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Erzählverse: Der iambische Dreiheber (10)

Weniger als Erzähl- und mehr als Beschreibvers nutzt Wilhelm Waiblinger den Dreiheber in „Am Ticino“. Zumindest am Anfang:

 

Du wunderlicher Pluvius,
Du gießest unaufhörlich
Vom Himmel dein Gewässer.
Und Tropf‘ an Tropfen träufelt
Aus deinen nassen Haaren.
Die graue Nebelwolke
Hängt schwankend um die Berge,
Und wandelt über Wälder
Um Piottinos Wände.
Es trauert die Kastanie,
Die überm Glockentürmchen
Der einsamen Kapelle
Die feuchten Blätter wölbet.
In fürchterlichen Schlünden
Wirft donnernd der Ticino,
In Schaumgewölken wirbelnd,
Von Riss zu Felsriss wütend,
Hinab die grünen Wellen.
Dort sucht noch eine Ziege
Auf grüner Mooswand Gräser;
Hier wandelt langsam klingelnd,
Mit tief verhülltem Säumer,
Von Gotthards Wolkenstegen
Ein Maultier seine Straße.

 

Wobei der folgende erzählende Teil dann eher … schematisch wirkt. Aber der Vers wirkt, leicht, flüchtig, passend zum Geschehen.

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Erzählformen: Das Distichon (110)

Eine große Anzahl von Einsilbern wird sowohl im Hexameter als auch im Pentameter mit Misstrauen betrachtet, unter anderem, weil sich dann leicht die Bewegungslinie verwischt, was meint: nicht mehr klar erkennbar ist, wo betont werden soll und wo nicht. Zwei Distichen aus Christian Graf zu Stolbergs „Elegie“:

 

Das sei fern‘, o Gott der Götter! Erbarme der Mutter
Du dich, o und sein, des den sie liebte, der dir
Reine Hände der Unschuld erhub als Jüngling und dir jetzt –
Furchtbar traf ihn dein Schwert! – feuriger dienet als Mann.

 

– Wer den ersten Pentameter „in einem Rutsch“ lesen kann, ganz ohne Nachprüfen und -zählen: dem sei zu seinem traumwandlerisch sicheren Verständnis der Pentameter-Bewegungslinie gratuliert! Etwaige Unsicherheiten ergeben sich aber eigentlich nicht aus dem Umstand, dass so viele Einsilber im Vers sind, sondern dadurch, dass nur eine der sechs Hebungen mit einer „Stammsilbe“ besetzt ist?!

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Das Königreich von Sede (111)

Pulverfass ist verstimmt: Den ganzen Tag lang
Ruhte, still, er am Rand des Grabens, auf wuchs,
Was er schwieg, ins Licht; aber die Nacht
Kam, und es wächst des Froschs Ruf in das Dunkel auf.

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Erzählformen: Das Distichon (109)

Ich habe heute in Jakob Minors „neuhochdeutscher Metrik“ gelesen, dass, wenn am Ende der ersten Pentameter-Hälfte nicht auch ein Wort schließt, der Pentametereinschnitt also innerhalb eines Wortes liegt und von diesem überbrückt wird: dass dann ein „Ioniker a maiore“ als Wortfuß vorliegt. Da ist was dran! Allerdings hat Minor nur Beispiele wie den bekannten Schlegel-Vers

 

Priamos auch und des speerschwingenden Priamos Volk

 

– und da gehört, will man denn pingelig sein, das „und des“ doch irgendwie auch noch zum Wortfuß, zum Ioniker „speerschwingenden“?! Aber es lässt sich ohne Mühe ein Beispiel schreiben, das derlei vermeidet:

 

Dichteralltag

Grimmend nimmt er sein Werk, zerreißt die Seiten und äußert
Wenigpoetisches: „Grundgütiger, was für ein Mist!“

 

Grund- || gütiger, genau auf dem Pentametereinschnitt und ein Wortfuß der Form — —◡◡!

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Grüße an Hipponax

Es wissen alle, die nach altem Maß dichten,
Sehr wohl, dass des Gedichts formale Absichten
Meist unklar bleiben jenen, die den Text richten.

