Erzählverse: Der Blankvers (85)
Beim „Guardian“ gibt es anlässlich Shakespeares 400. Todestag eine Reihe namens „Shakespeare Solos“, in der bekannte Schauspieler kurze Ausschnitte aus Shakespeares Werken vortragen. Zum Beispiel Damian Lewis, der den Anfang von Antonius‘ berühmter Leichenrede aus „Julius Caesar“ spricht: Friends, Romans, countrymen. Wer mag, kann ihm zuhören und dabei die klassische deutsche Übersetzung von August Wilhelm Schlegel lesen:
Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an:
Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie;
Das Gute wird mit ihnen oft begraben.
So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus
Hat euch gesagt, dass er voll Herrschsucht war;
Und war er das, so war’s ein schwer Vergehen,
Und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt.
Hier, mit des Brutus Willen und der andern
(Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann,
Das sind sie alle, alle ehrenwert),
Komm ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden.
Er war mein Freund, war mir gerecht und treu;
Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war,
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Er brachte viel Gefangne heim nach Rom,
Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt.
Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich?
Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar;
Die Herrschsucht sollt aus härterm Stoff bestehn.
Doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war,
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Ihr alle saht, wie am Lupercusfest
Ich dreimal ihm die Königskrone bot,
Die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht?
Doch Brutus sagt, dass er voll Herrschsucht war,
Und ist gewiss ein ehrenwerter Mann.
Ich will, was Brutus sprach, nicht widerlegen;
Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß.
Ihr liebtet all ihn einst nicht ohne Grund;
Was für ein Grund wehrt euch, um ihn zu trauern?
O Urteil, du entflohst zum blöden Vieh,
Der Mensch ward unvernünftig! – Habt Geduld!
Mein Herz ist in dem Sarge hier beim Cäsar,
Und ich muss schweigen, bis es mir zurückkommt.
Feine Verse, hier wie da; und ein guter Vortrag.
Erzählformen: Das Reimpaar (27)
Im Reimpaar aus iambischen Vierhebern sind gegensätzliche Kräfte am Werk: Der Reim, der das Verspaar zu einer nachdrücklichen Einheit verklammert, und der beschränkte Platz, der nicht viel Aussage zulässt und das Verspaar sogar oft etwas kurzatmig wirken lässt. Beides lässt sich in Kurt Tucholskys „Ach, sind wir unbeliebt!“ aus dem Jahre 1919 finden:
Wenn man, wie wir, den Umsturz liebt,
macht man sich häufig unbeliebt.
Die Herren mit dem hohen Kragen.
die können dieses nicht vertragen.
Das Fräulein Ännchen reicht mir Tee.
Der Herr Assessor will Calais.
Wir sprechen auch vom Liebknecht-Mord.
Sie gleiten hurtig drüber fort.
Man denkt voll Freuden des Gerichts.
Ich räuspre mich und sage nichts.
Der Herr Assessor guckt mich an:
Ist das ein Bolschewistenmann?
Und auch das Fräulein Ännchen schaut.
Wie zart ist ihre weiße Haut!
Doch je auf meinen Kissen ruhn –
das wird sie ganz gewiss nicht tun.
Ich fühl es leider ganz genau,
sie ist wie jede kleine Frau:
Sie liebt nicht den, der revoltiert –
brav muss er sein, dem sie gebiert.
Wie ist sie süß! Wie ist sie munter!
Ich falle langsam hinten runter.
So zeigt sichs wieder, Bruder – nämlich:
Gesinnung ist oft unbequemlich,
wenn man sich sozialistisch gibt …
Ach Gott, wie sind wir unbeliebt!
Das dabei drei der Verspaare „weiblich“, also mit unbetonter Silbe enden, fällt nicht weiter ins Gewicht, oder besser: ist nur eine Auflockerung?!
Erzählformen: Das Distichon (39)
Das Lesen von Gedichten ist auch ein Erinnern von zuvor gelesenen Gedichten!
Sprache
Sprache erschuf sich der Geist, wie der Schneck sein Gehäuse; da drinnen
Wohnt er verkrochen und streckt neckisch die Fühler heraus.
– Dieses Distichon habe ich gerade bei Isolde Kurz gelesen, und dabei kam mir ein themenverwandtes Distichon von Hugo von Hofmannsthal in den Sinn, formal ähnlich aufgebaut mit dem Vergleich im Hexameter, inhaltlich ähnlich durch den „Geist“ und das Tierbild:
Werke
Werke verkünden den Geist, wie Puppen den Falter verkünden:
„Sehet, er ließ mich zurück, leblos, und flatterte fort.“
Beide haben ihren Reiz; wobei das Hofmannsthalsche Verspaar in der Gestaltung strenger wirkt, geschlossener; Kurz‘ Verse dagegen, um eines ihrer Worte aufzunehmen, ein klein wenig „neckisch“?!
Erzählformen: Die Brunnenstrophe (16)
Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ war seinerzeit ein sehr, sehr berühmtes Buch – aber auch die Moritat, die Heinrich Gottfried von Bretschneider daraus gemacht hat, war wohlbekannt. Acht Strophen daraus:
Ein Pfeil vom Liebesgotte
Fuhr ihm durchs Herz geschwind:
Ein Mädchen, sie hieß Lotte,
War eines Amtmanns Kind.
Die stand als Vize-Mutter
Geschwistern treulich vor
Und schmierte Brot mit Butter
Dem Fritz und Theodor,
Dem Liesgen und dem Kätgen –
So traf sie Werther an
Und liebte gleich das Mädgen,
Als wär’s ihm angetan.
Wie in der Kinder Mitte
Sie da mit munterm Scherz
Die Butterrahmen schnitte –
Da raubt‘ sie ihm das Herz.
