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Bücher zum Vers (92)

Otto Knörrich (Hrsg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen

Ein handlicher Band, erschienen 1981 bei Kröner, in den man aber immer noch mit Gewinn hineinschauen kann! Auf Seite 200 schreibt Frank Rainer Marx zum Beispiel über die Idylle:

Die Gattung Idylle, die in ihrer Rückbezüglichkeit auf eine vorbildhafte Natürlichkeit humanere Daseinsweisen intendiert, bewahrt stets ein kritisch-utopische Potential. Sie entwirft sinnenfrohe und liebevolle Miniaturen einer besseren Welt, die – zumindest implizit – als Kontraste zur konfliktbestimmten Realität und zur Undurchschaubarkeit zivilisatorischer Prozesse gedacht sind. Wo sie aber nicht auch Gegenbild, sondern nur noch Refugium ist, eignen ihr eskapistische Tendenzen, endet sie in heimeliger Provinzialität und Hausbackenheit.

Das ist doch eine knappe, klare und zutreffende Bestimmung, will mir scheinen?! Ich hänge noch den Anfang einer Idylle an, der „Wald-Idylle“ von Eduard Mörike:

 

Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze
Lag ich, ein Büchlein vor mir, das mir das lieblichste bleibt:
Alle die Märchen erzählt’s, von der Gänsemagd und vom Machandel-
Baum und des Fischers Frau; wahrlich, man wird sie nicht satt.

 

– Fügt sich doch dieser Anfang, in Distichen gehalten und ein Buch besprechend, ganz wunderbar in die Kategorie „Bücher zum Vers“!

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Bücher zum Vers (91)

Elias Canetti über die Dichter

Eine von Penka Angelova und Peter von Matt besorgte Auswahl aus Canettis Schriften (erschienen 2004 bei Hanser), in ihr enthalten seine An- und Einsichten sowohl zur Dichtung im allgemeinen als auch zu bestimmten Dichtern. Kein wirkliches „Buch zum Vers“, aber trotzdem sehr lesenswert!

Er gibt einem die Kraft nicht zur Kühnheit, sondern zur Dauer, und ich kenne keinen anderen großen Dichter, in dessen Nähe sich der Tod einem so lange verhüllt.

– Steht auf Seite 69 und ist meine Auswahl aus den ausgewählten Texten, die Goethe gelten!

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Herr Paul und der Tod

Des Abends sitzt Herr Paul vor seinem Haus;
An seiner Seite sitzt der grimme Tod.
Die Sonne streut die letzten Strahlen aus
Und taucht die stille Welt in warmes Rot.

Es schweigt Herr Paul, und ebenso der Tod.
Worüber schweigt ein jeder sich wohl aus?
Die Dunkelheit bedeckt verblasstes Rot,
Der Sterne fernes Licht umspielt das Haus.

Herr Paul schweigt über die Vergänglichkeit.
Noch ist es Nacht, man ahnt den Tag noch nicht;
Doch erste Vögel fangen an zu singen.

Der Tod schweigt von uns unbekannten Dingen,
Vom Sterben wohl, und von der Ewigkeit.
Die Sonne steigt und schenkt der Welt ihr Licht.

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Erzählverse: Der iambische Siebenheber (6)

Wer allzusehr mit Worten pocht, gibt deutlich an den Tag,
Dass seine Lunge ziemlich viel, sein Herze nichts vermag.

 

Der Schluss eines Epigramms und zwei sehr barock klingende Verse – was ein guter Hinweis auf ihren Urheber ist: geschrieben hat sie Friedrich von Logau, sicher einer der besten deutschen Epigrammatiker des 17. Jahrhunderts!

Das „ziemlich“ sieht wie ein Füllwort aus, aber trotzdem tut den Versen die Aufteilung in ungleich lange Teilverse gut (vier Hebungen || drei Hebungen); sie wirken lebendiger und abwechslungsreicher.

(„Pochen“ war früher ein weiteres Wort als heute – das grimmsche Wörterbuch gibt auch „ungestümes, zorniges, unmutiges, trotziges, hoffärtiges, prahlerisches, höhnisches Auftreten, Handeln und Reden“.)

