Erzählverse: Der Hexameter (168)

Am 29. März 1758 schrieb Friedrich Gottlieb Klopstock an Johann Arnold Ebert über die Arbeit an seinem „Messias“:

Ich bin heute außerordentlich glücklich gewesen. Ich habe diesen Morgen über 50 Verse im zwölften Gesange gemacht.

Der Messias ist in Hexametern geschrieben, und ein Hexameter hat durchschnittlich irgendetwas zwischen neun und zehn Wörtern – da hat Klopstock also rund 500 Wörter geschrieben, an einem „außerordentlich glücklichen“ Morgen. Hm. Das würde die meisten heutigen Prosaisten sicher kaum beeindrucken, aber ich denke, für einen Verserzähler ist das schon ein ziemlich beachtlicher Wert!

Ob diese Verse vom Anfang des zwölften Gesangs darunter waren?

 

So voll Jammers und so von jeder Hoffnung verlassen
War der kleine Haufe der Wenigen unter den Menschen,
Die den Versöhner kannten des Ewigen, da ihn ihr Auge
Starr und tot auf Golgatha sah und um ihn nun alles
Öd‘ und verstummt; und so war’s Der von Arimathäa,
Er der Eine, dass sie nicht ganz dem Jammer erlagen.
Dich zu begraben, du Toter des Herrn, entschloss sich Joseph,
Mutiger jetzt und Rächer an seiner vorigen Kleinmut.

 

Das zeigt vielleicht auch, dass die Erzählung an einer Stelle angekommen ist, die gar nicht so leicht zu schreiben sein dürfte … (Genau 9,5 Wörter je Vers, übrigens!)

Vom Überarbeiten

So: Böttigers „Literarische Zustände und Zeitgenossen“ ist ausgelesen. Nachdem bei der letzten Erwähnung dieses wirklich lesenswerten Buches eine etwas … anrüchige Auslassung Böttigers angeführt wurde, hier noch etwas mit wirklichem Nährwert für den Schreibenden, vom 27. Januar 1795:

„Wieland feilt seine Gedichte ohne Unterlass. Jetzt hat er wieder sein Caphalus und Procris unter dem Hammer. Nur dann, sagt er, wenn mir eine ganze Passage, die ich sonst für gut erkannte, auf einmal missfällt, traue ich mir selbst nicht, und lege das Gedicht weg, weil ich dies Missbehagen auf körperliche Indisposition und Verstimmung schiebe. Denn einmal muss man auch aufhören können.“

Und das, ohne Frage: ist ein weises Wort.

Nächtliches Meer-Cento

Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee,
Wie weißliches Haar, wie ein Greisengesicht –
Er hat alles gesehn, was auf Erden geschieht,
Und wirft sich hinein in die brausende Flut,
Und ihm leuchten die Augen wie Sterne:
Mit ihnen der Mond in beruhigter Pracht,
Verstreut von dem groß ihn vergeudenden Meer …

 

Mein Dank an: Fontane, Avenarius, Schiller, Schiller, Reinick, Platen, Rilke.

Verse finden Verse

Von jedem Vers führt ein Weg zu vielen anderen Versen, sei es inhaltlich, sei es bezogen auf die Form.  Von Friedrich Rückerts „Chidher“, gestern vorgestellt, geht ein solcher Weg zum Beispiel zu sechs Versen Christian Morgensterns:

 

O ihr kleinmütig Volk, die ihr vom Heute
nicht loskommt, die ihr meint: so ist es, war es
und wird es sein, solange Menschen leben –

O würdet ihr doch andrer Hoffnung Beute
und lerntet wieder schauen Offenbares
und Hirn und Herz zu höchstem Ziel erheben!

 

Das wirkt ein wenig, als seien einem Sonett die Quartette abhanden gekommen … Der Rückert-Bezug läge dann im ersten „Terzett“, das weniger erzählend und mehr feststellend daherkommt, aber inhaltlich nicht weit weg ist?!

