Jegliches Versmaß staut den Fluss der alltäglichen Sprache.
Bücher zum Vers (102)
Annemarie Schöne: Englische Nonsense- und Grusel-Balladen. Intellektuelle Versspiele in Beispielen und Interpretationen und mit Übertragungen im Anhang.
Ein nicht allzu umfangreicher Band, erschienen1970 bei Vandenhoeck & Ruprecht. Trotzdem lässt sich manches Neue erfahren in den Kapiteln „Grusel-Balladen und Spiele mit dem Grausigen“ (Mit so eigenartigen Gattungen wie der „Epigrammatischen Schauergroteske“), „Nonsense-Balladen“ (mit Werken von Edward Lear und Lewis Carroll) und „Berührungspunkte zwischen Nonsense und metaphysischem Humor“ (mit Werken von G. K. Chesterton und T. S. Eliot).
Und auch die Wiederbegegnung mit Bekanntem lohnt, etwa Carrolls „The Mad Gardener’s Song“. Eine Strophe daraus:
He thougt he saw a Rattlesnake
That questioned him in Greek:
He looked again, and found it was
The middle of Next Week.
„The one thing I regret“, he said,
„Is that it cannot speak!“
Wie im Märchen
„Apfel“, lächelt die Fee, und vom Himmel herab: eine Blüte.
Wer wüsste zu sagen
Als Doktor Sotz zum Himmel schaut, ist Dunkelheit:
Er hat den Tag verbastelt, und dabei entstand
Ein Knopf (womit verbunden, lehrt das Dunkel nicht),
Den Sotz nun drückt. Er wartet; sein Erfinderstolz
Nimmt zu, wie es das Licht tut, und: ein neuer Tag.
Der Frühling; Am ersten Maimorgen
In den letzten Jahren hat der Verserzähler mehrere Gelegenheiten verstreichen lassen, das folgende Gedicht von Matthias Claudius am passenden, nämlich dem im Titel erwähnten ersten Mai-Tag, vorzustellen – nicht noch einmal!
Heute will ich fröhlich, fröhlich sein,
Keine Weis‘ und keine Sitte hören;
Will mich wälzen und für Freude schrein,
Und der König soll mir das nicht wehren;
Denn er kommt mit seiner Freuden Schar
Heute aus der Morgenröte Hallen,
Einen Blumenkranz um Brust und Haar
Und auf seiner Schulter Nachtigallen;
Und sein Antlitz ist ihm rot und weiß,
Und er träuft von Tau und Duft und Segen –
Ha! Mein Thyrsus sei ein Knospenreis,
Und so tauml‘ ich meinem Freund entgegen.
Claudius ist, wie ich finde, ein Unterschätzter. Die Unbekümmertheit und Kraft dieses Textes, die erst beim lauten Vortrag wirklich erfahrbar wird, hat mich jedenfalls schon immer für ihn eingenommen! Ein Stückweit ist dafür sicher auch die etwas ungewöhnliche Strophenform verantwortlich.
Bücher zum Vers (101)
Philip Hobsbaum: Metre, Rhythm and Verse Form.
Ein mit noch nicht einmal 200 Seiten nicht allzu umfangreicher Band (erschienen 1996 bei Routledge), der aber die Grundlagen von Metrum, Rhythmus und Vers im Englischen klar und bestimmt beschreibt, ohne irgendwelchen Schnickschnack; und dadurch auch dem, der diesen Größen im Deutschen nachspürt, einen Blick von Außen, und und damit einen Vergleich ermöglicht, der sehr hilfreich ist.
Of course it is possible to appreciate poetry without knowing how it is made. The appreciation, however, may be enhanced by an awareness of how poets work. Much more may be heard in a poem if one is consciously aware of its rhythmic structure.
So steht es im Vorwort; und ich glaube, das ist auch wirklich so.
Erzählverse: Der Hexameter (160)
Abraham Gotthelf Kästner (beim Verserzähler in diesem Eintrag näher vorgestellt) war ein unbedinger Anhänger des Reimes; für reimlose Verse hatte er nur Spott übrig. Den goss er dann allerdings auch schon einmal, der Verdeutlichung wegen sozusagen, in Hexameter:
Auf gewisse Gedichte
Aufgeduns’nes Gewäsch in reimlos ametrischen Zeilen,
Verse nennt ihr’s? Es ist nur tollgewordene Prosa.
Von Kästners Vorlieben (und Vorurteilen) abgesehen – das sind zwei gut gebaute, gut sich bewegende, gut klingende Hexameter eines Dichters, der nicht eben für sein rhythmisches Geschick bekannt war?! Und wie immer bei Epigrammen, die aus zwei Hexametern bestehen, ist der Vergleich mit dem Distichon aus Hexa- und Pentameter sinnvoll; Wie wird hier, wie da der Eindruck von Geschlossenheit und Vollständigkeit erreicht?
Das Königreich von Sede (102)
Schemel sitzt am Fenster, dunkel
Innen seine Stube, außen
Alles dunkel, weil es Nacht ist –
Schemel hört ein leises Quaken,
Eine Botschaft, unverständlich
Leider; seine Laute nimmt er,
Zupft zwei Töne, lauscht und wartet;
Fragevoll ist stets das Dunkel,
Voller Antwort auch, und manchmal
Fügt das eine sich zum andern.