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Durch Zeiten und Sprachen: Anapäste

1779 hat Klopstock bezüglich seiner „anapästischen Versart“ – beim Verserzähler schon einmal knapp vorgestellt in Die Bewegungsschule (21) – geschrieben:

Ich gebe dem Anapäst den Baccheus zum Begleiter, weil dieser das Feuer desselben, ohne es zu unterdrücken, am besten mäßigt.

Meint: An verschiedenen Stellen im Vers kann der Anapäst, ◡ ◡ —, durch einen Baccheus, ◡ — — ersetzt werden; aus dem von Klopstock genannten Grund.

In Verse. An Introduction to Prosody von Charles O. Hartman, erschienen 2015 bei Wiley Blackwell, habe ich heute bezüglich dieses Austauschs (und dem des Anapäst, ◡ ◡ —,  gegen einen Kretikus,  — ◡ —) gelesen (Seite 68):

Especially by using these two substitutions the poet can keep the reader just sligthly off balance und therefore intrigued. The reader slows down to pay attention yet continues to feel the forward monumentum of the anapestic norm.

Das sagt sicher etwas anderes aus als Klopstocks Worte; aber immerhin etwas sehr ähnliches, 230 Jahre später und in einer benachbarten Sprache: „Mannigfaltigkeit“, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhalten; und „mäßigen, ohne zu unterdrücken“.

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (66)

Heinrich von Reder beschreibt in „Vor Bazeilles“ Einzelheiten eines der blutigeren Kämpfe des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 / 1871:

 

Vor Bazeilles im Straßengraben
Lag erstarrt ein junger Jäger,
Einer von den „blauen Teufeln“,
Die bei Weißenburg gefochten.
Auf dem blauen Odel schwammen
Seine blonden Ringellocken,
Und dazwischen hingen schmierig
Giftiggrün Kartoffelknollen.
Größer kaum wie Marmelschusser,
Die den Kindern sind ein Spielwerk,
Grub er sie beim Halt im Marsche
Mit den Fingern aus dem Feld.
Aufbewahrt fürs nächste Biwak
Waren sie aus seinem Brotsack,
Als er stürzte, ausgeronnen
In das Gold von seinen Locken.

An der Grabenböschung lagen
Mancher Türko und Zuave
Steif in ihren Pluderhosen,
In den Händen noch den Chassepot.
Ihre feuchten Reisrationen
Hingen aus den Blechgeschirren
Grau und klumpig am Tornister,
Besser kaum als die Kartoffeln.
Hie und da braunrote Tupfen
Klebten auf den Uniformen,
Schmutzbedeckt vom Staub der Straße
Und dem letzten Lagerplatz.
Sohn der Alpen, Sohn der Wüste,
Du verlor’n Pariser Kind!
Nimmer kann ich euch vergessen
Mit dem Totenfleckgesicht –

Plaudernd ritt ein Stab vorüber,
War gefolgt von einem Wagen,
Angefüllt mit Dienstpapieren,
Rotwein, Schinken und Konserven.

 

Nüchtern, aber auch etwas ungelenk werden Dinge und Ereignisse beschrieben, die 150 Jahre später kaum mehr in erinnerung sind:“Bei Weißenburg“ gab es einen Monat vor „Bazeilles“ eine Schlacht, „Turcos und Zuaven“ meint die Nordafrikaner, die in der französischen Armee dienten;  „Chassepot“ ist ein Gewehr.

Der trochäische Vierheber ist dabei auch dieser Aufgabe gewachsen; diesmal spröde und glanzlos leistet er, was in einem solchen Text geleistet werden muss.

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Erzählverse: Der Blankvers (100)

Alfons Paquets Blankvers klingt in „Melencolia. Ein Fragment, zu Dürers Holzschnitt“ dem Gegenstand angemessen schwer und lastend:

 

Fern zuckt im Zwitterschein der hohe Himmel,
Starr liegt die schöne Küste, starr und kalt
Erglänzt das Meer; grell leuchtend stürzt
Sich ein Komet von einem Tod zum andern …
Ein Nordlicht flimmt mit ungewissem Schimmer,
Sprüht! Sprüht empor, gespenstisch Farb‘ und Form,
Und lodert auf, und ab – erbleicht, vergeht,
So wie es kam: als ein verirrtes Licht.

Hier kaur‘ ich denn am Ende meiner Welt
Und schaue meines Lebens Sinnbild nach,
Und warte seufzend, bis mein Glöcklein läute
Und sich von hinten eine sanfte Hand
Mir auf die Schulter legt …

 

Verse, die für sich stehen können und Geltung haben. Wer trotzdem Dürers berühmten Stich als Bezug anschauen möchte – der ist im Netz vielhundertfach zu finden; eine Möglichkeit ist dieser Artikel auf spiegel.de, der sich zum fünfhundersten „Geburtstag“ des Werkes mit einer seiner Besonderheiten beschäftigte: Ein mysteriöser Körper wird 500.

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Bücher zum Vers (103)

Ezra Pound: „motz el son“ – Wort und Weise. Didaktik der Dichtung.

Daraus habe ich schon im vorgestrigen Eintrag zitiert – ein quadratisches, handliches Bändchen, erschienen 1957 im Verlag Die Arche. In ihm finden sich verschiedene, sonst nicht weiter aufeinander bezogene Texte Pounds theoretischen Wesens, die ihre Inhalte recht nachdrücklich vermitteln – am deutlichsten naturgemäß im Abschnitt „Credo“ (Seite 57-58), etwa:

Stil – Ich glaube an den Stil als Bewährungsprobe für die Aufrichtigkeit eines Menschen; an Regeln, wenn diese ermittelbar sind; an das Umstoßen jeder Konvention, die sich der Ermittlung von Regeln oder der präzisen Übersetzung der Eingebung entgegenstellt.“

Oder ein anderes Beispiel, Seite 51-52,  unter „Sprache“:

„Hüte dich vor Abstraktionen! Erzähle nicht in mittelmäßigen Versen, was bereits in guter Prosa gesagt wurde. Glaube nicht, dass sich ein kluger Mensch hinters Licht führen lässt, wenn du dich um die Schwierigkeiten der unsagbar schweren Kunst guter Prosa drückst, indem du deine Arbeit in regelmäßige Zeilen hackst!“

Wer so unbedingt sich ausdrückt, ist an vielen Stellen angreifbar, und oft zu Recht; aber das heißt ja nicht, das insgesamt das Nachdenken über solche Aussagen keine lohnende Sache wäre!

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Hört!

Es ist Zeit. Es ist Zeit! Aus dem Abgrund hebt ein Gedicht sich empor (und die Wehmut).

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Dieses mit jenem

Lesen heißt auch immer: verknüpfen. Das, was man schon gelesen hat, mit dem, was man gerade liest. Heute erinnerte ich mich an eine wegen ihres letzten Verses sehr bekannten Strophe Johann Gottfried Seumes (aus „Die Gesänge“):

 

Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.

 

Daran erinnert hat mich ein Satz von Ezra Pound in der Übersetzung von Eva Hesse: „Verbrecher haben keine geistigen Anliegen.“ Über die Unterschiede dieser beiden Aussagen lässt sich nachdenken …