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Erzählformen: Das Reimpaar (29)

„Das Märchen vom Waldfegerlein, der kleinen Marie erzählt“ stammt von Hermann Kurz und verwendet ein gutes Stück weit ausschließlich männlich schließende Reimpaare aus iambischen Vierhebern:

 

Waldfegerlein des Morgens fruh
Saß auf dem Zweig in guter Ruh,
Hatte die Nacht zum Schlaf genutzt,
Guckäuglein morgens hell geputzt,
Sah munter in den lieben Tag
Und sang ihn an mit süßem Schlag:
Erst sang es nur verstohlen leis,
Dann laut, herzhaft und trillerweis,
Netzt‘ in dem Tau das Schnäbelein
Und wetzt‘ es wieder am Baume rein.

 

Es steht über dem Text noch ein Zitat – „Ay Nachtigol, Waldvegerlain!“ Lied aus dem Kuhländchen – durchaus verständnisfördernder Art; aber eigentlich finde ich es viel spannender, ohne dieses Wissen in den Text hineinzulesen …

Warum wirken diese Verse so lebendig angesichts der geringen Abwechslung am Versende? Nun, Kurz nutzt den Versbeginn, um keine Gleichförmigkeit aufkommen zu lassen! Dort hat er Spondeen statt Iamben und  versetzte Betonungen (also Trochäus statt Iambus) die Menge; sogar im Versinnern trifft man, neben zweisilbig besetzten Senkungen, eine versetzte Betonung:

Dann laut, / herzhaft / und tril– / lerweis,

◡ — / — ◡ / ◡ — / ◡ —

Das sorgt für einige Auflockerung, die aber sehr gut zum schwungvoll-verschmitzten Tonfall des Textes passt!

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Erzählformen: Das Distichon (49)

Kaum habe ich vorgestern ein Gedicht vorgestellt, das eine Fußnote aufweist, stolpere ich andauernd über solche Texte! Friederike Brun hält dabei ziemlich wahrscheinlich den Rekord für das zügigste Vorkommen zweier Fußnoten: Die erste findet sich am Ende des Gedichttitels, die zweite nach der ersten Hälfte des ersten Verses!

 

Die Schwester und die Nymphe der Garonne *

Die Schwester

Nymphe des goldenen Stroms **, verlasse die schäumende Urne,
Heb‘, o Göttliche, hoch über die Wogen dein Haupt!
Höre die Stimme der Schwester, die laut den Jüngling verlanget,
Den dein mächtiger Arm tief im Abgrund verbarg.
Nymphe, pflegest du sein in wogenumdonnerter Halle?
Teilt der Holde mit dir deiner Unsterblichkeit Glück?

Die Nymphe

Nicht die Nymphe des Stroms entführte den Kühnen, den Schönen;
Hoch zum Olympus hinauf trug ihn ein stärkerer Gott!
Heimlich blühet er dort, umkränzt von ewiger Jugend.
Trockne die Träne des Harms! Weine den Seligen nicht!

* Ich verlor vor fünf Jahren einen geliebten Bruder, der beim Baden ertrank. Indem ich bei meiner Ankunft in Bordeaux über den Fluss setzte, entstanden diese Zeilen.
** Die Garonne zeichnet sich unter den gelben Strömen Frankreichs durch eine reinere tiefere Goldfarbe aus.

 

Am Text selbst ist kaum etwas bemerkenswert; vielleicht, wie uneigentlich die Verse heute wirken vor dem Hintergrund dessen, was die Verfasserin in den Fußnoten berichtet?! Das nächste Gedicht in ihrer Sammlung heißt „Die Nymphe des Mains und der Wandrer“, ist fußnotenfrei und beginnt mit diesem Distichon:

 

Der Wandrer

Schöne Nymphe des Mains mit den langen wallenden Locken,
Sag‘, o Liebliche, wem eilet entgegen dein Fuß?

