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Erzählformen: Das Distichon (47)

An Ludwig Tieck

Freund, sei stolz! Der Erhab’ne, der Genius spendet ein Lob dir!
Goethe bezeugt, du seist wirklich ein leidlicher Mensch.

 

Auf die eine oder andere Weise mussten und müssen sich die deutschen Dichter wohl an Goethe reiben?! Hier tut es August Wilhelm Schlegel, der eine Distichenserie geschrieben hat des Titels „Auf Veranlassung des Briefwechsels zwischen Goethe und Schiller“; und im hier vorgestellten Zweizeiler eine dort zu findende Stelle aufgreift, um eine spitze Bemerkung zu machen. Dafür ist ein Distichon ein sehr geeigneter Rahmen, und auch seine Gestaltung – die Gliederung, die Wahl der leichten und schweren Silben – ist Schlegel hier sehr gut gelungen!

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Die innere Form

Metrisch geregelte Formen haben eine „innere Form“; dieser Begriff meint die Art, wie sich die Sprache innerhalb des vorgegebenen Musters aus betonten und unbetonten Silben (der „äußeren Form“) bewegt – wo liegen bevorzugt die Grenzen der Sinneinheiten, wo die der Sätze, wo liegt der Haupteinschnitt, der den Inhalt in (zum Beispiel)  Frage und Antwort, in Versprechen und Einlösung, Erwartung und Erfüllung gliedert? Einen solchen Einschnitt haben schon einzelne Verse, wenn sie länger sind – das bekannteste Beispiel ist der Hexameter; aber auch kurze Strophen weisen ihn auf.

Als Beispiel nehme ich die vom Verserzähler schon einmal vorgestellte Lindenschmidt-Strophe, die Adelbert von Chamisso in seinem „Frühlingslied“ unter weitreichender Verwendung von zweisilbig besetzten Senkungen gestaltet hat. Zwei Strophen aus der Mitte des Textes:

 

Ich liebe den Frühling, des Waldes Grün,
Der Vögel Gesang, der Bienen Bemüh’n,
Der Blumen Farben und Düfte,
Den Strahl der Sonne, des Himmels Blau,
Den Hauch der wärmeren Lüfte.

Sieh‘ dort am Tor, was die Schwalben tun,
Wie emsig sie fliegen, sie werden nicht ruh’n,
Bis fertig ihr Nestchen sie schauen;
Ich sang, wie die Vögel, mein munteres Lied,
Vergaß ein Nest mir zu bauen.

 

Die erste der beiden Strophen hat, da sie eine schlichte Aufzählung füllt, gar keine innere Einteilung – und das tun ihr nicht besonders gut! Der Inhalt wirkt ein wenig unförmig, er stürzt als Masse und ungebremst auf den Leser ein.

Die zweite der beiden Strophen ist dagegen gegliedert: Nach dem dritten Vers liegt ein tiefer Einschnitt, der die Inhalte der ersten drei Verse vom dem der letzten beiden trennt. Das formt die Strophe nachdrücklich und einprägsam und ist daher auch die Hauptgliederung der Lindenschmidt-Strophe – Chamisso nutzt sie in den allermeisten Strophen seines „Frühlingslieds“!

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Ohne Titel

Dunkel, vom Dunkel verschlungen und neugeboren vom Dunkel,
Schwarzverschlungenem Pfad (folgt der Lebendige (Mut)).

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Erzählformen: Das Distichon (46)

Unglückliche Liebe

Nicht an den Königen liegt’s – die Könige lieben die Freiheit:
Aber die Freiheit liebt leider die Könige nicht!

 

Ein Epigramm, das vorbildlich  das macht, was ein Epigramm auszeichnet: Einen sinnreichen Einfall überzeugend in Verse zu gießen – hier in ein einzelnes Distichon. Sein Verfasser Georg Herwegh war ein sehr politischer Dichter, der Inhalt kann da nicht überraschen …

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Erzählformen: Das Distichon (45)

Die Rosen des Nords

Rosen-Entblätterer Nord, zum Ersatz auf die Wangen des Mädchens
Hauchst du nun frische – der West, traun, bringt schönere kaum!

 

Das ist inhaltlich nett, und vielleicht auch für ein Schmunzeln gut; sonst aber vollkommen belanglos. Die Art, wie Robert Hamerling sein Distichon formal gestaltet hat, ist dagegen bemerkenswert: Er verstößt gegen eine eiserne Grundregel des Pentameters, indem er eine der beiden Senkungsstellen der zweiten Vershälfte nicht mit zwei leichten Silben besetzt – und erfüllt gleichzeitig die strengen Anforderungen, die die „antikisierende“ Nachbildung von Hexa- und Pentameter an den Verfasser stellt, indem er im zweisilbigen Versfuß eine sehr schwere Silbe in die Senkung stellt, so dass eine bestmögliche Nachbildung des antiken „Spondeus“ entsteht!

Hauchst du nun / frische – der / West, || traun, bringt / schönere / kaum!
— ◡ ◡ / — ◡◡ / — || — — / — ◡ ◡ / —

Zufall ist das also nicht, wirklich erklärbar allerdings auch nicht …

Das „traun“ war schon zu Hamerlings Zeiten ziemlich aus der Mode, „fürwahr“! Heute muss man wohl statt beidem „In der Tat“ sagen oder ähnliches.

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Erzählverse: Der Hexameter (153)

Die Grundform des Hexameters, in der alle Versfüße bis auf den letzten dreisilbig sind (also schwer – leicht – leicht), ist vergleichsweise selten. Das leuchtet ein: Ein metrisch geregelter Vers lebt auch von dem Wechselspiel zwischen Wiederholung und Abwandlung, und wird die Grundform, die sonst als Vergleichsgröße im Hintergrund mitschwingt, voll verwirklicht, fällt die Abwandlung weg, und die Wiederholung herrscht! Weswegen ein solcher Vers selbstverständlich möglich ist, mehrere davon hintereinander aber selten vorkommen.

 

Morgen, verschlafener Morgen, wie lange noch denkst du zu schlafen?

 

Ein Vers im unverwechselbaren Ton Friedrich Rückerts, der hier die Grundform verwirklicht:

— ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ || ◡ / — ◡ ◡ / — ◡ ◡ / — ◡

Ein schöner Vers, der durch seine Gliederung der Eintönigkeit des Metrums entgegenwirkt. Zwei derartige Verse hintereinander klingen so:

 

Mich mit den Frohen zu freuen, zu schauen den herbstlichen Jubel
Bin ich herauf von den Hütten der gastlichen Freundschaft gestiegen.

 

– So Friedrich Hölderlin in seinem frühen Werk „Die Teck“, das noch wenig von der Sprachgewalt der späten Hexameter Hölderlins zeigt; und auch diese beiden Verse sind nicht schlecht, aber im Verbund doch ein wenig zu schnell, zu flüchtig?!

 

Aber ein lockenumkräuselter Knab‘, wie der lachende Amor,
Thanatos, scheinst du mir hier, in dem flimmerndem Schutte Pompejis,
Spielend mit goldigem Staub und mit Scherben zerbrochener Vasen.

 

Drei solcher Verse, zu finden in „Euphorion“, geschrieben von Ferdinand Gregorovius. Der Eindruck von eintöniger Flüchtigkeit hat sich sehr verstärkt, und es wunderte nicht, verlöre der Text die Aufmerksamkeit des Lesers / Hörers, ginge das über noch längere Strecken so!

Aber, wie gesagt: Ein einzelner derartiger Vers ist üblich und in seinem Verzicht auf die Abwechslung – auch selbst eine Art von Abwechslung.