlich die Bewegung, die beständig am Hexameterschluss wiederkehrt und ihn dem Ohr kennzeichnet! Hier hätte der Rezensent also einen Punkt gemacht …

Der verbleibende Vers zeigt aber, dass das 3-2-3 bei fehlender Sinngrenze im / nach dem zweiten Fuß  und Einschnitt im dritten Fuß völlig bedenkenlos ist:

Sollen wir freudig horchen | und willig gehorchen, so musst du

Kein „X x x X x“ vernehmbar zu Beginn! Und wenn, wäre das auch nicht schlimm; einmal ist keinmal. Nur zur Gewohnheit sollte es nicht werden, sonst geht das Gespür für den Versschluss verloren. („gehorchen, so“ ist kein Vers-, sondern ein Satzeinschnitt, der hier nicht von Bedeutung ist.)

Und was sagt das alles jetzt genau? Vielleicht das: Hexameter beginnen selten mit der Verteilung 3-2-3. Tun sie’s, haben sie oft eine Wortgrenze nach der vierten Silbe. Bildet die „2“ des 3-2-3 ein Wort der Form „X x“, ist die Gefahr da, das am Versanfang ein unpassendes „X x x X x“  aufklingt!

Wobei die Betonung auf „vielleicht“ liegt – da müsste man jetzt viel größere Versmengen durchsehen, sowohl von Goethe als auch von anderen Verfassern. Und die zeigen dann, vielleicht: Alles ist ganz anders. Die aufgewendete Mühe lohnt sich aber in jedem Fall, denn das Nachdenken über die Versbewegung ist beim Hexameter immer „erste Verfasser-Pflicht“ … (Und ich denke, ein paar kleine weitere Stichproben schaue ich mir auch wirklich noch an.)

Von den Dingen, die nicht sind

Sag mir, wo die Drachen fliegen, groß und stark und schön!
Hör denn, wo die Drachen fliegen, herrlich anzusehn:

Es gibt sie nicht, was leider heißt, sie fliegen nur in deinem Geist.

Das ist, wo die Drachen fliegen, herrlich anzusehn?
Das ist, wo die Drachen fliegen, groß und stark und schön.

Erzählverse: Der Hexameter (145)

Das 19. Jahrhundert hat Dutzende Hexameter-Texte hervorgebracht, die heute niemandem mehr zumutbar sind; einer davon ist „Hermann der Cherusker. Ein Heldengedicht in zwölf Gesängen“ von Georg Christian Braun, erschienen 1819. Irgendein Ansatzpunkt für sinnvolles Nachdenken findet sich aber doch immer – hier ist es eine Rezension aus der  „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ von 1821, in der in Bezug auf die Versbewegung unter anderem behauptet wird:

Auch ist es nicht gut, wenn nach einem daktylischen Anfang ein Spondeus, der nicht einmal ein voller ist, wieder einem nachfolgenden Daktylus vorangeht, wie es in mehreren Hexametern des Verfassers der Fall ist:

Stumm und der / Vater / wandelt für / sich || den / schweigenden / Weg fort

— ◡ ◡ / — ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡

Hm – das ist mir gänzlich neu … Aber gut, schauen wir mal; das wird beim künftigen Lesen der wichtigen, weil guten und wirksamen Hexameter-Texte mitgedacht, und dann wird sich ja zeigen, wie das die „Großen“ gehandhabt haben!

Hier für’s erste noch einige Hexameter vom Anfang des „Heldengedichts“ – Hermann kehrt aus Rom in die Heimat zurück und kommt zum Hain und zu den Gräbern der Väter:

 

Eichen waren gepflanzt auf jeglichem Hügel und alt war
Mancher Baum, und dem Baum entweheten Schauer der Geister.
Um die Hügel schweben sie her in mondlicher Dämmrung,
Säuseln bewegliche Wipfel hindurch, und wie menschliche Laute
Klingen zuweilen dem lauschenden Ohr die geistigen Töne.
Wie wenn Harfen gelehnet am Baum (es schlafen die Sänger
Nach durchkämpfeter Schlacht im weichen Moose daneben)
Singen von selbst, als ob beseelende Hand sie berührte:
So war der Geister Geflüster umher in den Wipfeln, und Hermann
Hört es mit Rührung des Sinns, und ging ins Innre, voll Wehmut,
Setzte sich hin auf das frischeste Grab, von der Ahnung ergriffen,
Ob nicht vielleicht der Vater ihm hier, der gealterte, ruhte,
Den der Schmerz um die Knechtschaft des Volks zu der stillen Behausung
Ewiger Freiheit geführt. (…)

 

Vom Versbau her gibt es da nicht viel zu beanstanden, was auch die angeführte Rezension anerkennt:

Doch auch dieser Tadel kann das Lob keineswegs aufheben, das wir der Sorgfalt und der Kunst widmen müssen, welche der Verfasser auch von dieser Seite her seinem Gedichte größtenteils gewidmet hat.

