Erzählformen: Das Sonett (19)

Sonette über die Musik gibt es manche; ihr Vergleich lehrt sicher auch einiges über die Darstellungsmöglichkeiten der Form. Hier eines von Franz Werfel, „Der Dirigent“:

 

Er reicht den Violinen eine Blume
Und ladet sie mit Schmeichelblick zum Tanz.
Verzweifelt bettelt er das Blech um Glanz
Und streut den Flöten kindlich manche Krume.

Tief beugt das Knie er vor dem Heiligtume
Des Pianissimos,der Klangmonstranz.
Doch zausen Stürme seinen Schwalbenschwanz,
Wenn er das Tutti aufpeitscht, sich zum Ruhme.

Mit Fäusten hält er fest den Schlussakkord.
Dann harrt er, hilflos eingepflanzt am Ort,
Dem ausgekommenen Klange nachzuschaun.

Zuletzt, dass er den Beifall dankend rüge,
Zeigt er belästigte Erlöserzüge
Und zwingt uns, ihm noch Größres zuzutraun.

 

Hübsch! Auf- und doch auch erzählend; und mit einem gehörigen Schuss Komik versehen. Das lässt sich sicher als Ausgangspunkt für einen Vergleich benutzen?!

Erzählformen: Die alkäische Strophe (25)

Die erste Strophe von Ferdinand von Saars „Aufflug“ pflegt, wie es zur (alkäischen) Ode gehört, das große Wort:

 

O hehrer Vollklang attischen Rhythmenschwungs,
Wie fremd geworden bist du dem deutschen Ohr!
Für immer abgetan erklärte
Längst dich banausischer Zeiten Stumpfsinn.

 

Das liest sich nicht schlecht?! Leider misslingen von Saar die folgenden vier Strophen in ihrem „Ich will es trotzdem wagen“ ziemlich … „Aufgeflogen“ in einem anderen Sinn, wenn man will. Immerhin, die dritte Strophe hat durchaus ihren Reiz:

 

Wen noch ergreift heut Klopstocks, des Barden, Lied?
Veraltet ist es – mit ihm veraltet auch
Sind Hölderlins, des Sehnsuchtsvollen,
Tönende Hymnen und Platens Hochsinn.

 

Wahr; jedenfalls in Bezug auf Klopstock und Platen …

Licht ins Dunkel

Ein Dichter dichtet einen Vers,
Dann einen zweiten, ganz, als wär’s
Von irgendeinem Nutzen,
Und kichert still und geht vergnügt
Das Küchenfenster putzen:
Wer reimt, betrügt.

Erzählverse: Der Blankvers (119)

Einen Blankverstext noch, bevor es wieder in eine andere Richtung geht, diesmal einen harten und unnachgiebigen: Leo Sternbergs „Die Lebensmüden“.

 

Was kommt dort für ein seltner Pferdeknecht?
Bringt seinen Markteinkauf der Schinder heim?
Durch das Gewühl der Großstadt führt der Tod
der Klepper lange Koppel, kahl gehalftert,
mit strohdurchflochtnen Schwänzen, Hängebäuchen,
Wundaugen auf den Hüften, scheele, lahme,
nur Sehnen noch der Hals, und um den Huf,
an dem das halbgelöste Eisen klappert,
des Fesselbusches ungeschnittner Strupp.

Des Führers Finger deutet rechts und links;
auf Brauergäule dort, bergan gepeitscht;
auf doppelstöckiger Straßenbahn Gespann,
das nass gejagt am ganzen Leibe dampft;
auf der berittnen Wachen erznen Rappen,
der festgegossen in der Torfahrt starrt;
und auf des Droschkenkutschers gichtigen Koller,
der mit der Nase tief im Futtersack
von Hafer träumt, den er im Himmel findet.

Entzäunt, entsattelt, jeder Last entschirrt,
mit ungetrübtem Auge seht ihr jetzt
dem Treiben zu. Es ist euch freigestellt,
es noch einmal zu leben. Also wählt!
Noch einmal heben sie die langen Stirnen,
gespitzten Ohres in die Ferne prüfend.
Lang sagen sie nicht „ja“ und auch nicht „nein“,
dann sinkt die Stirn: „Es ist uns einerlei.“

„So spricht der Sterbende! Voran denn, Alter!“
Und auf schwingt sich der Tod wie ein Ulan
und reitet alle in die große Schwemme.

 

Auf seine Art eine nicht weniger wirksame Sammlung einprägsamer Einzelheiten als das in (118) gezeigte Liliencron-Gedicht … Der Vers „Entzäunt, entsattelt, jeder Last entschirrt“ ist eine schöne Ergänzung zu Wortvergnügt (7)!

