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Erzählformen: Das Madrigal (27)

Ein kurzer Text von Friedrich Rückert, nur eine kleine Beobachtung, festgehalten in seinem Liedertagebuch für 1850:

 

Im harten Winter war ein Rosenstock erfroren;
Der Gärtner schnitt ihn knapp
Über der Wurzel ab;
Nun schlägt er kräftig aus und blüht wie neugeboren
Auf seinem eignen Grab.

 

– Die beiden Sechsheber bestimmen den Leseeindruck, das zwischen sie eingeschobene Dreiheber-Reimpaar V2/V3 wirkt wie ein weiterer, aber aufgeteilter Sechsheber, wobei diese Aufteilung genutzt wird, um die strenge Alternation mit einer versetzten Betonung am Anfang von V3 aufzulockern; ein schließender Dreiheber nutzt denselben Reim wie V2 und V3 und gibt dem Gedicht so Geschlossenheit.

Nach dem Lesen kann man auch den Eindruck einer vierzeiligen Strophe aus Sechs- und Dreihebern bekommen, die um den dritten Vers erweitert wurde; aber wie immer man das Textlein formal auffassen mag, die „madrigalische Mühelosigkeit“, die Rückert so erreicht, ist großartig!

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Erzählverse: Der Blankvers (87)

An die Herzogin von Broglie

Ich blicke mit dem Herzen fern zurück
Zu einer Welt, der ich einst angehöret, –
Der Tod ist dagewesen. Gräber! Gräber!
Nur eine – du – wie aber dir zu nahen,
Und wie dich nennen? – Herrin? – Gnäd’ge Frau? –
Du stehst vor meinen Augen noch das Kind.
Und, Albertine!, würfest du den Blick
Auf mich und sprächest: Wer ist dieser Alte,
Der so mich anstarrt, graue Locken schüttelt,
Und Tränen heimlich zu verschlucken scheint?
Ich kenn‘ ihn nicht. – –

 

– Ein erst postum veröffentlicher Text von Adelbert von Chamisso, der 16 Jahre älter war als die Angeredete – gestorben sind sie aber beide 1838 … Der Nominativ „noch das Kind“ statt „noch als Kind“ war damals durchaus üblich. Insgesamt ein eindrücklicher, trotz seines bedrückenden Gegenstands aber immer lebendig sich bewegender Text, wie man ihn von Chamisso gewohnt ist!

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Erzählformen: Das Distichon (44)

Richard Leander (eigentlich: Richard von Volkmann) ist eher mit Märchen bekannt geworden – seine Sammlung hat den hübschen Titel “ Träumereien an Französischen Kaminen“; aber eine grundlegende Feststellung in Distichon-Form zu gießen, war ihm gleichfalls ein Leichtes:

 

Dann nur rührt uns die Kunst, und die Nachwelt beugt sich dem Künstler,
Wenn aus der menschlichen Form leuchtet der göttliche Geist.

 

Wobei sich die Welt nicht unbedingt „beugen“ muss; den Künstler nicht zu vergessen wäre schon viel.

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Bücher zum Vers (96)

Gunter E. Grimm. Zwischentöne. Stationen der deutschen Lyrik.

Erschienen 2015 bei Tectum versammelt dieser Band eine große Bandbreite von Themen. Mir hatten es dabei Kapitel wie „Mühen der Metrik – Klassische Odendichtung“ oder „Nichts darf den Weisen binden – Odendichtung im Zeichen Anakreons“ angetan; wer mag kann sich aber auch in Texte über Alfred Andersch, Franz Josef Degenhardt oder Hans Magnus Enzensberger versenken. Lesbar sind sie alle, allemal, wenn auch häufig von eher einführendem Wesen und weniger in die Tiefe gehend.

Obiger „Weise“ stammt ürbigens aus der „Landlust“ von Friedrich Hagedorn, einem neunstrophigen Gedicht, das so anhebt …

 

Geschäfte, Zwang und Grillen,
Entweiht nicht diese Trift:
Ich finde hier im Stillen
Des Unmuts Gegengift.
Ihr Schwätzer, die ich meide,
Vergesst mir nachzuziehn:
Verfehlt den Sitz der Freude,
Verfehlt der Felder Grün.

 

… und so, mit dem die Kapitelüberschrift bildenden Zitat, ausklingt:

 

Nichts darf den Weisen binden,
Der alle Sinnen übt,
Die Anmut zu empfinden,
Die Land und Feld umgibt.
Ihm prangt die fette Weide
Und die betaute Flur:
Ihm grünet Lust und Freude,
Ihm malet die Natur.

