Erzählformen: Das Madrigal (31)

Moderne Gedichte sind gerne einmal gänzlich unverständlich; da muss man als Leser dann durch. Es gibt aber auch jahrhundertealte Gedichte, die zumindest mir höchst dunkel bleiben – wie etwa dieses kurze Madrigal von Christian Adolph Overbeck:

 

Der Phlegmatiker beim Sonnenuntergange

O wenn sie sich die kleine Mühe nähm‘
Und wirklich sich
Um unsere Erde drehte,
Und nicht bloß scheinbarlich!
Bei meinem Bauch! Es wäre so bequem
Für meine liebe Erd‘ und mich!

 

Hm. Bauch, Erde, mich … Immerhin, von der Form her ist alles madrigalische da – die verschiedenen Verslängen, die freie Reimstellung. die Waise; und sogar eine doppelt besetzte Senkung hat sich eingefunden, obwohl sich die im Vortrag leich ausgleichen lässt, möchte man es denn („uns’re“). Eine Sache, bei der keine Nachlässigkeit geduldet wird, ist der Hiat – von V1 nach V2 wird das  Zusammentreffen von Wortend- und Wortanfangsvokal sogar über die Versgrenze hinweg vermieden …

Erzählverse: Der Blankvers (111)

Johann Michael Hamanns „Frage und Antwort“ zeigt schön, wie weit die bloße Reihung einen Text bringen kann:

 

Wie kömmt’s doch, dass von allen Blumen, die
Auf Feld und Anger blühn, so wenig nur
Den Wohlgeruch, den süßen Duft uns weihn,
Der dieses Veilchen hier so wert uns macht?
Sie trinken alle doch denselben Tau,
Denselben Strahl der Sonne und des Monds?
Sie sprossen alle ja aus einem Schoß,
Und eine Mutter ist es, die sie nährt?
So sprach der Jüngling zu dem weisen Mann.
Wie kömmt’s, mein Sohn, erwidert‘ er, dass von
Den Menschen nicht ein jeder Wohlgeruch
Zum Himmel schickt, durch edle, gute Tat?
Hat die Natur doch keinen je versäumt.
Es leuchtet jedem ja die Sonne mild,
Und milder noch der Mond. Für jeden schmückt
Die Erde sich mit goldner Frucht. Es wölbt
Für jeden sich der blaue Äther, weht
Mit kräftgem Lebenshauch um seine Stirn.
Es flimmert jedem doch der Stern des Rechts,
Und jedem schallt die Stimme des Gefühls.

 

Nun gilt es zwar als unhöflich, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten, aber vielleicht gelten da für „weise Männer“ ja andere Regeln …

Eine andere Frage, auf die eine Antwort zu erhalten wertvoll wäre, ist diese: Was gewänne oder verlöre dieses nicht eigentlich in Blankversen, sondern in sehr regelmäßigen iambischen Fünfhebern, die dafür einige harte Zeilensprünge aufweisen, geschriebene Gedicht, fehlten einige Elemente der Aufzählung?!

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (11)

Manchmal erkennt man den Wert und die Eigenart einer Sache erst, wenn sie fehlt. Der iambische Siebenheber, wie er beim Verserzähler vorgestellt wird, hat zum Beispiel einen festen Einschnitt nach der achten Silbe:

x X / x X / x X / x X || x X / x X / x X (/ x)

Wie prägend dieser Einschnitt für den Vers ist, zeigt sein Fehlen, etwa in Fred Endrikats „Der Philosoph ohne Regenschirm“:

 

Es ist nicht alles schön auf dieser wunderschönen Welt,
Novemberstürme gibt es auch im Monat Mai.
Beschimpfe nicht den Regen, der auf dich herniederfällt,
Bedenk: Der meiste Regen fällt an dir vorbei.