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Erzählverse: Der Hexameter (152)

Eduard Engel schrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Literaturgeschichte einen bedenkenswerten Satz anlässlich Julius Grosses Versdichtung „Gundel vom Königssee“:

Eine gute Novelle, aber nur eine, wie es sehr viele in Prosa gibt; man empfindet die gewählte Form, den Hexameter, als eine Überflüssigkeit, ja einen Missgriff.

Aha!? Da redet jemand einer Unterscheidung der Erzählweisen das Wort; in der Prosa so, im Vers aber anders … Und das sicher zu recht!

Wobei das gefällte Urteil der „Gundel“ nicht ganz gerecht wird … Der Anfang:

 

Horch! Schon läuten sie aus bei den Franziskanern am Berge,
Und der Schall der Posaunen ertönt – Klarinetten und Waldhorn –
Bautz, ein krachender Böllerschuss, weiß wirbelt der Rauch auf –
Bautz, noch einer und jetzt laut knallen die Büchsen der Bauern;
Wie im Geplänkel der Schacht hinflattert Geschrei und Geschnatter.

 

Da macht sich der Hexameter als Formkraft schon bemerkbar, einerseits durch die nachdrückliche Bewegung vor allem des dritten und fünften Verses, andererseits auch durch die freiere Satzstellung vor allem des vierten Verses?!

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Erzählformen: Das Distichon (40)

Im 19. Jahrhundert gehörte das Schreiben von Distichen zum Zeitvertreib vieler akademisch ausgebildeter Menschen. Hier versucht sich der Philosoph Wilhelm Traugott Krug an einem Epigramm:

 

Der weise Forstmann

Finsternis wandeln in Licht ist der Weisheit oberste Stufe;
Darum lass‘ ich die Axt fleißig durchwandeln den Forst.

 

– Und durchaus mit Erfolg! Ausgehend von seinem Beruf findet Krug ein überraschendes und eindrückliches und witziges Bild, und auch die beiden Verse bewegen sich gut; in den beiden Fällen, wo die Senkung mit nur einer Silbe besetzt ist, hat diese doch ein gewisses Eigengewicht, so dass der jeweilige Versfuß sich unter all den anderen dreisilbigen behaupten kann in Umfang und Wirkung.

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Erzählverse: Der trochäische Fünfheber (17)

Angehenden Prosaerzählern wird oft geraten, sich am Beginn eines Textes nicht mit dem Wetter oder der Landschaft aufzuhalten; besser, man setzt gleich mit der Handlung ein. Ob das ein guter Rat ist, weiß ich nicht – die Prosa ist nicht meins; in der Verserzählung lassen sich die Verfasser jedenfalls oft Zeit. Und warum auch nicht? Der verwendete Vers, an sich und in der Art, wie der jeweilige Verfasser ihn handhabt, wird so dem Leser vertraut, ehe das eigentliche Geschehen die Aufmerksamkeit beansprucht …

 

An des Abendmeeres fernem Saume
Ragt aus blauer Flut ein Felseneiland,
Haldenreich, durchrauscht von Sprudelbächen,
Über denen sich der Eichenwälder
Wipfelkronen sanft im Meerhauch wiegen
Und den langen Schatten auf die flieh’nden
Wellen niederstreuen. Auf den Berghöhn
Spielen Rehe, schlanke Antilopen,
Ungefährdet von der Menschen Mordgier;
Denn nichts wissen von des Jagens grauser
Lust die Hirten, die nach Vätersitte
Über ihrer Insel Klippenhänge
Hin von Trift zu Trift, von Tal zu Tale
Mit den Herden ziehn.

 

– So beginnt Adolf Friedrich von Schacks kurze (und sonst nicht weiter bemerkenswerte) Erzählung „Der Tod des Apostels“ und stellt dabei einen Vers vor, der sich weitestgehend dem Satz unterordnet und sich damit begnügt, diesen eher unmerklich zu formen. Nach dreizehneinhalb Versen betulicher Naturbeschreibung, an deren Ende der Mensch sich noch etwas zaghaft ins Bild zu fügen beginnt, setzt mit einem neuen Absatz und mit der zweiten Hälfte des abgebrochenen Verses die Handlung ein:

 

In Morgenfrühe
Klimmt ein junges Weib vom höchsten Felsen,
Der vom Ufer steil ins Meer hinausragt,
Mit den Kindern an den Strand hinunter.

 

Und spätestens hier wird deutlich: auf eine hohe Erzähleschwindigkeit wird der Text auch im weiteren keinen Wert legen …