Erzählverse: Der Blankvers (118)

Vielleicht lässt sich etwas lernen aus den Vergleich zwischen Otto Ludwigs Versen des gestrigen Eintrags und der ersten Hälfte von Detlev von Liliencrons „Auf einem Bahnhofe“?!

 

Aus einer Riesenstadt verirrt‘ ich mich
Auf einen weit entlegnen kleinen Bahnhof.
Ein Städtchen wird vielleicht von hier erreicht
Von Männern, die vom Morgen an viel Stunden
Am Pult, in Läden und Kanzlei gesessen,
Und nun des Abends im Familienkreise
Den Staub abschütteln wollen vom „Geschäft“.
Ein glühend heißer Sommertag schloss ab.
Es war die Zeit der Mitteldämmerung.
Der neue Mond schob wie ein Komma sich
Just zwischen zwei bepackte Güterwagen.
Im Westen lag der stumme Abendhimmel
In ganz verblasster milchiggelber Farbe.
Und diesem Himmel stand wie abgeschnitten
Ein Haufen Schornsteintürme vor der Helle.
Aus allen Schloten qualmte dicker Rauch,
Erst grad‘ zur Höh‘, dann wie gebrochen bald,
Beinah‘ im rechten Winkel, einem Windzug
Nachgebend, der hier Oberhand gewonnen.
In wunderlich geformten Öfen dort,
Die offne Stellen zeigten, lohte ruhig,
Ganz ruhig, ohne jeden Flackerzug,
Ein dunkelblauer starker Flammenmantel …

 

Inhaltlich ziemlich beeindruckend, wie Liliencron eisern bei der Beschrebung dessen bleibt, was zu sehen ist – überzeugt davon, dass die Kraft der Verse den Leser hält?! Kraft haben die VErse aber wirklich, nicht zuletzt wegen der Versenden, die deutlich abwechslungsreicher gestaltet sind als die bei Ludwig mit ihrem Wechsel von männlich-betonten und weiblich-unbetonten Endsilben. Wobei letzere auch häufig ein „schwaches e“ haben; aber eben nicht alle.

Erzählverse: Der Blankvers (117)

Otto Ludwigs „Zu stille Liebe“:

 

Zwei liebten sich und wollten sichs nicht sagen,
Und küssten sich auf eines Kindes Munde,
Und sahen sich nur in des Kindes Augen,
Und sprachen sich nur durch den Mund des Kindes.
Da starb das Kind. Nun konnten sie nicht küssen,
Nicht mehr sich sehn und auch nicht mehr sich sprechen.
Da haben sie sich ganz in sich gezogen,
Und immer fremder sind sie sich geworden
Und haben immer heißer sich geliebet,
Nach Kuss und Blick gesehnt und süßer Rede,
Und sind am End‘ vor Sehnsucht gar gestorben.

 

Ob es da die letzten fünf Verse wirklich braucht?! Warum nicht, sie schaden ja nicht, könnte man sagen; aber wenn ein Gedicht so unscheinbare, wenig gestaltete Blankverse nutzt, sollte es wohl nicht allzulang sein, weil sich sonst eine gewisse Eintönigkeit bemerkbar macht?!  Als Beispiel: Es schließen wieder – siehe (116) – alle Verse weiblich-unbetont, und die unbetonten Endsilben haben alle ein „schwaches e“, nicht selten in der Forn „-en“, was Vers immer leblos erscheinen lässt; je länger der Text, desto nötiger die Abwechslung auch in diesem Punkt!

Erzählformen: Das Distichon (104)

Heinrich von Kleist hat einige wirklich gelungene Einzeldistichen geschrieben; aber seine ganz eigene Art des Ausdrucks ist bestimmt um den größeren Raum, den eine ganze Reihe von Distichen bietet, nicht böse gewesen … Wie das wirken kann, zeigt sein „Prolog“:

 

Wettre hinein, o du, mit deinen flammenden Rossen,
Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum!
Gib den Horen dich hin! Nicht um dich, neben, noch rückwärts,
Vorwärts wende den Blick, wo das Geschwader sich regt!
Donnr‘ einher, gleichviel, ob über die Länder der Menschen,
Achtlos, welchem du steigst, welchem Geschlecht du versinkst,
Hier jetzt lenke, jetzt dort, so wie die Faust sich dir stellet,
Weil die Kraft dich, der Kraft spielende Übung, erfreut.
Fehlen nicht wirst du, du triffst, es ist der Tanz um die Erde,
Und auch vom Wartturm entdeckt unten ein Späher das Maß.