 

Ein netter Gedanke; von der Form her sind es zwei iambische Siebenheber (V1, V3) und zwei iambische Sechsheber (V2, V4), die allerdings keine der bei solchen Langversen üblichen, sondern beliebige Einschnitte aufweisen; und nicht, dass es darum schlechte Verse wären, doch etwas gegen die dadurch entstehende Beliebigkeit in der Versbewegung, eine gewisse „Lichtlosigkeit“ ankämpfen muss man beim Vortrag?!

(Auch ungewöhnlich: Der Kreuzreim. Siebenheber sind fast immer paargereimt, da sonst das Reimwort zu weit abdriftet, wahrscheinlich …)

Septembermond

Über die Dächer hebt sich in leuchtender Fülle der Mond auf,
Wolkenverborgen; es sieht niemand (und jedermann: weiß).

Erzählformen: Die Brunnenstrophe (23)

Die Brunnenstrophe an sich ist pflegeleicht; sie kann aber auch ohne große Mühe abgewandelt werden. Klabunds „Lied im Herbst“ zum Beispiel verkürzt den vierten Vers von drei Iamben auf nur einen Iambus:

 

Wie Krieger in Zinnober
Stehn Bäume auf der Wacht.
Ich taumle durch Oktober
Und Nacht.

Blut klebt an meinem Rocke.
Mein Weg ist weit und lang.
Des Tales dunkle Glocke
Verklang.

Auf einem schwarzen Pferde
Reit ich von Stern zu Stern.
Die Sonne und die Erde
Sind fern.

Ich bin von vielen Winden
Zu Gott emporgereicht.
Werd ich den Frühling finden?
Vielleicht …

 

Das ist sicher eine andere Strophe, eine andere, am Schluss mutwillige Bewegung?! Spannend aber, wie im Vortrag dieser vierte Vers auch gegen die Erwartung der sich vollendenden Brunnenstrophe verwirklicht werden muss; und wie leicht das in der Schlussstrophe geht, wodurch alle Spannung vom Gedicht abfällt …

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (70)

Martin Greifs „Herbstblumen“ bietet inhaltlich nicht viel, aber das soll ja nicht daran hindern, den Eigenheiten der Form und des Verses nachzuspüren …

 

Blumen duften durch den Garten,
Doch es sind nur späte Blumen,
Keine Rosen stehn dabei.
Drum, wie lieblich sie auch duften,
Mehr der Trauer als der Freude
Wecken sie im Herzen auf.
Meldet jede doch darunter
Nur dasselbe wie die andre,
Dass der Glanz des Sommers fliehe,
Dass der Herbst schon angebrochen,
Dass der Winter nicht mehr fern.

 

Der erste Satz schließt in V3 auf eine betonte Silbe – das wird allgemein ganz gern gemacht, die längere Pause  – „der Punkt“ – ersetzt dabei die fehlende unbetonte Silbe! Auch der zweite Satz ist drei Verse lang, auch V6 schließt dann betont; und der dritte Satz ist fünf Verse lang und schließt, das wundert nun nicht mehr, wieder betont. Damit weist das Gedicht eine deutliche Dreiteilung auf; und obwohl die „Kanzonenform“ eigentlich gereimten Gedichten vorbehalten ist, setzt sie auch dieser ungereimte Text um – einem „Aufgesang“ aus zwei gleichgebauten Stollen (V1-V3, V4-V6) folgt ein „Abgesang“, der länger als ein einzelner Stollen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang ist! Dadurch gewinnt der Text eine Abgeschlossenheit und Überzeugungskraft, die ihm angesichts seines Inhalts sicher nicht schadet …

Erzählverse: Der iambische Siebenheber (10)

Siebenheber genügen sich selbst, können aber auch ohne weiteres mit anderen Versen zusammenstehen. Eine ungewöhnlich zusammengestellte Strophe benutzt August Schnezler im dritten Gedicht seiner Reihe „Vom Mummelsee im Schwarzwald“, „Mummelsees Rache“ –  zwei Beispielstrophen:

 

„Wer schleicht dort aus dem Tannenwald mit scheuem Tritte her?
Was schleppt er in dem Sacke nach so mühsam und so schwer?“
„Das ist der rote Dieter, der Wilderer benannt,
Dem Förster eine Kugel hat er ins Herz gebrannt,
Jetzt kommt er, ins Gewässer den Leichnam zu versenken,
Doch unser alter Mummler lässt sich sowas nicht schenken.

