Erzählformen: Das Distichon (58)

Die deutsche Sprache ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, dass einem jeden in die Hand gegeben ist, sowohl in Prosa als in Rhythmen und Reimen sich dem Gegenstande wie der Empfindung gemäß nach seinem Vermögen glücklich auszudrücken.

– Sagt Johann Wolfgang Goethe und kommt damit auf einen Gegenstand, den auch die Epigrammatiker gerne behandelt haben. Friedrich Schiller schrieb zum Beispiel in Bezug auf die „Rhythmen und Reime“, die Verheißung des Freundes einschränkend:

 

Dilettant

Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache,
Die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein?

 

Und auch Friedrich Hebbel schlug später in die gleiche Kerbe:

 

Die Poesie der Formen

Was in den Formen schon liegt, das setze nicht dir auf die Rechnung:
Ist das Klavier erst gebaut, wecken auch Kinder den Ton.

 

Inzwischen liegen annährend 200 Jahre zwischen Goethe und der Jetztzeit, und wenn die deutsche Sprache damals schon „auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt“ war, wie geht es ihr dann heute? Wer weiß; Schillers und Hebbels Einwürfe scheinen mir aber nach wie vor gültig …

Erzählformen: Das Sonett (17)

Georg Trakls „Dezembersonett“ passt in die Jahreszeit, ist aber auch sonst ein eigenartiges Stück:

 

Am Abend ziehen Gaukler durch den Wald,
Auf wunderlichen Wägen, kleinen Rossen.
In Wolken scheint ein goldner Hort verschlossen,
Im dunklen Plan sind Dörfer eingemalt.

Der rote Wind bläht Linnen schwarz und kalt.
Ein Hund verfault, ein Strauch raucht blutbegossen.
Von gelben Schrecken ist das Rohr durchflossen
Und sacht ein Leichenzug zum Friedhof wallt.

Des Greisen Hütte schwindet nah im Grau.
Im Weiher gleißt ein Schein von alten Schätzen.
Die Bauern sich im Krug zum Weine setzen.

Ein Knabe gleitet scheu zu einer Frau.
Ein Mönch verblasst im Dunkel sanft und düster.
Ein kahler Baum ist eines Schläfers Küster.

 

– Eine bemerkenswerte Anhäufung von Dingen … Den Sonett-Raum bis unter die Decke vollgestapelt, sozusagen. In der ersten Fassung schloss das Sonett noch mit den beiden Versen „Man sieht noch in der Sakristei den Küster / Und rötliches Geräte, schön und düster“; demgegenüber weiß die gezeigte zweite Fassung noch einen weiteren Schritt auf dem eingeschlagenen Weg zu machen!

Erzählverse: Der Blankvers (91)

Adelbert von Chamisso lässt in „Herein!“ nach einem Tragiker, einem Komiker, einem Mimiker, einem Übersetzer, einem Lyriker, einem Maler und einem Musiker auch einen  – Leser auftreten:

 

Leser
Ich habe meine Pflichten treu erfüllt,
Genützt, wie ich gesollt; einheimisch dann
Im schönen Dichterlande, hab‘ ich Ohr
Und Herz dem Zauber eurer Schöpfungen
Geliehn, und nicht den oft verschuldeten,
Den schweren Vorwurf über mich geladen,
Dass ich, was besser ungeschrieben wär‘
Geblieben, doch geschrieben hätte, – nein,
Ich trete kühn in diesen Kreis, es sind
Die Hände mir von Tinte rein geblieben.

 

Und wie alle anderen wird auch er vom Chor hereingebeten, mit den nahezu gleichen Worten:

 

Chor
Herein, herein! Du seltenster der Gäste,
Das hast du gut gemacht!

 

Gut gemacht sind aber auch Chamissos Blankverse, durch die ein langer Satz schreitet, ohne an Verständlichkeit und Nachdruck zu verlieren; und neben dem doch immer noch der Vers als eigenständige Größe vernehmbar bleibt. Fein!

Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (20)

Ferdinand Avenarius‘ „Der Getreue“ ist kein wirklich gutes, aber dafür ein unerschrockenes Stück Dichtung:

 

Kommt nach Wanderjahren heim der Jüngling,
Halten ihn zurück betrübte Freunde:
„Nah‘ ihr nicht, es würgt die Pest dein Liebstes,
Keiner kann sie retten, und dich selber
Würgt mit ihr die Würgerin, wenn du nahst!“

Aber lächelnd hört der Heimgekehrte,
Wie sie sprechen: nur sein Auge schaut sie,
Seine Seele blickt auf unsichtbare,
Liebe, stille Bilder. Wo verlassen
Stöhnt, die jüngst noch schön und froh gewesen,
Dahin schreitet er, kniet ruhig nieder,
Nimmt ihr Haupt wie einst in beide Hände,
Küsst sie auf den Mund mit langem Kusse.