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Erzählverse: Der Hexameter (179)

Als Gegenstück zu den in (178) angegebenen „gereimten Strophen unter Hexameterbeteiligung“ hier Werner Bergengruens „Capri VI, Castiglione“ (aus Figur und Schatten, Nymphenburger Verlagshandlung 1958, S. 101):

 

Liebstem Gassengewirr, begrünter Enge entkommen,
Heißer atmender, hast du bewachsene Felsen erklommen,
Schmales Mauergeviert an verfallener Burg der Korsaren,
Unter dir Blau, von verbrannten, versunkenen Schiffen befahren.
fauchender Panter, fährt aufspringender Wind dir entgegen,
Seeräuberwind der Freiheit! Sturmvogelschwingen in Schlägen!
Mit sich reisst er dein herz, du hängender über den Meeren.
Hochaufschäumende Flut am Bug bemannter Galeeren!
Und phönikisches Volk, sarazenisch entflammte Haufen!
Schwellende Jugend der Welt, Normannen und Hohenstaufen!
Aufschrei reisigster Kraft!: verscholl, versank in Gemäuer.
Aber da blieb der Ölbaum, es blieb der Weinstock getreuer.

 

Also „Hexameter-Reimpaare“. Hm. Bergengruen war allemal Dichter genug, um über das folgende lächelnd hinwegschweigen zu können:  Ich mag diese Verse nicht. Der Reim ist im besten Fall eine Ablenkung; aber im Eigentlichen vollkommen versfremd …

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Das Königreich von Sede (110)

Schemel singt in die Nacht, mit leiser Stimme,
Nicht zu stören den Schlaf der Frösche. Aber:
Keiner schläft, und der Narr bemerkt es endlich,
Jetzt, und singt in die Nacht: mit leiser Stimme.

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Erzählverse: Der Hexameter (178)

Hexameter und Reim vertragen sich nicht. Am wenigsten fällt das wohl auf, überführt man den Hexameter in eine Strophe und verbindet ihn darüber hinaus mit anderen Versen. Zwei Beispiele:

 

Wettgesang

Heute belauscht‘ ich am Bach wetteifernde Hirtengesänge,
Und schwellend hob sich meine Brust
Beim anschmeichelnden Hauch einfältiger landlicher Klänge
Von Liebesleid und Sommerlust.
Kunstlos war der Gesang, auch prunklos waren die Singer,
Und selber schmucklos war die Flur;
Doch vom Himmel ein Glanz war irdischer Mängel Bezwinger,
Ich sah verklärte Lichtnatur.
Hört, nicht wie es entsprang, wie mir in bezauberten Ohren
Das umgebot’ne Hirtenlied
Sein ursprüngliches Nackt im tönenden Schmucke verloren,
Und wie ich selbst den Streit entschied.

 

– Friedrich Rückert. Ein Hexameter und als Kurzvers dabei ein iambischer Vierheber – ein „iambischer Dimeter“, wie das die Alten genannt hätten. Insgesamt ein „1. pythiambisches Distichon“ (das 2. hat einen sechshebigen Iambus – einen „iambischen Trimeter“ – als Zweitvers). Rückert nennt das ein „modernes Idyll“ – passt wahrscheinlich, „Alte Form“ + „Reim“?!

 

An Braga (erste Strophe)

Komm, du Geber des Sangs, Apollens Besieger o Braga,
Bei mir warten dein Braten und Fisch,
Komm, sonst hol dich der Teufel, Papa der Barden und Aga,
Komm an meinen beschüsselten Tisch!

– Ludwig Hölty. Auch eine alte Form, ein „alkmanisches Distichon“, Hexameter + katalektischer daktylischer Vierheber, eben ein „alkmanischer Vers“, wahrscheinlich in aller Kürze so am sinnvollsten darstellbar: X x (x) / X x (x) / X x x / X. Zwei solcher Distichen in einer Strophe verbunden, und wie bei Rückert kreuzgereimt – das scheint möglich? Auch hier ein Gegensatz zwischen Süden (alte Form) und Norden (Reim); das muss aber sicher nicht sein. („Papa„, übrigens, wie damals üblich …)