Erzählverse: Der iambische Dreiheber (12)

Karl von Reinhard hat einige hübsche, kleine Augenblicksbeschreibungen im iambischen Dreiheber verwirklicht – ein Beispiel ist „Unbestand“:

 

Ich saß mit meiner Phillis
Im Dunkel meiner Laube.
Sie deutete mir lächelnd,
Wie sich des Spiels der Liebe
Im Grün der jungen Blätter
Zwei muntre Spatzen freuten.
Da trennte sich das Pärchen.
„Ach!“, rief die holde Phillis
Mit trauervoller Miene
Und einem halben Seufzer,
„Sieh, wie ihr Glück sich endet.
Es ist das Männchen, wett‘ ich,
Das Männchen ist entflogen!“

 

Gut gemacht; und nicht zu lang, wogegen der Dreiheber durch seine vergleichsweise Kürze und Unbewegtheit (leider!) anfällig ist.

Erzählformen: Die Stanze (10)

Spätere Gedichte Goethes in Stanzen nutzen den Raum nicht mehr zum Erzählen, sondern oft zum Repräsentieren, zum Beispiel in die Stanzen „zum Geburtstag der Herzogin Luise am 30.1.1798“:

 

Der lang ersehnte Friede nahet wieder
Und alles scheint umkränzet und umlaubt,
Hier legt die Wut die scharfen Waffen nieder,
Dem Sieger ist sogar der Helm geraubt,
Das nahe Glück erreget frohe Lieder
Und Scherz und laute Freuden sind erlaubt,
Und wir, als ein Gebild aus höhern Sphären,
Erscheinen heute deinen Tag zu ehren.

 

Ich lasse es bei der ersten Strophe; so wirklich anzeihend ist derlei nicht mehr über 200 Jahre später?!

Erzählformen: Die Stanze (9)

Auch wenn die Stanze im Deutschen nach italienischen Vorbild, was meint: als Erzählstrophe  Fuß fasste – schlussendlich sind die meisten deutschen Stanzen dann eben keine epischen, sondern lyrische. Johann Wolfgang Goethe hat diesen Schritt auch gemacht: „Die Geheimnisse“, einen erzählenden Text, hat er nach 40+ Strophen abgebrochen. Zwei davon:

 

Willkommen, ruft zuletzt ein Greis, willkommen,
Wenn deine Sendung Trost und Hoffnung trägt!
Du siehst uns an; wir alle stehn beklommen,
Obgleich dein Anblick unsere Seele regt:
Das schönste Glück, ach! wird uns weggenommen,
Von Sorgen sind wir und von Furcht bewegt.
Zur wichtgen Stunde nehmen unsre Mauern
Dich Fremden auf, um auch mit uns zu trauern:

Denn, ach, der Mann, der alle hier verbündet,
Den wir als Vater, Freund und Führer kennen,
Der Licht und Mut dem Leben angezündet,
In wenig Zeit wird er sich von uns trennen;
Er hat es erst vor kurzem selbst verkündet.
Doch will er weder Art noch Stunde nennen:
Und so ist uns sein ganz gewisses Scheiden
Geheimnisvoll und voller bittrer Leiden.

 

Da ist zwar von dem Druck, den die Reimhäufung auf den Text ausübt (und den jeder gespürt hat, der schon einmal Stanzen geschrieben hat) nicht viel zu spüren, alles liest sich fließend und ungezwungen; aber hernach hat Goethe ganz andere Stanzen geschrieben …

Formal gesehen ist bemerkenswert, dass die Verschlüsse nicht in allen Strophen gleich sind, sondern – wie hier zu sehen – zwischen weiblichen und männlichen Reimen wechseln.

Erzählformen: Das Distichon (120)

O wie gering und wie schwach ist die Macht, die das Wort und die Kunst hat,
Wenn sich das Herz um das quält, was auf ewig dahin!

