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Wortvergnügt (1)

Wie kommt man zu Wörtern, die Verfasser wie Leser wortvergnügt zurücklassen?! Ich denke, auf den üblichen Wegen: Man sammelt sie in den Texten, die man liest, und verwendet sie anschließend (bei passender Gelegenheit); oder man stellt sie selber her.

In Bezug auf das erste Verfahren lohnt vielleicht ein Blick in Johann Georg Hamanns (der Onkel des gleichnamigen, aber ungleich berühmteren philosophischen Schriftstellers) Poetisches Lexikon, oder, wie der Titel weiter ausführt: Nützlicher und brauchbarer Vorrat von allerhand poetischen Redensarten, Beiwörtern, Beschreibungen, scharfsinnigen Gedanken und Ausdrückungen, nebst einer kurzen Erklärung der mythologischen Namen, aus den besten und neuesten deutschen Dichtern zusammengetragen, und der studierenden Jugend zum bequemen Gebrauch mit einer Anweisung zur reinen und wahren deutschen Dichtkunst ans Licht gestellt.

In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben, und damit zu Zeiten, in denen das Dichten ein Handwerk war, war das der „studierenden Jugend“ wirklich ein „bequemer“ Helfer: zu alphabetisch geordneten Stichwörtern gibt es eine kurze Beschreibung, von Dichtern verwendete Redensarten – und eben Beiwörter, die zuvor von Dichtern in Zusammenhang mit diesem Stichwort benutzt worden waren! Zum Beispiel finden sich zu der aus der Odyssee bekannten Calypso diese Beiwörter:

Die schöne, holde, geschickte, beglückte, zufriedene, verliebte, entbrannte, verlassne, betrübte, anmutsvolle, seufzerreiche, unsterbliche.

Nun ja. Keine besonders beeindruckende Auswahl?! Aber eins ist doch dabei, das ein wenig aufhorchen lässt: seufzerreich.

Das ist, erst einmal, selten; und damit auffällig. „Tränenreich“, ganz genauso gebildet, ist viel bekannter, aber eben auch gewohnter!

Spürt man dem „seufzerreich“ ein wenig nach, landet man in der Tat auch in der Odyssee – am Anfang des 21. Gesangs zum Beispiel findet sich, in der Prosa-Übersetzung Wolfgang Schadewaldts, dieser Satz:

Dort lagen ihr die Kostbarkeiten des Herrschers: Erz und Gold und vielbearbeitetes Eisen, dort lag auch der zurückschnellende Bogen und der Köcher, der pfeilaufnehmende, und in ihm waren viele seufzerreiche Pfeile.

Spannend! Wobei die Übersetzer,  die den homerischen Hexameter im Deutschen nachbilden wollten, hier tricksen mussten, denn in der Schlussformel des Verses, dem „X x x / X x“, ist eine doppelt besetzte Senkung Pflicht:

Pfeilgefüllt; drin waren viel seufzererregende Pfeile.

So übersetzte Roland Hampe. Noch anders, aber auch mit einem Partizip, das die benötigten unbetonten Silben herbeischafft, der Klassiker Johann Heinrich Voss:

Und der Köcher, gefüllt mit jammerbringenden Pfeilen.

Wogegen nichts zu sagen ist; aber den Reiz von „seufzerreich“ haben beide Beiwörter nicht! Womit ein erster Eintrag für eine Beiwörterkladde gefunden wäre … Und auch das Bilden eigener Wörter kann hier seinen Anfang nehmen, denn Zusammensetzungen mit „-reich“ lassen sich ohne Mühe bilden, als Abwandlung schon bestehender Begriffe oder ganz frei. Statt „die zahlreich versammelten Menschen“ eben „der Menschen kopfreiche Versammlung“; einfach versuchen, alles mögliche:

Winterszeit, in der Stadt: eine nasenreiche Erkältung.

Wobei es kein völliger Zufall ist, dass die Beiwörter hier und in den anderen beiden Hexametern auf der vierten und fünften Hebung zu stehen kommen. Aber davon: ein andermal.

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Erzählverse: Der Hexameter (129)

Durch den Hexameter allein – wenn es auch nur der unsrige ist, nicht der römische und griechische, sondern eine unserer Sprache angemessene, mögliche Nachbildung, die den freien Geist nicht zu sehr beschränkt, und die Vorteile unserer Sprache auf andere Weise kund tut, durch Wahl, Stellung und Ordnung der Worte – ich sage, durch den Hexameter fast allein hat sich unsere Sprache erhoben und einen poetischen Vorteil über andere neuere Sprachen erlangt.