Inhaltlich aber, hm: ist da vieles umständlich-behäbiges, was einem heutigen Leser ziemlich aus der Bahn wirft: „Rührung des Sinns“, sowas. Und auch die Begeisterung für „Hermann den Cherusker“ und das Germanische, die doch eher eine zeitgebundene des 19. Jahrhunderts war, vermittelt sich heute nicht mehr.

Erzählformen: Die alkäische Strophe (18)

Johann Heinrich Voß wusste von den Baugesetzen der alkäischen Strophe soviel wie jeder andere, und mehr als die meisten; wenn seine in dieser Strophe geschriebenen Texte also manchmal unpassend klingen, liegt es am Inhalt … Eine Strophe aus „Auf Michaelis‘ Tod“:

 

Entsteigt den Gräbern, schlummernde Geister, schwebt,
In weißer Hülle, wimmernd und totenbleich
Um meine Klagen, bis der Frühe
Dämmerung euch zu der Gruft zurückscheucht!

 

Makellos gebaut; aber … Aus Gräbern steigende, wimmernde Geister?! Das will mir, dargestellt in einer antiken Odenstrophe, erst einmal seltsam scheinen! Aber es wird schnell klar: Um die Antike geht es hier nicht.

 

Ha! Tod, du schwarzer Mörder! Wie viele traf
Dein Schlachtschwert schon der blühendsten Hoffnungen
Im deutschen Eichenhain! Auch diesen
Würgtest du, welcher begann, und groß war?

 

„Ha!“ – das könnte der am wenigsten an die Antike erinnernde Gedicht-Baustein aller Zeiten sein?! Zum „deutschen Eichenhain“ passt derlei dagegen ganz gut.

Erzählformen: Der Zweiheber (24)

Karoline von Günderrode lässt in ihren „Pilgern“ den ersten Pilger ins seiner ersten Strophe so reden:

 

Ich bin erkranket
An Liebespein,
Mögt‘ nur genesen,
Wollst du mein sein.

 

Wie bewegt sich diese Strophe? Die ersten beiden Verse sind streng iambisch-alternierend gebaut, den dritten kann man gleichfalls so lesen, oder auch mit versetzter Betonung (also mit betontem „Mögt‘); aber der vierte?! „Wollst du mein sein“ klingt grässlich, „Wollst du mein sein“ auch; „Wollst du mein sein“ ginge, wobei aber eigentlich das „sein“ reimen müsse, statt eine Art Echo zu bilden? Bleibt noch „Wollst du mein sein“ – ein schöner „Ionicus a minore“! Da kommen dann beide Reimworte auf ihre Kosten, und die ganze Strophe hat eine sehr frische Bewegung:

x X x X x
x X x X
X x x X x
x x X X

– Schön! Wenn auch, wie die restlichen Strophen lehren, der eigentliche Ton des Textes viel regelmäßiger ist:

 

Die Vöglein fliegen
So lustig voran,
Sie suchen den Frühling
Und treffen ihn an.

 

– Also das im Zweiheber sehr beliebte, aber darum auch recht abgegriffene „x X x (x) X (x)“; das in dieser Strophe immerhin gut zum vergleichsweise nichtssagenden Inhalt passt.

Aber wie auch immer: Die erste Strophe ist zumindest ein weiterer Fingerzeig, dass die Versbewegung im Zweiheber sehr frei ist und dem Verfasser viel Spielraun bietet, ungewöhnliche Bewegungslinien zu verwirklichen!

Erzählformen: Das Distichon (30)

Friedrich Haug hat als fähiger Epigrammatiker notwendigerweise auch das Distichon „im Programm gehabt“:

 

Glaube nicht allzu schnell, nicht keinem, nicht allen, nicht alles!
Forsche, vergleich, erwägs, finde die Wahrheit heraus.

 

Schön gemacht! Ein ganz leichtes Gefühl, als wäre eine eigentlich knappere Aussage hier auf „Distichon-Maße“ gebracht worden, werde ich nicht los; aber das fällt gegenüber dem Schwung der Versbewegung, die alles mitreißt und als Einheit erscheinen lässt, kaum ins Gewicht.