Erzählformen: Der Zweiheber (9)
a X b X c: Nicht nur c, auch a, die Senkungsstelle vor der ersten Hebung, ist gelegentlich mit zwei unbetonten Silben besetzt. Am häufigsten, wenn der Text eigentlich mit einer unbetonten Silbe einsetzt und zu dieser ausnahmsweise, in einzelnen Versen, eine zweite tritt:
Je mehr ich sie rufe,
Je schneller ihr Lauf,
Wenn ein Hauch sie entführet,
Wer hielte sie auf?
– Steht in „Vom Strande“, das Joseph von Eichendorff aus dem Spanischen übertragen hat. „Wenn ein“ ist die besagte Ausnahme! Die als Ausnahme allerdings den Eindruck, den der Hörer vom Vers hat, nicht großartig beeinflusst. Dazu muss die doppelt besetzte Eingangssenkung schon häufiger auftreten, am besten: regelmäßig.
Seit der tödlichen Nacht,
Da zuletzt wir uns trafen,
Hab ich immer gewacht —
Kannst du noch schlafen?
Ein Etwas hat laut
Aus dem Weltall geschrieen,
Wie wenn Ewigkeit graut
Und die Lachenden fliehen …
– Die ersten beiden Strophen eines Gedichts von Alberta von Puttkammer. Bis auf den vierten Vers der ersten Strophe, der vollständig alterniert, und dem ersten Vers der zweiten Strophe, der langsam wieder Fahrt aufnimmt (die Mittelsenkung ist doppelt besetzt, die Eingangssenkung einfach), folgen alle Verse diesem Aufbau –
x x X x x X (x)
– sind also, in der im letzten Beitrag eingeführten Schreibweise, entweder (2/2/0) oder (2/2/1). Und in dieser Regelmäßigkeit bestimmen die doppelt besetzten Eingangssenkungen sehr wohl die Bewegungslinien der Verse!
Erzählformen: Der Zweiheber (8)
a X b X c – Ein Zweiheber hat zwei Hebungsstellen, hier die X, und drei Senkungsstellen, hier a, b und c. Während b, also die Senkung in der Versmitte, entweder mit einer oder zwei unbetonten Silben besetzt wird, werden a und c entweder mit keiner oder mit einer unbetonten Silbe besetzt; und das Zusammenspiel dieser Möglichkeiten ergibt die bisher vorgestellten Formen.
Ganz ausgeschlossen ist es aber nicht, dass auch a und c mit zwei unbetonten Silben besetzt werden. Für c liefert Friedrich Rückert ein Beispiel in „Die Göttin im Putzzimmer“, woraus ich acht Verse vorstelle:
Und aus dem lebenden
Inneren Hauch
Wird dem Umgebenden
Leben erst auch.
Schöpf’rin, Entfalterin
Himmlischer Zier,
Stehst du, Gestalterin
Muse, vor mir?
… Was, eigentlich, zwei vierzeilige und kreuzgereimte Strophen dieses Baus sind:
X x x X x x
X x x X
X x x X x x
X x x X
– Und deren Silbenverteilung bringt, keine Frage, eine ganz eigene Wirkung hervor! Ich empfehle, diese Strophe selbst zu versuchen. Sie schreibt sich nicht ganz leicht, lohnt den Aufwand aber.
Wollte man die Zweiheber nach dem Schema (a/b/c) ordnen und für dabei für die drei Buchstaben die Anzahl der unbetonten Silben einsetzen, wäre die erste Zeile hier von der Art (0/2/2), die zweite Zeile von der Art (0/2/0); die erste Strophe eines anderen Gedichts von Rückert …
Du bist die Ruh‘,
Der Friede mild,
Die Sehnsucht du
Und was sie stillt.
… wäre von der Art (1/1/0). Aber gut. Wem das zu trocken ist, kann sich die Musik anhören, die Franz Schubert dazu geschrieben hat: Du bist die Ruh.
Das Königreich von Sede (80)
Er springt, er landet und er springt
Von neuem zu dem Lied,
Das Schemel ihm zur Laute singt,
Und eh‘ er’s sich versieht,
Führt ihn ein Sprung zum Grabenrand.