Diese hohe Meinung vom Hexameter hat Karl Ludwig Knebel geäußert in einem am 10. Mai 1820 an Karl August Böttiger geschriebenen Brief. Dabei war er gar kein Mann allzu einseitiger Urteile, wie eine Bemerkung von Karl August Varnhagen von Ense zeigt:

Er bestand festgläubig auf ein unwandelbar zu befolgendes In-Der-Mitte-Sein zwischen dem oft Ohrenzwang erregenden Hammerschlag einer durch Voß und sein Normalbuch über die Zeitmessung begründeten Schule und der aufgelöst hinschlotternden Zerflossenheit und Regellosigkeit unserer Hexametristenschar.

Dem kann zumindest ich mich nur anschließen: Wenn auch die strenge Nachbildung der antiken Verse ihren Reiz hat, wird sie dem Deutschen doch nicht immer gerecht; diese Herkunft des Hexameters nur als ungefähre Bezugsgröße zu nehmen und dann Verse zu bauen, die fast ausschließlich von eigenen Vorlieben bestimmt werden, ist aber wiederum zu beliebig.

Die Wahrheit liegt, wie immer: in der Mitte. Nun war Knebel kein großer Dichter, aber ich schieße trotzdem mit zwei Hexametern von ihm, die vom Bau her gelungen sind; und vom Inhalt her auch.

 

Gib, dass ich ohne Verblendung und Wahn, nicht frevelnd noch töricht,
Messe der Dinge Wert nach richtigem Maß und Verhältnis.

 

– Aus dem Fragment gebliebenen „Hymnus an den Geist der Natur“.

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Erzählformen: Der Zweiheber (18)

Jünglingsklage

Winter, so weichst du,
Lieblicher Greis,
Der die Gefühle
Ruhigt zu Eis.
Nun unter Frühlings
Üppigem Hauch
Schmelzen die Ströme –
Busen, du auch!

 

Mädchenrätsel

Träumt er zur Erde, wen,
Sagt mir, wen meint er?
Schwillt ihm die Träne, was,
Götter, was weint er?
Bebt er, ihr Schwestern, was,
Redet, erschrickt ihn?
Jauchzt er, o Himmel, was
Ist’s, was beglückt ihn?

 

Zwei kurze, zusammengehörige Zweiheber-Texte, von denen der erste sicher nicht schlecht ist, aber auch wenig besonderes vorweisen kann; wohingegen der zweite aufhorchen lässt durch seine ungewöhnliche Art, auf die Vers und Satz und Reim zueinandergefunden haben, und aus der man den Verfasser, Heinrich von Kleist, schon ein Stück weit heraushört, bevor sein Name genannt wird!

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Das Königreich von Sede (85)

Die immer gleichen Wasser kreisen
Ums Schloss, ihr immer gleicher Lauf
Ist, Wasserfrau! dein Werk; mit leisen
Gesängen führst du sie herauf,
Dass sie der Sonne Lichtmacht sehen;
Hinab, dass sie die Nacht verstehen;
Im Kreis ums Schloss, dass sie der Geist
Der Menschen dort: ins Weite weist.

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (21)

Epistel

Des Meeres Gang ist höher heut und lauter auch!
Wohl dem, der hinter Wällen seines Lebens Arbeit fand
und sicher steht, gefestet auf ererbtem Grund.
Durch reichen Boden, den das Meer vordem genährt,
auf seinem Boden schreitet er und lenkt den Pflug
in grader Bahn und wendet ihn getrost am Ziel.

Dann rastet er – und lässt die Blicke schweifen, rings,
und sieht um sich in Ruhe wachsen seiner Hände Werk.

Nur manchmal horcht er wohl hinüber nach dem weiten Meer,
wanns einmal ungestümer donnert an den festen Damm,
und denkt des Freundes – der auf wilder Fluten Spiel
sein Los erkor und seines Willens Güter fand . . .

Des Meeres Gang ist höher heut, doch stolzer auch!

 

Diesem Text Erich Otto Hartlebens zu bescheinigen, er sei in Trimetern geschrieben, ist ein klein wenig kitzlig. Der zweite Vers ist ein Siebenheber, was zwar den Gesamteindruck nicht weiter beeinflusst; aber ein Fingerzeig ist auf das, was kommt! Denn die Verse Acht bis Zehn sind allesamt Siebenheber, und über drei Verse hinweg macht das dann doch Eindruch auf das Ohr! Auch wenn sich diese Verse nicht wirklich zu iambischen Siebenhebern ausbilden – dafür fehlt ihnen die kennzeichnende Zäsur nach dem vierten Iambus. Stattdessen fallen die Einschnitte so, dass die hintere Vershälfte gut „trimetrisch“ ist:

wanns ein– / mal un– / gestü– / mer don– / nert || an / den fes– /ten Damm,
x X / x X / x X / x X / x || X / x X / x X

Mit (zum Beispiel) einem zwei- statt viersilbigem Adverb wäre das ein feiner Trimeter:

wanns einmal rauer donnert || an den festen Damm,
x X / x X / x X / x || X / x X / x X

Besonders nachdrücklich sind auch die Trimeter nicht zäsuriert; bis auf den, der auf die Siebenheber folgt:

und denkt / des Freun– / des – || der / auf wil– / der Flu– / ten Spiel
x X / x X / x || X / x X / x X / x X

Der „klassische“ Einschnitt hinter der fünften Silbe! Zufall wird das nicht sein, daher: Ein Text, der wohl doch vom Trimeter her gedacht, entworfen und ausgeführt wurde.

