Erzählformen: Das Reimpaar (38)

Das Reimpaar aus iambischen Vierhebern klingt schlicht, aber auch nachdrücklich und ist daher für ein Bekenntnis sehr geeignet. Ein Beispiel dafür gibt Anton Wildgans in „Ich liebe“:

 

Die Landschaft, so das Auge stillt
Und wahrer Seele Ruhe quillt;

Die Menschen, die, in sich gefasst,
Wie Inseln sind in Lebenshast;

Den Geist aus Stirnen, braungeglüht,
Der klar, wie Quell vom Felsen, sprüht;

Mich selbst, wenn ich, gefasst im Sinn,
Gestillt und klar, ich selber bin.

 

Die ersten drei Verspaare wirken ein wenig ungelenk, aber das gehört zum Reimpaar dazu – Wildgans hatte hier sicher keine Darstellungsschwierigkeiten. Die vierte Strophe nimmt die ersten drei wieder auf und fasst sie zusammen, durchaus überzeugend; so dass man dem „Ich“ die Selbstliebe auch nicht übel nimmt …

Erzählverse: Der iambische Vierheber (12)

Regina Ullmanns „Erwachen“, zu finden in ihrem 1919 im Insel-Verlag erschienenen Band „Gedichte“, ist inhaltlich nicht mehr auf der Höhe der Zeit, vermutlich; aber vom Aufbau her zeigt es einige bedenkenswerte Möglichkeiten des Vierhebers:

 

Ich lag in dir noch unverzweigt,
Du tiefer Felsen einer Nacht;
So kalt wie Stein und trostesarm.
Da fühlt ich plötzlich, wie der Tag
Sich an dem Sein im Licht verfing
Und liebewarm und flammenhaft
Sich an die kleinsten Dinge hing.
Da war ich wach.
Doch war mir noch ein Silberklang,
Der sich an einem Zimbal schlug,
Erhörbar,
Und meines Engels Morgengang.

 

– Anfangs ein unscheinbarer Text aus ganz regelmäßigen iambischen, ungereimten Vierhebern; mit dem Erwachen macht sich aber ein Reim bemerkbar, dem im weiteren noch ein witerer folgt, und die beiden eingestreuten Kurzverse – ein Zweiheber, ein Einheber – lassen den Schluss eher wie ein Madrigal erscheinen?! Nicht ganz, dafür sind noch zu viele Verse ungereimt; aber eine eigenartige Verschiebung der formalen Grundlage ist es doch!

Die zitierte Wahrheit

„Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr!“, schreibt Hermann Hesse bekanntlich in seinem „Siddhartha“; dann müsste aber doch auch das noch bekanntere, etwas großsprecherisch als „Weisheit der Dakota-Indianer“ daherkommende „Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab“, so es denn wahr ist, eine gegenteilige Entsprechung haben?

Heute habe ich in Elias Canettis sehr empfehlenswertem (vor allem, wenn man Aphorismen schätzt) „Das Buch gegen den Tod“ (Hanser 2014) als einen der Einträge des Jahres 1987 diesen knappen Satz gelesen: „Auf seinem toten Pferd reitet er weiter.“

  – Und ich finde, das ist gegenteilig genug; und wahr genug auch.

Erzählformen: Das Distichon (95)

Segen entatmet die Flur nach des Himmels flammendem Brautkuss,
Schöpferleben erfüllt leise die tauige Welt.

 

Der Moment nach dem Gewitter war und ist ja lyrisch nicht ganz unbeliebt und durchaus geeignet für die etwas größere Geste; aber ich habe den deutlichen Verdacht, dass es Wilhelm Hertz hier ein klein wenig übertrieben hat … Das Distichon entstammt einem längeren Gedicht.

Die metrische Form:

Segen ent- / atmet die / Flur || nach des / Himmels / flammendem / Brautkuss,
Schöpfer- / leben er- / füllt || leise die tauige Welt.

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Bücher zum Vers (111)

Horst Turk: Dramensprache als gesprochene Sprache. Untersuchungen zu Kleists „Penthesilea“.

Wie in (110), steht auch hier Heinrich von Kleists Sprachkunst im Blickpunkt, allerdings geht es weniger um den (Blank-)Vers an sich, sondern mehr um die allgemeinen sprachlichen Besonderheiten.

 

Der junge Tag, wahrhaftig, liebste Freundin,
Wenn ihn die Horen von den Bergen führen,
Demanten perlen unter seinen Tritten;
Er sieht so weich und mild nicht drein, als er.

 

Diese vier wunderbaren Verse dienen Turk als Beispiel eines „rückwirkend beziehenden Einschubs“, und auf Seite 66 merkt er dazu an:

Hier ist der umfassende Zusammenhang, der sich im Innern des Satzes expliziert, verkürzt im Subjekt aufgerufen und mitgedacht. „Der junge Tag“ evoziert ein Vergleichsfeld, das Penthesilea in diesem Zitat auf den Peliden anwenden will. Der Vergleich selbst ist aber offensichtlich umfassender gedacht, als der Satzanfang vermuten lässt, in dem er in gewisser Weise beschlossen liegt. Nur wenn er den Ordnungsanspruch des Subjekts durchbricht und sich im Satzinnern verselbstständigt, kann er ganz aus sich heraustreten und sich vollständig sprachlich realisieren.

Der Band ist schon älter, in zweiter Auflage 1968 bei Bouvier erschienen; aber immer noch lesenswert, denke ich.

Erzählformen: Die alkäische Strophe (22)

Wenn man sich so durch Youtube treiben lässt, stößt man auf erstaunliche Dinge …

 

Furchtlos bleibt aber, so er es muss, der Mann
Einsam vor Gott, es schützet die Einfalt ihn,
Und keiner Waffen brauchts und keiner
Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.

 

Das ist die letzte Strophe von Friedrich Hölderlins „Dichterberuf“, und ohne Frage eine vollendete alkäische Strophe. Begegnet ist sie mir eben in Fritz Lang recites Hölderlin, einem Ausschnitt aus dem Film „Le Mépris“. Schöner Vortrag, wirklich; und auch sonst ebenso erheiternde wie beachtenswerte anderthalb Minuten, nicht zuletzt durch das viersprachliche Durch-, Mit- und Gegeneinander!