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Erzählformen: Das Distichon (43)

Karl Immermanns satirisch-humoristisches Versepos „Tulifäntchen“ ist ohne Frage ein Meisterwerk; seine anderen Verstexte fallen dagegen bemerkbar ab. Hier aber trotzdem einige Distichen aus „Reizende Weisheit“! Das ist ein Gespräch zwischen dem „Ich“ und „Rosalie“:

 

Gestern fragte sie mich: „Du bist so schweigsam, du küssest
Viel zu wenig, mein Freund – ward dir die Liebe zum Schmerz?“
„Teure“, sagt‘ ich, „die Liebe ist Lust und der ewigen Schönheit
Herrlichprangendes Kind, Knospe und Blüte und Frucht.
Sprich, was soll sie bei uns? Was soll das zarte Geheimnis
In der ernüchterten Zeit, in der entgötterten Welt?
Siehe, drum weinet aus mir die sich selber beweinende Liebe,
Eros weinet aus mir, der die Verbannung beklagt.“

 

Und noch ein gutes Stück so weiter, bis Rosalie dem Gejammere ein Ende setzt:

 

„Lieblich schauet die Rose der Lust aus der atmenden Lippe,
Pflücke sie, eh‘ sie verwelkt, küsse mich, grübelnder Freund!“

 

Wie ernst das gemeint war, als es geschrieben wurde, ist mir nicht ganz klar; heute wirkt es unausweichlich komisch … Aber, wie immer: Wenn etwas  entschlossen und unbeirrt durchgehalten und umgesetzt wird, gewinnt es Überzeugungskraft, sei es auch noch so albern oder sonstwie unpassend. Die gewählte Form, das Distichon, und die erkennbare Sicherheit in der Versgestaltung tragen dazu sicher bei!

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Ohne Titel

Zeichen des Herbstes rot aus Bäumen wimpeln,
Rufen den längst schon ruhelosen Gimpeln
„Südwärts!“ zu, „südwärts!“, sehen diese steigen;
Freuen sich, schweigen.

Weit ist die Erde, weit des Himmels Bogen,
Frisch sind die Winde, die durch ihn gezogen,
Fern alle Ängste, die sie fortgetragen,
Stumm alle Fragen.

Tritt aus dem klaren, sonnig-stillen Wetter,
Aus dem verträumten Tanz der letzten Blätter
Lächelnd das Leben hin vor meine Seele:
Was ihr denn fehle.

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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (19)

Gustav Freytags „Für Wanda“ ist ein Gegenstück zum in (18) vorgestellten „Serbischen Lied“ von Friedrich Bodenstedt:

 

Liebe runde Sonne, dich beschwör‘ ich,
Dich bejahrter Mond desselbengleichen,
Dich, du lust’ges kleines Sternenvolk,
Die ihr farblos, mühelos, unendlich,
In den ewig leuchtenden Gewändern
Über Wolken auf und nieder wandelt,
Sendet meiner jungen Freundin Wanda
Eure besten Strahlen in ihr Leben,
Helle Farbe, lustig bunte Mischung,
Reichlich etwas Gold und Purpur drunter,
Dass ihr stets an Antlitz und Gewande,
In den Augen und im warmen Herzen
Etwas von des Himmels Abglanz leuchte,
Uns zur Freude, euch zum Wohlgefallen.

 

– Soweit die erste Hälfte, aus der aber schon ein ganz anderes Verhältnis von Mensch und Himmelskörpern deutlich als bei Bodenstedt … Auch der Vers ist anders: bemerkbar formend, aber, dem Inhalt entsprechend, nirgends aufdringlich den Eindruck erweckend, er nähme sich zu ernst.

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Erzählformen: Das Distichon (42)

Grabschrift auf Ahlemann (Ausschnitt)

Heiter war er und sanft, ein Liebling lächelnder Weisheit,
Hell wie der Mond sein Geist, warm wie die Sonne sein Herz.

 

Ahlemann war ein Consistorialrat und Kirchenprobst in Altona; Seine Grabschrift stammt von Friedrich Leopold Stolberg. Das daraus ausgewähle Distichon ist schlicht, hat aber nichtsdestotrotz einen schönen Fluss – und es erinnert an die Ursprünge des in Distichon-Form verfassten Epigramms, die wirkliche Auf-Schrift; zum Beispiel auf ein Grabmal.