Der Alte hat gar leisen Schlaf, ihn stört sogar ein Stein,
Den man vielleicht aus Unbedacht ins Wasser wirft hinein;
Dann kocht es in der Tiefe, Gewitter steigen auf,
Und flieht nicht gleich der Wandrer mit blitzgeschwindem Lauf,
So muss er in den Fluten als Opfer untergehen,
Kein Auge wird ihn jemals auf Erden wiedersehen!“

 

Drei Reimpaare; das erste besteht aus iambischen Siebenhebern, das zweite aber aus „neuen Nibelungenversen“:

x X x X x X x | x X x X x X

Das war im 19. Jahrhundert ein beliebter Erzählvers! Das dritte Reimpaar verlängert diesen Vers dann noch um eine unbetonte Silbe, was einen ziemlich unüblichen Vers ergibt, beziehungsweise zerfällt der Langvers dann ein wenig in zwei gleichgebaute dreihebige Verse?!

Aber die Strophe insgesamt – die hat schon ihre Wirkung und zeigt schön, dass sich auch im Bereich des Strophenbaues viel Nachdenkenswertes entdecken lässt!

Erzählverse: Der Hexameter (166)

Mich treibt immer noch die „Ausführliche teutsche Sprachlehre“ von Friedrich Schmitthenner um – siehe (165)! Da findet sich auch folgende Regel:

Gleiche Wortfüße nacheinander müssen möglichst vermieden werden, weil sonst leicht neben dem durch das Metrum gebotenen Rhythmus noch ein anderer sich gestaltet, der jenen übertönt, zum Beispiel

Schroffe Gestade des Meeres, die Wogen gewaltig erbrausten.

Einer der unschönen, durch fünf amphybrachische Wortfüße, sprich: Sinneinheiten „gelähmten“ Hexameter! Woher er stammt, wird nicht angegeben, und sucht man im Netz, findet er sich auch nicht; oder besser, er findet sich, aber in einem anderen Werk Schmitthenners, und auch da ohne Quelle …

Ursprachlehre. Entwurf zu einem System der Grammatik mit besonderer Rücksicht auf die Sprache des indisch-teutschen Stammes: das Sanskrit, das Persische, die peasgischen, slavischen und teutschen Sprachen.

So heißt dieses Werk, und in ihm liest man:

Die Wortfüße dürfen nicht so gewählt und geordnet werden, dass neben dem durch das Metrum gebotenen Rhythmus noch ein anderer her läuft, weil sonst die Einheit der Form unkenntlich wird, wie zum Beispiel folgender Vers …

Schroffe Gestade des Meeres, die Wogen gewaltig erbrausten,

amphybrachisch aus seinem Metrum heraushüpft.

Hm. Ich bin mit der Begründung nicht ganz einverstanden, kann aber noch nicht den Finger darauf legen … Aber auch andere Metriker geben die Empfehlung, im Hexameter keinen Wortfuß mehr als zweimal hintereinander zu gebrauchen, und der Blick in die Texte zeigt, da ist wirklich etwas dran. Es lohnt sich also, beim eigenen Schreiben ein wenig darauf zu achten!

Zum Schluss noch ein anderer Vers, der die ziemlich häufig „schroffen“ „Gestade“ enthält, nur so zum Vergleich – aus dem fünften Gesang der Odyssee, in der Übersetzung von Voß:

 

Graunvoll donnerte dort an dem schroffen Gestade die hohe,
Fürchterlich strudelnde Brandung, und weithin spritzte der Meerschaum.

 

Da hüpft dann nichts aus dem Metrum, schon gar nicht amphybrachisch, ein Wortfuß, gegen den Voß bekanntlich eine tiefe Abneigung besaß …