Und ein Schweigen zieht mit weiten Wellen
Über sie und wird zu blauen Tiefen.
Darein stäubt’s von Silbersonnenschimmer,
Flüstert es von leichtem Flügelwehen,
Singt es hell aus reichem Wipfelrauschen,
Jubelt’s auf aus vollen Lenzgesängen . . .

Und die beiden sehen sich . . .

Aber von den Häusern, hier und drüben,
Dort und rings, was springen auf die Tore?
Sich umarmend, grüßen sich die Menschen:
Jäh erloschen ist die Pest.

 

Im ersten und zweiten Abschnitt holpert es etwas, die Bezüge erschließen sich nicht immer überzeugend. Aber dann: „Und ein Schweigen zieht mit weiten Wellen / Über sie und wird zu blauen Tiefen“. Das, und den Rest, muss man sich trauen – heute ganz bestimmt, aber ich denke auch zu Avenarius‘ Zeiten schon; frei von der Furcht, ausgelacht zu werden …

Getäuschte Erwartung

Tage wechseln mit Nächten, es wechseln Sonn‘ und Mond:
Doch immer gleich mir im Herzen die große Sehnsucht wohnt.

 

Ein Verspaar von Therese Dahn, bei dem die erste Hälfte des ersten Verses wie ein Hexameter klingt – da erwartet man ein Distichon; und wird ausgebremst und gerät ins Stolpern in der zweiten Vershälfte, und erst recht im zweiten Vers, an dessen Ende klar wird, dass hier ein Reimverspaar vorliegt!

Allerdings klingt dieser zweite Vers doch sehr umständlich; da ist die Versuchung groß, ein wirkliches Distichon zu versuchen?!

 

Tage wechseln mit Nächten, es wechseln der Mond und die Sonne,
Aber die Sehnsucht wohnt, immer sich gleich, mir im Herz.

 

Der Hexameter drängt sich geradezu auf, die Augenblicksversion des Pentameters hat noch Schwächen – das „sich“ verschiebt den Sinn, „Herz“ statt „Herzen“ ist böse umgangssprachlich, das „große“ fehlt; da wäre noch Arbeit zu tun. Wäre! Es gehört sich aber nicht wirklich, in den Texten anderer Verfasser herumzufuhrwerken, seien es lebende oder tote; von daher bleibt es bei dem Eindruck „Ein Distichon wäre die bessere Wahl gewesen“ …

Was für ein Theater

Der Vorhang hebt sich

Jemand zwingt einen Schleifstein auf die Bühne.

JEMAND
Hab‘ ihr, die mich geboren,
Der Zeit! den Tod geschworen.

Jemand stutzt, betastet seine Hüfte, seufzt, verlässt die Bühne.

Stille.

EINE STIMME
Früher, eben, jetzt,
Jetzt, gleich, später.

Stille.

Der Vorhang senkt sich

Erzählverse: Der iambische Dreiheber (5)

Wie nahe man der Grenze zur Bedeutungslosigkeit kommen kann, ohne sie zu überschreiten, zeigt Johann Michael Hamanns „Entschluss“, ein Text, der eben so auf der richtigen Seite der Grenze zu stehen kommt und darum wertig ist:

 

Wie schauerlich der Regen,
Der um mein Fenster rasselt!
Wie dunkel die Gedanken!
Wie matt der Schlag des Herzens!
Was soll ich bei den finstern
Und toten Büchern machen?
Hinaus, hinaus zum Mädchen!
In ihrem Aug‘ ist Frühling
Und milde Sommerwärme.
Ein Blick – und es erfreuet
Die halberstorbne Seele
Sich wie ein mattes Pflänzchen,
Das schon der Nord verletzet,
Beim Liebesstrahl der Sonne.
Gib mir den Mantel, Knabe!
Ich muss, ich muss zur Janthe.

 

„Janthe“ ist dem „Ich“ die Dame des Herzens … Das hier gerade so alles gut endet, ist sicher auch dem Versmaß zu verdanken; ein gewichtigerer Vers hätte Bedeutung eingefordert, wo keine sein kann, und den Text aus dem Gleichgewicht geworfen?!

Erzählformen: Das Distichon (57)

Der Allwisser und Demonax

Allwisser
Ruft Aristoteles mich, so lausch‘ ich in seinem Lyceum,
Ruft in die Akademie Plato mich, folg ich ihm nach;
Ruft mich Zeno herbei, so weil‘ ich in seinem Pöcile,
Ruft Pythagoras, gilt Schweigen!

Demonax
Pythagoras ruft.

 

So nervtötend Friedrich Haug den „Allwisser“ dieses Doppeldistichon vollmüllen lässt, so spannend sind die Verse gebaut, vor allem die beiden Pentameter; im zweiten kommt Demonax‘ Einsatz nicht etwa zur Hälfte des Verses, wie es zu erwarten wäre, sondern erst zwei Silben später. Aber die verbleibenden fünf Silben reichen, um den auch so gesehen kein Maß kennenden „Allwisser“ aus dem Sattel zu schießen …