Der Titel des Eintrags ist ein wenig großspurig; eine neunzeilige Strophe wie die folgende ist nicht wirklich „groß“ im Sinne von umfangreich, aber doch größer als das meiste, was im 19. und 20. Jahrhundert an gereimten Strophenformen verwendet wurde! Friedrich Rückert hat sie verwendet in einem recht bekannten Gedicht:
Chidher
Chidher, der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
„Die Stadt steht ewig an diesem Ort,
Und wird so stehen ewig fort. “
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: „Wie lang‘ ist die Stadt vorbei?“
Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
„Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei:
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt‘ ich, seit wann das Meer hier sei?
Er sprach, und lachte meinem Wort:
„So lang‘ als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man in diesem Port. “
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich einen waldigen Raum,
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
Er sprach: „Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn‘ ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäum‘ hier fort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: „Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?“
Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
„So ging es ewig an diesem Ort,
Und wird so gehen ewig fort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren.
Dazu ließe sich sicherlich auch inhaltlich vieles sagen; ich finde aber bezüglich der Form das Reimschema ababcccdd sehr bemerkenswert – da finden zwei scheInbar sehr unterschiedliche Reimmuster in derselben Strophe Verwendung, und doch wirkt alles wie eine vollkommene Einheit! Wobei sich Rückert als jemand, dem die Sprache für jede Tüftelei willig zur Verfügung stand, sich das Kunststück des in allen fünf Strophen durchgehaltenen, dreifachen „-ort-Reims“ nicht verkneifen kann – neben dem gleichfalls durchgehaltenen „-ei“-Reim im anfänglichen Kreuzreim, selbstverständlich …
Ein noch etwas älteres Beispiel ist Johann Wolfgang Goethes „Hochzeitslied“, eine Beispielstrophe:
So rennet nun alles in vollem Galopp
Und kürt sich im Saale sein Plätzchen;
Zum Drehen und Walzen und lustigen Hopp
Erkieset sich jeder ein Schätzchen.
Da pfeift es und geigt es und klinget und klirrt,
Da ringelt’s und schleift es und rauschet und wirrt,
Da pispert’s und knistert’s und flistert’s und schwirrt,
Das Gräflein, es blicket hinüber,
Es dünkt ihn, als läg‘ er im Fieber.
Das ist schon etwas mutwillig, aber trotzdem ein schönes Beispiel, was man mit dieser Strophe anstellen kann. Also, wer einmal etwas mehr Raum beanspruchen möchte – hier ist eine Form, die es ermöglicht!