Das Königreich von Sede (111)

Pulverfass ist verstimmt: Den ganzen Tag lang
Ruhte, still, er am Rand des Grabens, auf wuchs,
Was er schwieg, ins Licht; aber die Nacht
Kam, und es wächst des Froschs Ruf in das Dunkel auf.

Erzählformen: Das Distichon (109)

Ich habe heute in Jakob Minors „neuhochdeutscher Metrik“ gelesen, dass, wenn am Ende der ersten Pentameter-Hälfte nicht auch ein Wort schließt, der Pentametereinschnitt also innerhalb eines Wortes liegt und von diesem überbrückt wird: dass dann ein „Ioniker a maiore“ als Wortfuß vorliegt. Da ist was dran! Allerdings hat Minor nur Beispiele wie den bekannten Schlegel-Vers

 

Priamos auch und des speerschwingenden Priamos Volk

 

– und da gehört, will man denn pingelig sein, das „und des“ doch irgendwie auch noch zum Wortfuß, zum Ioniker „speerschwingenden“?! Aber es lässt sich ohne Mühe ein Beispiel schreiben, das derlei vermeidet:

 

Dichteralltag

Grimmend nimmt er sein Werk, zerreißt die Seiten und äußert
Wenigpoetisches: „Grundgütiger, was für ein Mist!“

 

Grund- || gütiger, genau auf dem Pentametereinschnitt und ein Wortfuß der Form — —◡◡!

Grüße an Hipponax

Es wissen alle, die nach altem Maß dichten,
Sehr wohl, dass des Gedichts formale Absichten
Meist unklar bleiben jenen, die den Text richten.

Erzählverse: Der Hexameter (179)

Als Gegenstück zu den in (178) angegebenen „gereimten Strophen unter Hexameterbeteiligung“ hier Werner Bergengruens „Capri VI, Castiglione“ (aus Figur und Schatten, Nymphenburger Verlagshandlung 1958, S. 101):

 

Liebstem Gassengewirr, begrünter Enge entkommen,
Heißer atmender, hast du bewachsene Felsen erklommen,
Schmales Mauergeviert an verfallener Burg der Korsaren,
Unter dir Blau, von verbrannten, versunkenen Schiffen befahren.
fauchender Panter, fährt aufspringender Wind dir entgegen,
Seeräuberwind der Freiheit! Sturmvogelschwingen in Schlägen!
Mit sich reisst er dein herz, du hängender über den Meeren.
Hochaufschäumende Flut am Bug bemannter Galeeren!
Und phönikisches Volk, sarazenisch entflammte Haufen!
Schwellende Jugend der Welt, Normannen und Hohenstaufen!
Aufschrei reisigster Kraft!: verscholl, versank in Gemäuer.
Aber da blieb der Ölbaum, es blieb der Weinstock getreuer.

 

Also „Hexameter-Reimpaare“. Hm. Bergengruen war allemal Dichter genug, um über das folgende lächelnd hinwegschweigen zu können:  Ich mag diese Verse nicht. Der Reim ist im besten Fall eine Ablenkung; aber im Eigentlichen vollkommen versfremd …

Das Königreich von Sede (110)

Schemel singt in die Nacht, mit leiser Stimme,
Nicht zu stören den Schlaf der Frösche. Aber:
Keiner schläft, und der Narr bemerkt es endlich,
Jetzt, und singt in die Nacht: mit leiser Stimme.

Erzählverse: Der Hexameter (178)

Hexameter und Reim vertragen sich nicht. Am wenigsten fällt das wohl auf, überführt man den Hexameter in eine Strophe und verbindet ihn darüber hinaus mit anderen Versen. Zwei Beispiele:

 

Wettgesang

Heute belauscht‘ ich am Bach wetteifernde Hirtengesänge,
Und schwellend hob sich meine Brust
Beim anschmeichelnden Hauch einfältiger landlicher Klänge
Von Liebesleid und Sommerlust.
Kunstlos war der Gesang, auch prunklos waren die Singer,
Und selber schmucklos war die Flur;
Doch vom Himmel ein Glanz war irdischer Mängel Bezwinger,
Ich sah verklärte Lichtnatur.
Hört, nicht wie es entsprang, wie mir in bezauberten Ohren
Das umgebot’ne Hirtenlied
Sein ursprüngliches Nackt im tönenden Schmucke verloren,
Und wie ich selbst den Streit entschied.

 

– Friedrich Rückert. Ein Hexameter und als Kurzvers dabei ein iambischer Vierheber – ein „iambischer Dimeter“, wie das die Alten genannt hätten. Insgesamt ein „1. pythiambisches Distichon“ (das 2. hat einen sechshebigen Iambus – einen „iambischen Trimeter“ – als Zweitvers). Rückert nennt das ein „modernes Idyll“ – passt wahrscheinlich, „Alte Form“ + „Reim“?!

 

An Braga (erste Strophe)

Komm, du Geber des Sangs, Apollens Besieger o Braga,
Bei mir warten dein Braten und Fisch,
Komm, sonst hol dich der Teufel, Papa der Barden und Aga,
Komm an meinen beschüsselten Tisch!

– Ludwig Hölty. Auch eine alte Form, ein „alkmanisches Distichon“, Hexameter + katalektischer daktylischer Vierheber, eben ein „alkmanischer Vers“, wahrscheinlich in aller Kürze so am sinnvollsten darstellbar: X x (x) / X x (x) / X x x / X. Zwei solcher Distichen in einer Strophe verbunden, und wie bei Rückert kreuzgereimt – das scheint möglich? Auch hier ein Gegensatz zwischen Süden (alte Form) und Norden (Reim); das muss aber sicher nicht sein. („Papa„, übrigens, wie damals üblich …)

Erzählverse: Der Hexameter (177)

Sing, Infernale, den Mann, der aus dem Geklüfte der Hölle,
Aus den Schwefelbezirken der Nacht dämonisch emporstieg
Und, von dem Geist Adramelechs beseelt, mit blutiger Klugheit
Einem der Fürsten zuerst das „Kreuzige, Kreuzige!“ zurief.

 

– Der Beginn von Johann Gottfried Seumes „Apotheose“, gut gebaute und dabei schwungvolle Hexameter! Ansonsten ein klassischer Anfang, mit Anrufung und allem; die gleich mehrere ältere epische Anfänge aufruft, vom „Sing, unsterbliche Seele, des sündigen Menschen Erlösung“ des Messias bis hin zum  „Waffen ertönt mein Gesang und den Mann, der vom Troergefild‘ einst / Kam …“ der Aeneis.

Unreimbar

In Gerhard Grümmers „Spielformen der Poesie“ (Dausien 1985) findet sich auf Seite 94 eine Liste unbenannter Herkunft, die „unreimbare Begriffe“ enthält:

Hoffnung, Weisheit, Kühnheit, Schönheit, Anmut, Unschuld, Jungfrau, Knospe, Frühling, Antlitz, Seufzer, Jüngling, Zukunft, falsch, Furcht.

Grümmer merkt an:

Es ist leicht zu ermessen, welche Ausdrucksmöglichkeiten unserer Poesie dadurch verlorengehen.

Hm. Das hat, wie alles, zwei Seiten: So bleiben unserer Poesie auch weitere Reim-Untote des Kalibers „Herz-Schmerz“ erspart. Wenn  „Mensch“ zu reimen wäre – nicht auszudenken!