Erzählverse: Der Hexameter (176)

In den Tagen der „Flüchtlingskrise“ ist auch Johann Wolfgang Goethes von Flüchtenden erzählendes Epos „Hermann und Dorothea“ wieder ein Stückweit ins Bewusstsein gerückt, wie im Herbst 2016 eine „szenische Lesung“ am Burgtheater in Wien bewies oder, zu Beginn des letzten Jahres, diese als Youtube-Schnippsel verfügbare Lesung bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen:

Hermann und Dorothea

Zum Vortrag kommen diese Verse aus „Klio“, also dem sechsten Gesang:

 

Sie verwendete schnell, fürwahr, und gut die Geschenke.
Diese sind deutliche Zeichen, es treffen die übrigen alle;
Denn der rote Latz erhebt den gewölbeten Busen,
Schön geschnürt, und es liegt das schwarze Mieder ihr knapp an;
Sauber ist der Saum des Hemdes zur Krause gefaltet
Und umgibt ihr das Kinn, das runde, mit reinlicher Anmut;
Frei und heiter zeigt sich des Kopfes zierliches Eirund,
Und die starken Zöpfe um silberne Nadeln gewickelt;
Sitzt sie gleich, so sehen wir doch die treffliche Größe
Und den blauen Rock, der vielgefaltet vom Busen
Reichlich herunterwallt zum wohlgebildeten Knöchel.

 

Ich gehe davon aus, dass die Vortragenden wissen, was sie tun; aber ob sie nicht doch dem Vers etwas mehr hätten vertrauen können, oder gar: sich ihm anvertrauen?!

Erzählformen: Siebenzeiler (8)

Siebenzeilige Strophen verwenden eher selten fünfhebige Verse. Das hat nichts mit einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit zu tun; mehr damit, dass die einen schon wieder aus der Mode waren, als die anderen – im strophischen Gedicht! – ihre große Zeit erlebten. Aber Beispiele gibt es selbstverständlich trotzdem, zum Beispiel die erste Strophe von „An Grotthuß“, einem Gedicht von Christoph August Tiedge:

 

Dem Jüngling zeigt die Welt ein Bild der Jugend;
Und sonnig wogt sein Weg bergab, bergan.
Romantisch lacht ihm selbst die ernste Tugend;
Sie beut sich ihm mit ihren Kränzen an.
Er glaubt so gern bei frommen Huldigungen,
Er habe sie, weil er sie liebt, errungen,
Ob auch für sie kein Schweiß ihm noch entrann.

 

Das ist inhaltlich … ein wenig trocken, aber von der Form her eine tragfähige Strophe, mit Kanzonen-Bau und allem.

Erzählverse: Der Blankvers (126)

Kaum ein Vers ist so wandlungs- und anpassungsfähig wie der Blankvers. In „Sokrates und der Jüngling“ gibt er Nikolaus Götz Raum für dessen ganz eigenen, nachlässig-anziehenden Ton:

 

Ein Jüngling tat auf seine Schönheit stolz:
Den führte Sokrates zu Phöbus Tempel,
Wo dieser schöne Gott in Marmor stand.
„Was spräche der, wofern er sprechen könnte,
Mit Wahrheit von sich selber?“, fragt er ihn.
Der Jüngling gibt zur Antwort: „Dieser spräche
Mit Wahrheit von sich selber: Ich bin schön.
„Warum“, erwiderte der weise Grieche,
„Stolzierst du denn mit Gaben eines Steins!
Willst du nicht höher als ein Stein dich schätzen?“

 

So waren sie, die der Überzeugungsarbeit zugetanen „weisen Griechen“ … Aber auch wenn hier mancher Ausdruck schon etwas fremd klingt:  Gut gemachte Verse!

Erzählformen: Siebenzeiler (7)

Ludwig Gleims „Agathon“ ist ein nettes, kleines Stück – in Siebenzeilerform:

 

Eine Reise hin nach Rom
Hat mein Agathon beschlossen!
Tränen, einen ganzen Strom,
Hab‘ ich schon vergossen;
Ist aus seinem Auge wohl,
Da er mich verlassen soll,
Eine nur geflossen?

 

Eigentlich wie erwartbar gebaut mit zwei zweizeiligen Stollen im Aufgesang und dreizeiligem Abgesang; trotzdem etwas ungewöhnlich, weil V4 und V7 dreihebig sind (oder V2 vierhebig – je nachdem …) Auch die Reime, alle auf „o“: ist das eine Klammer, die hilft, den Text als Einheit wahrzunehmen, oder führt es eher zu einer gewissen Eintönigkeit?!

Erzählverse: Der Blankvers (125)

Wilhelm Waiblinger vergleicht am Anfang von „An Karl von Bonstetten“ die Jugend mit „einer Rose Blütenbild“, ehe er zum Alter kommt:

 

Nicht so das Alter. Denn das Leben gleicht
Dem Bergstrom, der aus unbetretnen Höhn
Herabrauscht und durch Abgrund und Geklüft
Wildschäumend seine grüne Bahn sich bricht,
Und endlich frei und schön, im weiten Bett,
Von Fels und Fesseln länger nicht beengt,
In heitrer Klarheit fließt; das Unfer lacht
Mit Menschen, Dörfern, Früchten um ihn her,
Und spiegeleben, segenbringend trägt
Für menschlich Wirken er das stolze Schiff.
Das ist der Greis. Dem frommen Altertum
War er der Weisheit und der Tugend Bild.

 

„Bild“, ja … Das ist hier vielleicht nichts besonderes, aber die Art, wie die ausschließlich betont schließenden iambischen Fünfheber hier den Inhalt tragen – ruhig, zutiefst selbstverständlich -, ist schon ein Reinhören wert?!

Erzählverse: Der Hexameter (175)

Manchmal findet man an ganz unvermuteten Stellen Wissensbröckchen, wertvolle oder doch zumindest unterhaltsame. Mir ging es gerade so, als ich aus welchen Gründen auch immer durch Reinhard Lauers 2005 bei Beck erschienene „Kleine Geschichte der russischen Literatur“ blätterte und dort auf Seite 46 im Zusammenhang mit Wassili Trediakowski (1703-1769) und seiner „Tilemachida“, dem Werk, mit dem der russische Hexameter seinen Anfang nahm und das sehr ungewohnt daherkam, über den spöttischen Umgang mit demselben lesen musste:

So wurden in der Hofgesellschaft Katharinas Verstöße gegen die Ettikette durch das Lesen und Auswendiglernen Trediakowskischer Hexameter geahndet.

Das sollte einen Hexametristen wohl empören; aber ach …