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Erzählverse: Der Blankvers (77)

„Bei Saragossa“ heißt ein Blankverstext Hans Bethges, und wer bei diesem Titel und diesem Verfasser ein Stück Naturlyrik erwartet, liegt nicht völlig falsch:

 

Auf allen Gärten Saragossas lag
der Mond wie blaue Seide. Das Gesträuch
stand funkelnd um die Marmorbrunnen da,
gleich silbernen Wolken, die ein schöner Duft
ins Leben wies, das ihnen nur ein Traum.
Wir glitten auf dem schillernden Fluss zu Tal,
bekränzte Jugend, schöne Frauen auch,
und sahn den Glanz und fuhren weit ins Land,
durch viele Gärten, blühenden Feldern zu.
Da hub die schönste von den Mädchen in
dem schwebenden Kahn mit sanfter Stimme an
ein Lied zu singen, das wie Heimweh war
und lieblich gleich dem Mondlicht rings im Land.
Wohl mancher Wandrer an dem Ufer, der
es hörte, manches späte Liebespaar,
das einsam seine glücklichsten Pfade ging,
hielt an, verwundert, lauschte dem Gesang
der schönen Stimme, bis das ferne Licht
ihn ganz begrub, und lenkte seinen Schritt
nachsinnend weiter, an dem Wasser hin …

 

Wie jeder Vers, so hat auch dieser seine ganz eigene Art: Ausnahmslos männlich-betont schließend, mit teils sehr harten Zeilensprüngen; andererseits mit doppelt besetzten Senkungen im Versinnern, wobei diese aber ausschließlich von dreisilbige Beiwörtern besetzt werden: silbernen, schillernden, blühenden, schwebenden, glücklichsten. Das könnte eintönig wirken, aber dafür sind es zu wenige derartige Beiwörter; und ist der Text zu kurz. Doch vernehmbar ist es immer in dieser luftig-leichten, eben schwebenden Erinnerung an eine nächtliche Begebenheit, und gibt dem Text seinen eigenen Ton.

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Ohne Titel

Herz, Schmerz und was sonst, Poetaster, du brauchst, das Geheimnis der Liebe zu singen:
Nimms hin und benutz es – mit Vorsicht, auf dass du es unbeschädigt zurückgibst.

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Erzählformen: Der Zweiheber (17)

„Die Pfauen“ von Friedrich Georg Jünger (zu finden in „Sämtliche Gedichte 1“, erschienen 1985 bei Klett, auf den Seiten 185 – 187) ist neunzehn Strophen lang; hier die ersten vier:

 

Plötzlich durchdringen
Den lautlosen Garten
Scharf wie Metalle
Die mittagsharten
Schreie der Pfauen.

Hervor aus den Büschen
Seh‘ ich sie schreiten,
Seh‘ ich sie nicken,
Mit stolzen Tritten
Sich spreizen und breiten.

Sie kommen mit Schleppen,
Kommen mit Schleiern.
Sie neigen sich, kreisen,
Sie fegen die Erde
Mit blauen Leiern.

Wie Herolde sind sie.
Es ist, als ob sie
Das Grüne entzünden,
Der fremden Götter
Ankunft verkünden.

 

– Strophisch, mit fünf Zweihebern je Strophe, gebaut auf die übliche Art: Zwei klar vernehmbare Betonungen, und davor, dazwischen und dahinter unbetonte Silbe in keiner festgelegten Anzahl. Spannend aber: der eine Reim, der je zwei der fünf Verse bindet, also den kleineren Teil der Strophe; und dann auch nicht dieselben Verse, sondern den zweiten und vierten, den zweiten und fünften, den dritten und fünften … Im wesentlichen zeigt sich so dasselbe, was bei der Silbenverteilung erfahrbar wird: Die beiden Hebungs-Betonungen bauen den Vers, sie bestimmen ihn in hohem Maß, machen ihn erfahrbar; und alle anderen Gestaltungsmöglichkeiten können sich größere Freiheiten erlauben und die Wirkung der Verse mal so, mal so unterstützen.