 

Ein Distichon Friedrich Wilhelm Rogges. Ein wahres; aber auch ein gut gebautes? Einige Dinge fallen auf: die große Menge der einsilbigen Worte samt der dadurch möglichen und verwirklichten großen Zahl von anapästischen Wortfüßen (vier, wenn man will, sogar fünf im Hexameter!); der unschöne Gleichklang „schwach – Macht“; vor allem aber das „das“ auf der Hebung vor dem Pentameter-Einschnitt, das gegen das folgende „quält“ bestehen muss, dafür aber eigentlich zu schwach ist – erst recht, weil der Verseinschnitt hier nicht mit dem Satzeinschnitt zusammenfällt, also keine Sprechpause die beiden Silben trennt. Man kann dem Distichon trotzdem eine schöne Versbewegung zuordnen; aber wirklich einfach ist es nicht …

Die metrische Form:

O wie ge- / ring und wie / schwach || ist die / Macht, die das / Wort und die / Kunst hat,
Wenn sich das / Herz um / das || quält, was auf / e– wig da- / hin!

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Ohne Titel

Ist da Glut, ist da Rauch
In des Kunterbunten
Geräumigem Bauch?
Da ist Glut, da ist Rauch,
Und Gezisch ist da auch,
Da sind Bomben mit Lunten,
Mit Gezisch, Glut, Rauch:
In dem Kunterbunten.

… respice finem

„Denn was da lebt, muss sterben!“,
Ruft ernst der Pfarrer aus,
Und einer, der beim herben
„Denn was da lebt, muss sterben!“
Aufhorcht (denn bald zu erben
Hofft er der Eltern Haus),
Ruft „Was da lebt, muss sterben!“
Ernst wie der Pfarrer aus.

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (76)

Manchmal liest man einen Gedichttitel und ahnt schon, was für eine Form, was für einen Vers der Text verwendet. So ging es mir bei Rosa Maria Assings „Amor und die Nymphen“; und beim Aufschlagen erwies sich die Vermutung als richtig, dem doch recht anakreontisch anmutenden Titel entsprach ein anakreontischer Vers, der gereihte, ungereimte trochäische Vierheber! Der Anfang der Geschichte:

 

In dem Haine Aphroditens
Lag der kleine Sohn der Göttin,
Amor, einst in tiefem Schlafe
(Denn auch Amor schläft zuweilen!)
Hingestreckt im jungen Grase.
Bunte Wiesenblümchen schmiegten
Sich an seine zarten Glieder,
Leichte Zesiretten kosten
Mit den kleinen goldnen Locken,
Die geringelt und ambrosisch
Um das zarte Antlitz wallten,
Und vor Phöbus Feuerstrahlen
Schützte ihn der Rosenbüsche
Einer, der im heil’gen Haine
Blühend, süße Düfte hauchte.
Von der Nymphen Hand gepfleget,
Blühten weiß die zarten Rosen,
Und noch keine böse Stacheln,
Die verletzen zarte Hände,
Waren ihnen beigesellet.
Doch da kam die Schaar der Nymphen,
Blumen in dem Hain zu pflücken,
Um den Altar Aphrodites
Schön zu schmücken und zu kränzen,
Und so nahten sie dem Strauche,
Wo der kleine, lose Knabe
Lag in tiefem, festem Schlafe.
„Schwestern!“ rief die eine Nymphe,
„Schwestern! hütet euch und pflücket
Ja nicht dort von jenen Rosen,
Denn es liegt der Knabe Amor
Schlafend dort in ihrem Schatten;
Leichtlich könntet ihr ihn wecken!“

 

Das tut niemandem weh; ob man es beliebig in die Länge strecken sollte, ist allerdings eine Frage, die zu stellen ist.

Erzählformen: Das Distichon (119)

Abhängigkeit

Mache dich nur von dem Göttlichen frei – schon bist du ein Sklave;
Mache dich ihm zum Knecht – und du beherrschest die Welt.

 

Viktor von Strauß und Torney setzt hier ganz auf die antithetischen Möglichkeiten des Distichons; damit lässt sich immer Wirkung erzielen. Heraus kommt aber trotzdem nur ein für die Epigramm-Dichtung des 19. Jahrhunderts beispielhaftes Durchschnittsdistichon … Das hat auch metrische Gründe:

Mache dich/ nur von dem / Göttlichen / frei || – schon / bist du ein / Sklave;
Mache dich / ihm zum / Knecht ||und du be- / herrschest die / Welt.

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Sicher gebaut, nur „ihm zu“ ist ein arg schwächlicher zweisilbiger Fuß.