Der Narr verstummt, ihm zagt die Hand,
Er weiß, was nun geschieht!
Dem Frosch ist’s gleich, er springt und lässt
Sich fallen – Wasser spritzt
Und hat im Augenblick durchnässt:
Den, der am Graben sitzt
– Und wieder singt, die Sängerpflicht
Gebeut’s; man hört den Ärger nicht,
Der aus dem Aug‘ ihm blitzt.
Erzählverse: Der trochäische Vierheber (49)
2014 ist bei Wallstein der Band „Christine Lavant. Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte“ erschienen. Das ist ohnehin ein lesenswertes Buch, lohnt die Beschäftigung mit ihm aber auch in Hinblick auf den Aufbau der Gedichte; die verwendeten Maße. Auf Seite 471 etwa findet sich ein Text in ungereimten trochäischen Vierhebern, dessen Beginn so lautet:
Der Apostel Himmelschlüssel,
das Prophetlein Männertreue,
beide rieten mir zu flüchten
unters Dach der Sterbestunde,
noch bevor die Bocksbartsterne
in den Wiesen niederkämen.
Doch ich hoffte voller Gleichmut
auf die braunen Teufelsschirme,
auf die roten Klebenelken
und den blauen Hosenknopf.
Nur zehn Verse, aber sie genügen, um ein Gefühl zu bekommen für die Art, wie Christine Lavant den Vierheber verwendet? Sehr fest schließende Sätze (oft auf einer Betonung), worauf der nächste Satz erst einmal wieder Fahrt aufnehmen muss; der abgemessene Versraum wird erfahrbar durch die Wiederholungen.
Ohne Titel
Im Park steht eine Bank; an schönen Tagen
Ist die von morgens früh bis abends spät
Besetzt mit Menschen, die ein Päuschen machen:
Die frische Luft genießen und die Wärme.
Und ist mal niemand da, dann landen Tauben
Auf einer alten Zeitung, und sie neigen
Die Köpfe, dass es scheint, sie lesen – doch
Was Menschen kümmert, kümmert Tauben nicht.
Erzählformen: Der Zweiheber (7)
Die in (7) vorgestellte Zweiheberart, X x x X x, ist ein als „Adoneus“ bekannter, geschätzter und gern verwendeter Vers; auch beim Verserzähler kam er schon vor, zum Beispiel in der Bewegungsschule (29 – 31). Man kann mit ihm viel anstellen, und er verträgt sich auch gut mit anderen Versen!
Ein Beispiel dafür ist die letzte Strophe aus Eugen Obermeyers „Beschwörung“:
Muss dich in tausend
Hymnen noch preisen,
Tochter der Sonne,
Schwester des Mondes,
Schönheitstrahlendes Kind!
– Die „Adoneen“ sind, erst einmal, recht rasch und flüchtig, und so dient der dreihebige Schlussvers, ein X x X x x X, durch die dritte Hebung und die Schlussbetonung als ein langes, weites Bremsen und, schließlich, Stillstehen; was eine schöne, die Strophe rundende Wirkung hat?!
Erzählformen: Das Distichon (20)
Vielleicht lohnt es sich, auf die Verse des zuletzt erwähnten Friedrich Georg Jünger zu schauen? In seinen „Sämtlichen Gedichten“, erschienen 1985 bei Klett-Cotta, findet sich ab Seite 80 das längere Gedicht „Meeresfrüchte“, in Distichen geschrieben, aus dem ich ganz frech zwei dieser Distichen herausnehme:
Der Hammerhai
Bogenförmig klafft ihm das Maul, zum doppelten Schlägel
Formt sich das seltsame Haupt, Spindeln gleich reckt sich der Leib.
Wütend bestürmt er den fliehenden Thun und zerreißt ihn im Netz noch,
Bis den Jäger der Stahl jagender Fischer gefällt.
Liest sich kraftvoll?! Nicht alle Verse der „Meeresfrüchte“ sind heute noch unmittelbar erfahrbar, aber viele doch; insofern lohnt sich ein Blick auf Jüngers Gedicht allemal, auch und gerade im Abgleich mit seinen theoretischen Überlegungen.