Er sah, beklebt mit Rotze,
Ein feines Brüderlein
Und küsst‘, dem Rotz zum Trotze,
An ihm die Schwester sein.
Fuhr aus, mit ihr zu tanzen
Wohl eine ganze Nacht,
Schritt Menuetts der Franzen
Und walzte, dass es kracht‘.
Sein Freund kam angestochen,
Blies ihm ins Ohr hinein:
„Das Mädgen ist versprochen
Und wird den Albert frein.“
Da wollt‘ er fast vergehen,
Spart‘ weder Wunsch noch Fluch,
Wie alles schön zu sehen
In Doktor Goethes Buch.
Rotze. Ja. Die zuvor, in diesem Ausschnitt und danach erzählte Geschichte ist jedenfalls die von „Doktor Goethe“ bekannte; das „wie“, die mutwillig unbekümmerte Füllung der so volkstümiich gewordenen Brunnenstrophe, gibt dem ganzen aber einen eigenen Klang und unterstützt die (auch angelegte) parodistische Wirkung aufs feinste?!
Ohne Titel
Rot in des Baumes
Ragenden Ästen,
Apfel! bemerkst du’s:
Bald ist es Zeit.
Die Bewegungsschule (57)
Gertrud Kolmars „Garten im Sommer“ ist in ganz unterschiedlich langen, ganz unterschiedlich sich bewegenden Versen geschrieben. Einmal klingt aber eine Bewegung auf, die jedem, der die „Bewegungsschule“ besucht hat, sofort vertraut ist – ein Gruß vom „großen Bruder“!
Und ein winziger reglos hockender Frosch, der aus grüner Bronze geformt ist.
Und ein win– / ziger | reg– / los hock– / ender Frosch, || der aus grü– / ner Bron– / ze geformt / ist.
ta ta TAM / ta ta | TAM / TAM TAM / ta ta TAM || ta ta TAM / ta TAM / ta ta TAM / ta
Sehr schön! Auch wenn der hier waltende Zufall sich durchaus bemerkbar macht , und zwar weniger durch die eine einsilbig-leicht besetzte Senkung (das schadet nicht) als vielmehr durch die fehlende / undeutliche Nebenzäsur im ersten Halbvers?! Aber auch das ist verschmerzbar …
Erzählformen: Die alkäische Strophe (20)
Die im letzten Beitrag von Isolde Kurz aufgeworfene „Götter-Frage“ haben auch andere gestellt – und wie sie in der alkäischen Strophe beantwortet! So der vierzig Jahre jüngere Josef Weinheber:
Wir hatten ja im Anfang mit Göttern und
Dämonen viel zu tun. Und es waren da
noch hohe Menschen: Als ein Durchgang
mächtiger Gegner und hehrer Streite.
Doch dann verfiel der Raum, und es kam die Zeit.
Da zogen sich die Götter zurück. Wo war
denn noch für sie zu tun? Die Halle
starrte verlassen mit Säulentrümmern.
Und was wir an Dämonen uns aufgepflegt,
ward dünn und dürr. Sie trieben kein Reis mehr: Qual,
sonst nichts. Und hatten einst uns doch den
Göttern, dem Gott, an die Brust getrieben.
Jetzt essen wir das mühsam gesparte Brot
der Ausgeglichenheit, und wir zahlen es
mit kleinster Münze. Arme Götter!
Arme Dämonen! Vorbei — Geht schlafen!
Auch hier: Vier Strophen. Die beiden Gedichten gemeinsamen „schlafenden Götter“ scheinen ein anziehendes Bild zu sein, wenn sie auch ganz unterschiedlich Verwendung finden; genauso die „Trümmer“. Erstaunlich das eigenartig umgangsspachliche „ja“ im ersten Vers?!
Erzählformen: Die alkäische Strophe (19)
Wenn eine Verfasserin eigentlich nur gereimte Gedichte in ihren „gesammelten Werken“ hat; aus welchen Gründen sind dann die wenigen Texte in „antiken“ Maßen entstanden? Ein weitverbreiteter Grund – die Wahl der Form als Folge des gewählten Inhalts – lässt sich bei Isolde Kurz‘ „Tote Götter“ vermuten:
Dein Tempel ist verwaist und dein Gott ein Traum,
Kein Glaube wärmt, o Seele, dein ödes Haus,
Doch bleibt der Ort geweiht, und fernab
Rauscht des geschäftigen Tags Gemeinheit.
So liegt im Hain zertrümmert ein Götterbild,
Sein Dienst vergessen, ach, seine Priester tot!
Das edle Haupt zerschellt, doch Hoheit
Strahlt von dem herrlichen Rumpf noch immer.
Der Vorzeit Geister hüten die Stätte treu,
Den Leib umgießt verklärendes Abendrot,
Die Lüfte reden leis‘, und lieblich
Duften die Blumen, wo Götter schlafen.
Ja, tote Götter, euer ist noch der Ort,
Und dein des Herzens Stille, Erinnerung;
Doch euer Tag ist um, und ewig
Trauert die Seele, dass Götter sterben.
„Doch euer Tag ist um“ – das ist, irgendwie, eine sehr schnörkellose Feststellung … Die alkäischen Strophen sind sicher gebaut, man merkt, dass Kurz ungeachtet der Reim-Vorliebe ein sicheres Verständnis dieser Form hatte! Die Art, wie in den ersten beiden Versen jeder Strophe die Zäsur nach der fünften Silbe mal beachtet, mal abgewandelt wird, gefällt zum Beispiel; Das „Springen“ von einer Strophe in die nächste, was die antiken Strophenformen ja viel eher ermöglichen als spätere Reimstrophen, fehlt allerdings. Nicht schlimm, aber ein wenig eine verpasste Möglichkeit …