Die ersten beiden Verse sind auch von der Form her einen Blick wert, weil sie sich am Versbeginn dem „Iambentrab“ verweigern:

◡ ◡ — — / ◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡
◡ — — / ◡ ◡ — / ◡ — / ◡ — / ◡

Die große Strophe

Der Titel des Eintrags ist ein wenig großspurig; eine neunzeilige Strophe wie die folgende ist nicht wirklich „groß“ im Sinne von umfangreich, aber doch größer als das meiste, was im 19. und 20. Jahrhundert an gereimten Strophenformen verwendet wurde! Friedrich Rückert hat sie verwendet in einem recht bekannten Gedicht:

 

 Chidher

Chidher, der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
„Die Stadt steht ewig an diesem Ort,
Und wird so stehen ewig fort. “
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: „Wie lang‘ ist die Stadt vorbei?“
Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
„Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei:
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt‘ ich, seit wann das Meer hier sei?
Er sprach, und lachte meinem Wort:
„So lang‘ als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man in diesem Port. “
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich einen waldigen Raum,
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
Er sprach: „Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn‘ ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäum‘ hier fort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: „Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?“
Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
„So ging es ewig an diesem Ort,
Und wird so gehen ewig fort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren.

 

Dazu ließe sich sicherlich auch inhaltlich vieles sagen; ich finde aber bezüglich der Form das Reimschema ababcccdd sehr bemerkenswert – da finden zwei scheInbar sehr unterschiedliche Reimmuster in derselben Strophe Verwendung, und doch wirkt alles wie eine vollkommene Einheit! Wobei sich Rückert als jemand, dem die Sprache für jede Tüftelei willig zur Verfügung stand, sich das Kunststück des in allen fünf Strophen durchgehaltenen, dreifachen „-ort-Reims“ nicht verkneifen kann – neben dem gleichfalls durchgehaltenen „-ei“-Reim im anfänglichen Kreuzreim, selbstverständlich …

Ein noch etwas älteres Beispiel ist Johann Wolfgang Goethes „Hochzeitslied“, eine Beispielstrophe:

 

So rennet nun alles in vollem Galopp
Und kürt sich im Saale sein Plätzchen;
Zum Drehen und Walzen und lustigen Hopp
Erkieset sich jeder ein Schätzchen.
Da pfeift es und geigt es und klinget und klirrt,
Da ringelt’s und schleift es und rauschet und wirrt,
Da pispert’s und knistert’s und flistert’s und schwirrt,
Das Gräflein, es blicket hinüber,
Es dünkt ihn, als läg‘ er im Fieber.

 

Das ist schon etwas mutwillig, aber trotzdem ein schönes Beispiel, was man mit dieser Strophe anstellen kann. Also, wer einmal etwas mehr Raum beanspruchen möchte – hier ist eine Form, die es ermöglicht!

Die Schmeißfliege

Ich lese immer noch in Böttigers „Literarischen Zuständen und Zeitgenossen“ …

In seinem Vorwort zum 1997 im Aufbau-Verlag erschienenen Buch schreibt (Mit-)Herausgeber René Sternke:

Der Autor verstand es, ohne es zu beabsichtigen, verschiedene seiner Zeitgenossen, unter ihnen Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Johann Gottfried Herder, die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling, so zu verärgern, dass sie ihn öffentlich als „Arschgesicht“, „Vogelscheuche“, „Lügner“ oder „Schmeißfliege“ verunglimpften.

Eine eindrucksvolle Liste … Und so ganz unrecht hatten die Geistesgrößen nicht; Böttiger lässt sich oft zu Klatsch und Tratsch hinreißen. So berichtet er etwa über Ferdinand Justus Christian Loder, damals schon ein bekannter Mann, der später noch zum Leibarzt von Königen und Zaren werden sollte:

Seinen anatomischen Vorträgen weiß er da, wo die Zeugungsteile vorkommen, alle mögliche Würde zu geben. Bemerkt er, dass fremde Studenten aus sträflicher Neugier gerade diese Stunde zum Hospitieren abgepasst haben, so ruht er nicht eher, als bis diese abgetreten sind, oder er behandelt sogleich außer der Ordnung eine andere Materie.

