Erzählformen: Das Reimpaar (37)

Das Reimpaar aus iambischen Vierhebern wurde und wird häufig für das komische Gedicht verwendet, wo es gute Dienste leistet; dumm aber, wenn sich eine solche komische Wirkung unabsichtlich einstellt! Der Anfang von Ludwig Uhlands „Siegfrieds Schwert“ zeigt, dass daran, gerade in erzählenden Texten, oft das genau eingehaltete Auf und Ab des iambischen Maßes Schuld ist:

 

Jung Siegfried war ein stolzer Knab,
Ging von des Vaters Burg herab.

Wollt rasten nicht in Vaters Haus,
Wollt wandern in alle Welt hinaus.

Begegnet‘ ihm mancher Ritter wert
Mit festem Schild und breitem Schwert.

Siegfried nur einen Stecken trug,
Das war ihm bitter und leid genug.

Und als er ging im finstern Wald,
Kam er zu einer Schmiede bald.

 

Das erste und das fünfte Reimpaar wirken sehr geregelt und streifen zumindest das unfreiwillig Komische; die mittleren drei Verspaare wirken mit ihren eingestreuten zweisilbig besetzten Senkungen lebendiger und auch dem Erzählgedicht angemessener!

Das Königreich von Sede (105)

Schemel, dem der Frösche Schar
Mancherlei gequakt hat
Von der Welt, die früher war,
Reut’s, dass er gefragt hat,
Nicht, weil er’s nicht wissen will:
Weil es laut ist und nicht still,
Wenn die Frösche quaken.

Erzählformen: Das Distichon (93)

Der Käfer und der Schmetterling

Schmetterling, fliegest so stolz mich redlichen Käfer vorüber.
Gelt, du scheuest den Freund, der dich als Raupe gekannt.

 

Da hört man schon am „mich redlichen Käfer“ (und eigentlich am ganzen Hexameter): Das ist älter … Friedrich Müller, geboren 1749 und 76 Jahre alt geworden, hat in den Zeiten, in denen das Distichon noch in der „Erprobungsphase“ war, trotzdem schon einen ansehnlichen Vertreter geschaffen?!

Die metrische Form:

Schmetterling, / fliegest so / stolz || mich / redlichen / fer vor- / über.
Gelt, du / scheuest den / Freund, || der dich als / Raupe ge- / kannt.

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ / — ◡ ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Erzählformen: Die Brunnenstrophe (19)

Ein etwas weniger bekannter Text von Joseph von Eichendorff ist „Der Kühne“:

 

Und wo noch kein Wandrer gegangen,
Hoch über Jäger und Ross
Die Felsen im Abendrot hangen
Als wie ein Wolkenschloss.

Dort zwischen den Zinnen und Spitzen
Von wilden Nelken umblüht,
Die schönen Waldfrauen sitzen
Und singen im Wind ihr Lied.

Der Jäger schaut nach dem Schlosse:
Die droben, das ist mein Lieb! –
Er sprang vom scheuenden Rosse,
Weiß keiner, wo er blieb.

 

Drei Strophen, in denen die Senkungsstellen ganz unregelmäßig mit entweder einer oder zwei unbetonten Silben gefüllt sind; wobei diese unbetonten Silben noch dazu sehr unterschiedlich sind,  wie zum Beispiel „Wald-frau-en“ belegt?! Trotzdem sind die Verse erkennbar von gleichem grundlegenden Bau, und in dieser Eigenart auch vom Hörer erfahrbar; die Brunnenstrophe ist gut herauszuhören!

Inhaltlich ist es genau die Art von Erzähltext, der in der Brunnen-Strophe zur Geltung kommen kann: Nicht zu lang, nicht zu reich an Einzelheiten, nicht zu stark angewiesen auf innere Bezüge.

Erzählverse: Der Blankvers (107)

Der Mittelteil von „Vor dem Zuchthause“, geschrieben von Otto Ernst, liest sich so:

 

Wer aber diesem steinernen Gespenst
In sturmzerriss’ner Nacht vorüberschreitet,
Dem bohrt sich ein Gedanke tief ins Hirn,
Und in das Ohr raunt ihm ein Unsichtbarer:
„Sieh diese Stätte schuldbeladnen Elends
Und überschlag’ den Wert der eignen Tugend!
Wer fiel von diesen, deren Klageruf
An unbarmherzig kalte Mauern gellt –
Wer fiel in Schande, weil du mitleidlos
An seinem Jammer einst vorübergingst,
Als er noch gut war, doch vom Glück verlassen?
Wer fiel in Schande, weil du ihn verkannt?
Wer fiel in Schande, weil du seiner Jugend
In frevlem Leichtsinn eitle Lehren gabst,
Die abwärts führten, statt hinauf zum Lichte?
Wer fiel in Schande, weil du lässig warst,
Zum Guten ihn zu führen, seine Seele
Mit reinem Himmelslichte zu erfüllen,
Weil du in Faulheit deines eignen Wohlseins
Behaglich nur gewartet und sein Herz
Dalag, ein toter Acker, nur bedeckt
Vom Herbstesnebel eines öden Daseins?“

 

Da spricht ein „Unsichtbarer“, der dafür ziemlich tief in die Rhetorikkiste gegriffen hat; und damit durchaus Wirkung erzielt! Durchaus auch in Verbindung mit dem Blankvers, der sich hier zwar nicht in den Vordergrund drängt (macht er ja ohnehin selten), aber doch mitgestaltet und dem Text eine Festigkeit verleiht, die seinem Gegenstand bzw. dessen Ernst entspricht und daher ein „Mehr“ ist.

Bücher zum Vers (109)

Verena Doebele-Flügel: Die Lerche

Alles war schon einmal da, und es ist allemal besser, sich schreibend zum schon Dagewesenen bewusst zu verhalten statt so zu tun, als träte der entsprechende Inhalt mit den eigenen Versen frisch wie der neue Tag in die Welt.

Dieser 1977 bei de Gruyter erschienene Band, eine „Motivgeschichtliche Untersuchung“,  schafft die Voraussetzungen dafür in Bezug auf die Lerche, zumindestens von der Spätantike bis hin zu den Romantikern Tieck, Brentano und Eichendorff.  Viele Erklärungen und Einordnungen samt einem ausführlichen Stellenverzeichnis („Wenn das Blau voll Lerchen hängt“ – Eichendorff) lassen nur wenige Wünsche offen und geben sehr viel Futter zum Nachdenken.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (68)

Ignatz Heinrich von Wessenberg beginnt sein „Die Wolken“ so:

 

Eine Wolke sprach zur andern,
Auf dem Wege ihr begegnend:
„Wohin ziehst du? Was beginnst du?“
Ernst versetzt darauf die andre:
„Weiß ich’s selber denn? Zum Spiele
Dienen ja wir armen Wolken
Allen Launen der verborg’nen,
Schnellen, wandelreichen Winde.“

 

„Also ist es“, bestätigt darauf die erste, und man wundert sich nicht nur, warum sie dann überhaupt gefragt hat, sondern auch, welche Geschichte sich aus diesem Beginn spinnen lässt?! Gar keine, wie sich zeigt – nach einer längeren Ausführung des Bildes offenbart sich, es war nur Verdeutlichung eines anderen Zusammenhangs! Die letzten beiden Vers lauten nämlich:

 

Was die Wolken sind den Winden,
Sind die Herrscher den Gesetzen.

 

Das mag stimmen oder auch nicht; den Versen merkt man ihre „Uneigentlichkeit“ jedenfalls an, in Inhalt und Aufbau – die trochäischen Vierheber klingen hier doch arg hölzern und geschäftsmäßig!