Erzählformen: Das Distichon (116)

Ernst Schulze hat einiges geschrieben, was zu lesen sehr lohnt; der folgende Anfang einer seiner Elegien gehärt noch nicht einmal unbedingt dazu:

 

Amor, himmelgeborener, komm, nicht jener, der sinnlos
Ins wildwogende Meer frevelnder Lüste sich senkt,
Nicht du verderblicher Gott, der tief in die Herzen den Pfeil uns
Schleudert und hoffnungslos ewige Gluten erweckt:
Nein, du reizendes Kind, du flüchtiges, welches die Götter
Mit ätherischem Band lieblich und lose verknüpft,
Komm, du romantischer Knabe, der Abenteuer Beschützer,
Zarten Geflüsters Freund, Freund der verschwiegenen Lust,
Der du keusch und üppig zugleich und flüchtig und treu bist,
Feind der Fesseln und doch immer in Fesseln geschmiegt,
Du, der Schmerz und Freude gewährt, doch nimmer in Trübsinn
Unsere Schmerzen und nie wandelt in Ekel die Lust.

 

Aber einen deutlichen Gestaltungswillen, den spürt man von Anfang an; und wenn sich im letzten Distichon der Satz, vom Versrahmen gehalten, ein wenig löst und locker wird und doch verständlich bleibt – das ist schon spannend zu lesen …

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (75)

Nach den fünfzeiligen ungreimten Strophen, die Georg Heym in (74) verwendet hat, hier dreizeilige Strophen, gleichfalls ungereimt, von Christian Morgestern:

 

Palmström stellt ein Bündel Kerzen
auf des Nachttischs Marmorplatte
und verfolgt es beim Zerschmelzen.

Seltsam formt es ein Gebirge
aus herabgeflossner Lava,
bildet Zotteln, Zungen, Schnecken.

Schwankend über dem Gerinne
stehn die Dochte mit den Flammen
gleichwie goldene Zypressen.

Auf den weißen Märchenfelsen
schaut des Träumers Auge Scharen
unverzagter Sonnenpilger.

 

Andere Abteilung, andere Wirkung! Schade, das Morgenstern nicht noch eine fünfte Strophe geschrieben hat, dann wären es 5×3 Verse gewesen gegenüber den 3×5 Heyms …

Erzählformen: Das Distichon (115)

Adlers Traum

Tief in finsteren Kerker gebannt saß träumend der Adler,
Hoch am eisernen Dach spielte verloren ein Strahl.
Lichtwärts hebt sich der Aar – tot liegt er am Boden zuerschmettert:
Toter, zerschlagener Aar! Sage, was hast du geträumt?

 

Ganz aus sich selbst heraus verständlich scheinen mir diese Verse von Christian Friedrich Scherenberg nicht – aber wenn man sie in Bezug auf den Versbau ansieht, fallen die schwächeren zweisilbigen Füße am Versbeginn auf, während die Hexameter-Füße, in denen die Zäsur liegt, „voller“ besetzt sind. Das wirkt auf seine eigene Art!

„Lichtwärts“ ist dann am Versbeginn ein kräftigerer zweisilbiger Fuß – und ein wirksames Wort gleich mit …

Erzählverse: Der Hexameter (180)

Wenn man es wirklich will, kann man in einem Hexameter eine ganze Menge an Klangwirkung unterbringen. Ernst Moritz Arndt beginnt „An Antonia Amalia, Herzogin von Württemberg“ mit diesem Vers:

 

Knabe war ich, es drang kein Klang von gewaltigen Dingen

 

Das ist von der Versbewegung her ein gut gebauter Vers. In Bezug auf den Klang verliert er aber ein wenig das Maß … Da ist einmal der unmittelbare Reim „drang – Klang“; dann aber auch der Umstand, dass die ersten fünf Hebungssilben alle den Vokal „a“ aufweisen; und schließlich die Alliterationen der Hebungssilben in der ersten und in der zweiten Vershälfte: „Knabe – Klang“, „war – wal“, „drang – Ding“.

Uffa. Da war vielleicht weniger mehr; aber ein wirksamer Vers, trotz allem!