So weit, so harmlos (wenn man sich auch fragen kann, warum das mitteilenswert ist). Der Punkt lässt Böttiger aber nicht los – drei Sätze später schreibt er:

Wegen eines monströs großen Penis in seiner Präparatensammlung hat er viel Ärger ausgestanden. Er wusste diese Rarität bei einem angesehenen Bürger in Jena noch bei Lebzeiten des Besitzers zu entdecken, und brachte (es) durch Bestechung des Totengräbers dahin, dass er dies schöne Specimen noch aus dem Sarge rettete. Unglücklicherweise hatte die Frau des Verstorbenen Verdacht geschöpft und verlangte nun vom Totengräber, dass er ihr den Sarg noch einmal öffnen solle, weil sie sich nicht eher zufriedengeben könne, als bis sie wisse, es sei mit dem Leichnam ihres Mannes nichts unrechtes vorgegangen.  Als der Totengräber keine Ohren dazu hatte, wandte sie sich an den Stadtrat und verlangte von diesem die Erlaubnis, und nur durch strenge und standhafte Verweigerung konnte man es dahin bringen, dass sie sich zwar nicht beruhigte, aber doch nichts zu unternehmen wagte.

Und dass er sich mit dergleichen eher keine Freunde macht, hätte er wissen können … Aber heute, keine Frage: liest sich sein Buch auch wegen dieser Klatsch-Geschichten sehr angenehm, weil abwechslungsreich!

Erzählformen: Das Distichon (101)

Die Trauerweide

Wie auch sehnend, o Baum, die Arme nieder du streckest,
Ach! aus den Tiefen der Gruft langst du ihn nimmer herauf.

 

So Karl Gottfried von Leitner in seinen „Friedhofsblumen, meinen lieben Toten zum Kranze gewunden“. Trauerweiden und Gräber sind sicher eine naheliegende Zusammenstellung, da lohnt der gelegentliche Vergleich, zum Beispiel mit dem in Der Blankvers (89) vorgestellten Text von Otto Julius Bierbaum?!

Die metrische Form:

Wie auch / sehnend, o / Baum, || die / Arme / nieder du / streckest,
Ach! aus den / Tiefen der / Gruft || langst du ihn / nimmer her- / auf.

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Vor dem Farbgericht

„Ich rufe nun als Zeugen auf:
Den frühen Wintermorgen!“
So spricht das Grau beim Farbgericht,
denn hier will es beweisen,
dass jede Farbe, Grün und Blau
und Rot und welche immer,
in ihm, dem Grau, enthalten ist.

Der Wintermorgen tritt herein,
und man muss anerkennen:
Obwohl die Pfannen auf dem Dach
eindeutig grau sind, schimmert
in ihnen doch ein Hauch von Rot;
Obwohl das Gras der Wiesen
eindeutig grau ist, liegt ein Hauch
von Grün auf allen Blättern;
Obwohl der Wellenschlag im Bach
eindeutig grau ist, ahnt man
in jedem Wirbel doch das Blau..

Die andern Farben, die das Grau
seit jeher tief verachten,
sind stumm, und mit gesenktem Haupt
erwarten sie das Urteil.

„Im Namen aller Farben, hört!“
so spricht der Richter endlich,
„Der Anspruch, den das Grau erhebt,
ist rechtens; Alle Farben,
sei’s Grün, sei’s Blau, sei’s Rot, sind Teil
des Graus! Und damit schließe
ich diese Sitzung. Vielen Dank.“

„Ich danke auch, Herr Richter,“
bemerkt das Grau, springt hastig auf
und eilt davon: Es nahen
der späte Wintermorgen und
der helle Schein der Sonne.