 

Da ist das Distichon immer noch die Größe, von der her der Text gedacht ist; aber weil der Gedanke insgesamt mehr Raum hat, geht er auch verschlungenere Wege, und die angeregte Art, in der er es tut, passt wunderbar zum „Wirklichkeits- und Bewegungshunger“ des Distichons?!

Wortvergnügt (7)

Mit der Vorsilbe „ent-“ werden, und vor allem: wurden viele schöne Verben gebaut. „Entmuten“ zum Beispiel ist heutzutage ein technischer Begriff; früher stand es oft anstelle von „entmutigen“. Als ich im „Online-Grimm“ dieses Wort nachschaute, fanden sich dort wunderbare „Ent-Verben“ die Menge – „entnasen“ zum Beispiel, das in einem schönen Distichon auftaucht – und dabei gleich einen Freund mitbringt:

 

Alte, verwitterte Steine mit unerklärbaren Schriften,
Urnen voll Asche und Sand, Büsten, entnast und entohrt;

 

– So zu finden in Johann Jakob Jägles „Gedichten“. Die wahrscheinlich unübertroffene Höchstleistung ist in dieser Hinsicht aber die von Friedhelm Kemp stammende Übersetzung eines Verses von Pierre de Ronsard:

 

Je n’ai plus que les os, un squelette je semble,
Décharné, dénervé, démusclé, dépulpé

Ich bin nur noch Gebein, mein eigner Knochenmann,
Entmarkt bin ich, entsehnt, entmuskelt und entfleischt

 

Das hat eine beachtliche Überzeugungskraft!

Von daher: Ruhig einmal darauf achten, was einem so alles an „Ent-Verben“ begegnet beim Lesen; und dann auch den Mut haben, nach eigenem Gefallen neue Vertreter dieser Art selbst zu bilden und einzusetzen!

Erzählformen: Das Distichon (103)

1893 erschienen Ferdinand von Saars „Wiener Elegien“ und zählten rasch zu seinen erfolgreichsten Dichtungen; heute wirken sie ein wenig veraltet, man kann sie aber noch gut lesen, jedenfalls da, wo der weite Raum der Distichen zur unaufgeregten Schilderung  der Wiener Verhältnisse genutzt wird. Als Beispiel die zehnte Elegie:

 

Sieh, schon wirbeln die Flocken um ragende Dächer; es sausen
Eisige Winde mit Macht durch die rings offene Stadt.
Ja, der Winter ist da! Mit ihm erschienen die Freuden,
Welche der Städter schon längst sommerverdrossen ersehnt.
Alle Theater gefüllt, Applaus erschüttert den Tonsaal –
Und so bewegt sich auch Wien wieder im alten Geleis.
Amt und Geschäft durchkreuzen die Straßen, auf glitschigem Pflaster
Humpelt der Omnibus, rast der Fiaker dahin;
Equipagen dazwischen, von stolzen Trabern gezogen,
Halten vor jedem Palast, wo man Besuche empfängt;
Stattliche Leute zu Fuß vereint der gewohnte Spaziergang,
Wohlig in Pelze gehüllt schreiten sie über den Ring.
Aber vergnüglicher noch hineilen die Schönen zum Eisplatz,
Wo der geschmeidige Wuchs sich am geschmeidigsten zeigt.
Knapp umschließt ihn die wärmende Jacke; auf braunen und blonden
Häuptern sitzen kokett Mützen, mit Zobel verbrämt.
Hui, wie fliegt sich’s dahin auf leicht einritzendem Schlittschuh,
Den mit bebender Hand kniend der Jüngling geschnallt!
Sieh nur den zierlichen Reigen! Es trennen und flieh’n sich die Paare,
Aber in reizendem Bug kehren sie wieder zurück.
Liebliches Meiden und Finden – gemeinsam wonniges Kreisen,
Bis die Dämmerung webt um das lebendige Bild.
Aber da zuckt auch empor das elektrische Licht und umschimmert
Magisch den spiegelnden Plan und die Gestalten darauf.
Ach, wer entfernte sich jetzt? Erstarren die Finger im Müffchen,
Spürt auch das Näschen den Frost – lodert in Flammen das Herz.

 

Sehr anschaulich! Und auch die Verse sind unaufgeregt und sicher gebaut; hier gibt es eine Nachlässigkeit (zum Beispiel einen sehr schwachen zweisilbigen  Versfuß), dort eine Besonderheit (etwa einen geschleiften Spondeus), doch insgesamt ist da ein Eindruck von Ruhe und Verlässlichkeit?!

Und wer einen Vergleich haben möchte: In Klopstocks Schulter (7) steht (unter anderem), was Goethe in „Dichtung  uund Wahrheit“ über das Schlittschuhlaufen zu sagen hat!