Erzählverse: Der iambische Vierheber (14)

In (2) wurde Das Rosenband von Klopstock vorgestellt, samt der dafür verwendeten, dreizeiligen Strophe aus reimlosen iambischen Vierhebern. In „Kuss und Lied“ benutzt auch Wilhelm Müller diese Strophe:

 

Jüngst grüßte mich ein roter Mund;
Ein Liedchen saß auf meinen Lippen,
Und aus dem Liedchen ward ein Kuss.

Jetzt ist mein Mädchen fern von mir;
Zum Kusse will mein Mund sich schwellen,
Und aus dem Kusse wird ein Lied.

Fliegt nun, ihr lieben Verse, hin,
Und drückt sie euch an ihre Lippen,
So werdet wieder, was ihr wart!

 

Und wenn auch der Inahlt nicht der nachdenkenswerteste ist: Die Art, wie er sich aus der Form heraus entfaltet, aus Gegensetzung und Weiterführung: Das ist schon ein Hinsehen wert!

Der Doppelrätsler

Jean Dufresne war ein Berliner Schachmeister des 19. Jahrhunderts, von Berufs wegen aber eigentlich Journalist. Da kann es nicht wundern, dass er auch über das Schach geschrieben hat – sein „Kleines Lehrbuch des Schachspiels“ war sehr bekannt und sehr langlebig! Seine zwei Seiten kamen auch in Bezug auf die Rätselei zum Vorschein – er hat eine Sammlung von Schachproblemen veröffentlicht, selbst einige wenige Probleme gebaut und ansonsten Rätselgedichte geschrieben. Ein kleiner Zweizeiler:

 

Palindrom

Dem schmucken Renner steht’s wohl an,
und rückwärts, wohlgepflegt, dem Mann.

 

Gesucht ist das Wortpaar „Trab – Bart“. Als Schachaufgabe stelle ich ein Selbstmatt Dufresnes aus dem Jahr 1849 vor – Weiß zwingt dabei den Schwarzen, ihn selbst mattzusetzen!

[fen]6r1/8/2R3B1/8/7p/2N5/3p1p2/2k1bK2 w – – 0 1[/fen]

Selbstmatt in sechs Zügen! Keine sehr schwere Aufgabe, in der die ersten beiden Züge verwendet werden, die schwarzen Zugmöglichkeiten einzuschränken und ein gut bekanntes Schema zu verwirklichen; danach spult sich die Lösung dann recht mechanisch ab: 1. Sc3-a4+ Kc1-d1, 2.Lg6-h5+ Tg8-g4. Nun kann nur noch der schwarze Bauer auf h4 ziehen. Weiß muss derweil den zum Matt benötigten Springer heranführen: 3. Sa4-b6 h4-h3, 4. Sb6-d5 h3-h2, 5. Sd5-f4. Wandelt Schwarz nun den Bauern in eine Dame oder einen Turm um, ist Weiß sofort Matt. Sonst bleibt aber nur 5. … h2-h1L, 6. Sf4-g2 Lh1xg2# oder 5. … h2-h1S, 6.Sf4-g2 Sh1-g3#.

Aber gut. Für alle, die dem Schach nicht so zugetan sind, hier noch ein Rätselgedicht Dufresnes:

 

Homonym

Womit schon manch ein Mann geschwind
Sich großen Reichtum hat erhandelt,
Damit hat manch ein armes Kind
Schon harte Herzen umgewandelt.

 

„Mit Weinen“. Das mag so sein, das mit dem Handeln; da kenne ich mich wenig aus …

Das Königreich von Sede (114)

Vom Schlaf gemieden, wach, doch von Träumen irr,
Verlässt die Kammer: Schemel. Die Wachmannschaft
Bemerkt ihn nicht beim Gang durchs Schlosstor,
Laute und Wein in der rechten Hand, der linken;

Am stillen Graben wartet der alte Narr
Dem Tag entgegen. Endlich vergeht die Nacht,
Als Licht die Dinge sucht und findet,
Frösche verwirklicht, die fröhlich quaken,

Dem Tag entgegen spielt nun auch Schemel, singt
Zur Laute Lieder, weckt so das ganze Schloss
Vom Schlaf; so mancher drückt sein Kissen
Fluchend aufs Ohr, und es nützt ihm: gar nichts.