 

Kein Bruder, der zu Tode gekommen ist; und keine irgend wahrnehmbare Änderung in Tonfall oder Aufbau oder …

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Erzählverse: Der iambische Siebenheber (7)

„Feuerkraft“ ist heutzutage eine militärische Angelegenheit, wie auch duden.de weiß: „Von Feuergeschwindigkeit, Reichweite und Explosionsgewalt abhängende Wirkung von Feuerwaffen.“ Das war nicht immer so, wie die 1833 erschienene „Kosmologische Vorschule zur Erdkunde“ von Gottlieb August Wimmer bezeugt, in der es heißt: „Denn in gewisser Weise haben beide Recht, sobald es sich von der Wirkung der Wasser- und Feuerkräfte auf die Erdrinde handelt, …“: Also „Feuerkraft“ wie „Wasserkraft“, die „Kraft des Feuers“ entspricht der „Kraft des Wassers“.

In der Dichtung gebraucht zum Beispiel Hermann Kurz das Wort in diesem Sinne in seiner „Jugendbitte“, die eigentlich ein Gebet ist, da das „Ich“ sich an Gott wendet. Die beiden Schlussverse:

 

Gib mir der Liebe Feuerkraft, die Feuerkraft des Weines,
Und werd‘ ich nie ein großes Licht, so sei ich dir ein reines.

 

Und das durchaus überzeugend – denkt man bei der ersten Nennung noch, wenigstens zum Teil, die ärgerlich viel Sinn habende „militärische Lösung“ mit, ist diese bei der zweiten Nennung schon „überschrieben“. Was, möglicherweise, auch an der Art liegt, wie Kurz den weiten Raum des Siebenhebers nutzt, um seinen Inhalt durch einigen Aufwand an sprachlichen Mitteln abzusichern und einzuprägen!

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Erzählverse: Der Hexameter (154)

Ludwig Wellmers „An die erste Schwalbe“, von dem ich den ersten Teil gebe, ist ein Gedicht, das einen zweiten Blick wert ist; allerdings nicht wegen seiner Hexameter (obwohl sie in Ordnung sind), sondern weil es ein „Fußnotengedicht“ ist; der Stern am Ende der dritten Zeile verweist nämlich auf eine solche Fußnote!

 

Bist du wieder erwacht, du freundlicher Bote des Frühlings?
Heiter entstiegen dem Grab, das kalt und feucht dich umhüllte?
Trauernd senktest du dich vom schwankenden Schilfe des Sees *
Tief in den Abgrund der Nacht, dort still auf ewig zu schlummern.
Aber dich hat ein Gott umschleiert mit dichtem Gewebe,
Wehrend des Elements feindselig zerstörenden Kräften,
Bis du, erwärmet vom Hauch des lebensausspendenden Lenzes,
Freudig begrüßest das Licht, die Flügel im Äther entfaltend.

* Bekanntlich senken sich viele Schwalben im Spätherbst auf diese Weise in Seen und Flüsse, wo sie tief auf dem Grunde bis zum Eintritte des Frühlings in einem todähnlichen Zustande ruhen.

 

„Bekanntlich“. Hm. Aber trotzdem gut, dass die Fußnote da ist, ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts; sonst verstünde man den Inhalt der Verse gar nicht … Und vielleicht sind ja gerade Hexameter-Texte in ihrer Wirklichkeitsgier der geeignete Ort für das eine oder andere „Sternchen“!

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Erzählformen: Das Distichon (48)

Huber, mein Freund! Sei billig und lass dich in Spiritus setzen;
Gönn‘ es der Nachwelt auch, dass sie den Kritiker schaut.

 

Derart bissig äußerte sich Friedrich Schlegel – allerdings nur in einem nachgelassenen Epigramm; der angeredete Kritiker Ludwig Ferdinand Huber hatte dagegen Schlegels Werke öffentlich übel verrissen: „Es gibt nicht leicht einen Zweck, um dessenwillen man die Langeweile und den Ekel, das Erstaunen und die Verachtung, die Scham und die Traurigkeit, womit jeder Leser von gesunden Sinnen diese Lucinde von sich wirft, peinlich festhalten müsste“ – so der Beginn einer Rezension des Schlegelschen Romans. Hm. Ich denke, da hat sich jemand seinen epigrammatischen Anrempler redlich verdient?!

