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Erzählverse: Der Blankvers (103)

Otto Ernst schildert in „Das Gesicht der Wahrheit“ einen Mann, der, vom Rat der Stadt verurteilt, am Pranger steht, nachdem ihm die Ohren abgeschnitten worden sind. Das Volk, die Menge der Schaulustigen, starrt ihn schweigend an

 

Und sieht um seinen Mund, den Blut benetzt,
Ein zuckend Lächeln, sieht die dunklen Haare
In feuchten Strähnen an den Wangen kleben,
Und aus den Haaren, an den Wangen nieder
Rinnt Blut, rinnt Blut – so stumm und so geschäftig,
Das warme Blut – und hilflos starrt der Kopf
Hervor aus schwarzer Wand, und hilflos irren
Die Blicke hin und her: Wo seid ihr, Hände?
Was helft ihr nicht? O wischtet ihr mir nur
Das Blut vom Mund! – Und klagend glänzt das Auge.

 

Einerseites Verse, die erkennbar nicht (mehr) ins Heute gehören; andererseits sind sie von einer großen Eindringlichkeit, die der Blankvers sicher mitgestalten hilft.

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Bücher zum Vers (104)

Ernst Häublein: The Stanza.

Wer metrisch gebundene und womöglich gereimte Verse schreibt, kommt um das Nachdenken über die Strophe – was sie ist, wie sie wirkt, mit welchen Mitteln welche Wirkung erreichbar ist –  nicht herum.

Häubleins schmaler Band (knapp hundert Seiten, erschienen 1978 bei Methuen) leistet all das, zwar auf Englisch und auch bezogen auf die englische Dichtung, aber das macht nichts: das meiste ist auch für die deutschen Strophen verwendbar!

Von den fünf Abschnitten – „Definition of the stanza“, „Stanza forms“, „Stanzaic unity“, „Stanza and poetic structure“, „Conclusion“ – sind sicher der dritte und der vierte die ertragreichsten, behandeln sie doch sehr wichtige Fragen: wodurch wird eine Strophe als Einheit erfahrbar, auch und vor allem in Bezug auf die Gestaltung des Strophenanfangs und des Strophenendes; und auf welche Weisen können Strophen, als die Einheiten eines Gedichts, miteinander in Beziehung stehen?! Ohne darüber nachgedacht zu haben, sollte eigentlich niemand ein strophisches Gedicht schreiben; die Gefahr, einfach nur ein Silbenschema zu füllen und am Schluss mit einer leb- und spannungslosen Wortmasse dazustehen, ist groß und eine Herausforderung, die bestanden werden muss!

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Der auf…

…gefallene Mensch

Ist alles denn verloren? Hat der Schmerz,
Als schütterte der Boden, das Gebäude
In einen grausen Haufen Schutt verwandelt?

…gerichtete Mensch

Doch über dem Schutt, in unendlichem Blau,
Wiegt schmetternden Lieds sich die Lerche!

 

Die drei Blankverse stammen aus Goethes „Torquato Tasso“; die anderen beiden Verse sind ursprünglich ein Aristophanischer Vers aus Prutz‘ „Die politische Wochenstube“, der für diesen Text an der Zäsur auseinandergenommen wurde.

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Erzählverse: Der Blankvers (102)

In Christian Friedrich Scherenbergs „Lagerszene (am Vorabend der Waterlooer Schlacht)“ dient der Blankvers wieder einmal der Darstellung des Militärischen. Ein Ausschnitt, die Nacht am Lagerfeuer:

 

Behaglich um die Flamme spielt, wie sie
Auflodernd und verglimmend, Biwachtswort.
Ins Feuer fallen Scherz und Ernst. Zum Besten
Gibt der ein Lied zum Lachen, Schnurren jener
Zum Weinen, Abenteuer, Heldentaten,
Wahr oder gut erzählt. Am tapfersten
Lügt Furcht, am leicht’sten glaubt der Tapferste:
So macht sich Unterhaltung und Gemütlichkeit
Am heil’gen Abend vor dem Todesfest;
Gezählte Stunden haben Wert und Weihe.

 

Zur „Biwacht“ lässt sich im Netz näheres unter „Biwak“ finden. Der Vers selbst ist nicht sehr eigenständig und damit unauffällig, trotzdem aber hörbar in seiner formenden Wirkung.

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Erzählformen: Das Distichon (86)

Wahrheit, lebendig gesagt, so dass die Worte verschwinden,
Zeiget jedem sein Bild wie ein geschliff’ner Kristall.

 

„Lebendig gesagt“ erscheint, selbst in der Schrift, auch dieses Distichon von Wilhelm Heinse. Und darum, vielleicht: auch wahr?!

Die metrische Form:

Wahrheit, le- / bendig ge- / sagt, || so / dass die / Worte ver- / schwinden,
Zeiget / jedem sein / Bild || wie ein ge- / schliff’ner Kris- / tall.

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — || ◡ / — ◡ / — ◡ ◡ / — ◡
— ◡ ◡ / — ◡ / — || — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / —

Der Satz durchläuft auf schöne Art den durch das Distichon aufgespannten Raum! „Dass die“ ist eine etwas schmalbrüstige zweisilbige Einheit, aber ach: das geht schon.

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Erzählverse: Der Blankvers (101)

Gustav Falkes „Die Equipage“ ist ein recht bewegtes Gedicht über eine Kutsche, deren Pferde durchgehen, und ihre Insassen. Alles durchaus lesenswert, ich möchte hier Falke aber nur einen dieser Insassen vorstellen lassen, den kleinsten:

 

Der Seidenpinscher mit dem Fell wie Schnee,
Der auf dem Vordersitz bequem sich’s macht,
Hebt ganz verwundert seine klugen Augen.
Höchst unklar ist noch immer ihm der Vorgang,
Und fragend blickt er bald auf Fritz, bald auf
Die junge Herrin. Aus dem Zahngehege,
Dem scharfen, hechelt Fifis rosig Zünglein,
Und an dem himmelblauen Halsband zittert
Ein Silberglöckchen, dessen Kling und Pling
Im Donnerlaut des Hufschlags untergeht.

 

„Fritz“ ist der vielleicht bewusstlose, vielleicht tote Kutscher; der letzte Vers führt den Leser wieder zurück zur eigentlichen Handlung, die für die Beteiligten kein gutes Ende nimmt – allerdings außerhalb des Sichtfeldes des Lesers, was durch einen Vers erreicht wird, der dem Unachtsamen höchst missverständlich ist:

 

Die wilde Jagd verschlingt ein Tannenwäldchen.

 

Oha. Aber man bekommt es sortiert … Insgesamt ist Falkes Blankvers ruhig und gelassen, ein eigenartiger Kontrast zur Dramatik des Erzählten.

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Das Königreich von Sede (103)

Prinz Klappstuhl saß am Grabenrand,
Ein Büchlein in der einen Hand,
Die Feder in der andern,
Und ließ, vernahm er Froschgequak,
Den Tintenspender wandern.

Wozu der Tiere Ruf ihn trieb,
Was er geduldig niederschrieb,
Vermag ich nicht zu sagen:
Er schloss das Büchlein, barg’s im Wams
Und hat’s still heimgetragen.