Formal ist dieses Distichon recht formstreng, meint: in enger Anlehnung an das antike Vorbild gebaut!

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (57)

Schöner alter Götterhimmel,
Der du einst herabgeblauet,
Lächelnd, auf das seel’ge Leben
Jener Jugendwelt der Menschheit –
Wie so frühlingswonnetrunken
Streckten selbst die starren Bäume
Ihre nackten schwarzen Äste
Sehnsuchtsvoll zu dir empor,
Als du heut‘ die ersten Wellen
Deiner süßen Frühlingslüfte
Aus dem endlos blauen Meere
ließest hin zur Erde schwellen!
Selbst die dürren toten Blätter
Zitterten, als ob sie lebten,
Da geküsst vom Frühlingshauche
Sich der Saft der Zweige regte.

 

Das steht, was nach der fortwährenden Erwähnung des Frühlings nicht mehr wundern kann, in einem Text namens „Römischer Frühling“, der, auch das wurdert dann nicht mehr, in Rom geschrieben wurde: 1846, Anfang Februar, von Adolf Sahr. Insgesamt keine irgendwie bemerkenswerten Verse; wäre da nicht dieser Reim, „Wellen – schwellen“, der unvermutet in den ungereimten, gereihten Vierhebern aufklingt und eine eigenartige Wirkung macht! (Achtlos gearbeitet hat Sahr hier allerdings sicher nicht – im übrigen Text finden sich noch einige Reime.)

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Bücher zum Vers (97)

Peter Hess: Epigramm

1989 als 248. Band der „Sammlung Metzler“ bei Metzler erschienen, ist dieser Band trotz seines vergleichsweise geringen Umfangs eine schöne Einführung in eine heute, im Vergleich zu früheren Zeiten, eher weniger beachtete literarische Gattung.

Nach zwei kurzen Kapiteln zur Theorie des Epigramms und deren Geschichte widmet sich der restliche Text dem „Epigramm in der deutschen Literatur“, sowohl im allgemeinen wie auch anhand der Epigrammatiker Martin Opitz, georg Rudolph Weckherlin, Friedrich von Logau, Johannes Grob, Christian Wernicke, Daniel Czepko, Johannes Scheffler, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Franz Grillparzer, Eduard Mörike, Friedrich Hebbel und Bertolt Brecht.

Wenn euch einige dieser Männer eher Theoretiker des Epigramms waren als selbst schaffende Verfasser von Epigrammen, und wenn ich auch nicht recht einsehe, warum gerade Grillparzer so viel Raum gegönnt wird (der Wert seiner Epigramme zumindest erscheint mir gering): Die Auswahl ist gut und die Beschäftigung mit Gedanken und Werken der Genannten fördert und vertieft das eigene Verständnis der Gattung Epigramm ganz sicher!

Ein ganz kurzes Epigramm darf am Schluss nicht fehlen:

 

An die Leser

Leser, wie gefall ich dir?
Leser, wie gefällst du mir?

 

– Das stammt von Friedrich von Logau, einem wirklich wunderbaren Barock-Epigrammatiker!

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Erzählformen: Das Madrigal (28)

Christian Morgenstern hat viele eigenartige Texte geschrieben. Einer davon ist „Verse beim Erwachen“:

 

An dieser Verse kleinen Gliedern hängt
noch Tau der Nacht.
Ich hab‘ sie aus dem stummen Born, darin
der Morgen seine Pferde tränkt,
heraufgebracht.
Sie frösteln noch, als eben erst erwacht.
Ihr Auge flackert noch, als ohne Sinn,
denn den der fremden, dunklen Macht,
die drunten in der Tiefe wohnt …

 

Da ist alles vorhanden, was ein Madrigal ausmacht: Die unterschiedliche Länge der Verse – hier sind es Zwei-, Vier- und Fünfheber – sowie das freie Reimschema, zu dem mit dem Schlussvers auch eine „Waise“ gehört, ein Vers ohne Reimpartner.

Das alles schafft einen Eindruch von Unbestimmtheit, der wunderbar zum verhandelten Inhalt passt!