Der alten Meister Treue
Zu dem, was war, erschafft
In ihrem Spiel das Neue.
Bücher zum Vers (81)
Bernd Füllner / Karin Füllner (Hrsg.): Von Sommerträumen und Wintermärchen.
„Versepen im Vormärz“ lautet der Untertitel dieses Bandes, der 2007 bei Aistesis erschienen ist. Der Titel verweist stark auf Heine, der in der Tat eine wichtige Rolle spielt; aber auch Lenau, Pyrker, Byron, Puschkin, Frankl und Wieland werden von den verschiedenen Verfassern verhandelt.
Mir war Wulf Wülfings Text „Deutschunübertreffliche Gutmüthigkeit“. Zur Rhetorik von Karl Immermanns „Tulifäntchen“ am wertvollsten – es wird der Karriere des kleinen Epos‘ (das hier auch schon beim Verserzähler Erwähnung fand) als erfolgreicher Vortragstext nachgespürt und zu ergründen versucht, welche Eigenschaften ihm diesen Erfolg ermöglichen.
Das geschieht zum Beispiel beim Blick auf diese Verse des Epos, in dem ein „Künstler“ aus dem technisch fortschrittlichen England auftritt:
Und aus richtigem Erwägen,
Welch Unheil ein Weib oft stiftet,
So aus Fleisch und Bein gebaut ward,
Wie viel Ärger das Gesinde
Zeugt, das Mensch ist, gleich der Herrschaft,
Hatt‘ er einen Dampfbedienten
Sich gemacht, und eine Dampffrau,
Die ihm förmlich angetraut war.
Dampfbedienter, Dampfgemahlin
Taten ganz dieselben Dienste
Wie zwei Menschen simplen Schlages.
…
Jener Gentleman sprach denkend
Zu der dampfmaschinenschwangern
Hebel-räderträcht’gen Seele:
Anhand dieser Verse macht Wülfing „Neologismen“ – Dampfbedienten, Dampffrau, Dampfgemahlin – als eine kennzeichnende Eigenschaft des „Tulifäntchens“ aus. Es gibt derer noch mehrere, und es lohnt sich nicht nur darum, einmal selbst in das kleine Epos hineinzuschauen – und es, wenn möglich, einmal vorzulesen!
Dichterkniff
Schlafen willst du, da stürmt auf dich los ein Haufen Geschichten,
Mehr als gewaltigen Schwungs?! Bleib stehen, bis sie ganz nah sind,
Tritt dann zur Seite, jetzt! – und sie stolpern verwunderten Blickes
An dir vorbei; und verschwinden im Nichts.
Erzählformen: Das Distichon (15)
Darf man Verse aus längeren Texten herauslösen und als eigenständige Texte vorstellen?! Hm … Ich mache das gelegentlich; ein Beispiel ist ein Distichon aus Friedrich Hölderlins „Der Wanderer“. Von diesem längeren Gedicht gibt es zwei Fassungen, und in der ersten ist besagtes Distichon noch, na ja, unscheinbar:
Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, ist der Tod.
Ein wenig spannungsarm?! Ein Eindruck, der auch durch den nicht recht unterteilten Hexameter zustande kommt. In der zweiten Fassung hat Hölderlin diese Schwäche behoben!
Nichts zu erzeugen ist ja und nichts zu pflegen in Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wieder zu sehn, wie der Tod.
Wunderbar! Durch das Einfügen des „ist ja“ bekommt der Hexameter eine schöne Zäsur; und das ganze Verspaar eine schöne Spannung durch das Auseinanderstellen des „ist ja … wie der Tod“. Dafür musste das „sorgender“ weichen, aber das ist ohnehin eines dieser Adjektive, die eher schaden als nutzen.
Mit dieser zweiten Fassung gewinnt das Distichon auch eigenständigen Charakter, finde ich; es wird epigrammtauglich. Epigrammtische Distichen sind im allgemeinen klarer, schärfer im Aufbau im Vergleich zu elegischen Distichen – hier ist es das elegische Distichon auch; im zweiten Versuch.
Darum, denke ich, kann es auch für sich stehen, ohne den Bezug auf den restlichen „Wanderer“. Den zu lesen aber trotzdem lohnt – es sind viele wunderbare Verse drin. Die sich herauslösen lassen; auch einzelne Hexameter aus der Distichoneinheit, zum Beispiel.
Unter dem Strauche saß ein ernster Vogel gesanglos
Ein herrlicher Vers auch das!
Erzählverse: Der Hexameter (116)
In „Die Versuche und Hindernisse Karls“, dem in (115) erwähnten Roman, wird nicht nur Johann Heinrich Voß parodiert; Jean Paul erfährt dasselbe Schicksal! Der hat nun mit dem Hexameter nicht viel zu schaffen gehabt; allerdings gibt es in seinem „Schulmeisterlein Wutz“ eine hübsche Stelle, in der immerhin die Rede ist vom Hexameter:
Unter dem Kaffee schnitt er sich, außer den Semmeln, die Federn zur Messiade, die er damals, die drei letzten Gesänge ausgenommen, gar aussang. Seine größte Sorgfalt verwandte er darauf, dass er die epischen Federn falsch schnitt, entweder wie Pfähle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraspalt, der hinausniesete; denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen, die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so musste der Dichter, da er’s durch keine Bemühung zur geringsten Unverständlichkeit bringen konnte – er fassete allemal den Augenblick jede Zeile und jeden Fuß und Pes –, aus Not zum Einfall greifen, dass er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war. Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen ungezwungen vor.
„Den Augenblick“ = „augenblicklich“?! Jedenfalls eine Verfahrensweise, die für die Jetztzeit zu bewahren sich vermutlich lohnen würde …
Was auch immer
Prüf es, und prüf es erneut, und ist das erledigt, dann: prüf es!
Erzählverse: Der Hexameter (115)
Johann Heinrich Voß hatte seine eigenen Vorstellungen vom Hexameter, für die er von vielen bewundert wurde. Einerseits. Andererseits wurde er deswegen auch verspottet!
„Die Versuche und Hindernisse Karls“ ist ein etwas wunderlicher, 1808 erschienener Roman von gleich vier Verfassern – Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, August Ferdinand Bernhardi und Friedrich de la Motte Fouqué -, in dessen 15. Kapitel „Focks“ auftritt, „ein junger Mann; er zeigt ungemein viel Neigung zur Poesie, die er aber sehr komisch äußert“, wie es dort heißt. Focks, lies: Voß soll eine in Versen verfasste Einladung an einen Freund schreiben.
„Gehorsam setzte Focks sich nieder und vollendete nach wenigem Käuen der Feder in wirklich bewundernswürdig kurzer Zeit folgende Verse:
Striezelmeier, im Wald hinrieselet flüchtige Quellflut,
Im Fortlaufe genannt von dem Bauernvolke der Sumpfbach,
Weil ringsum stankhauchend Gesümpf in den Feldern ihn aufnimmt,
…
Die ganze Gesellschaft bewunderte und lobte den äußerst künstlichen Versbau und die Kürze der Zeit, die Focks auf sein Gedicht verwandt.“
Derart schräge Verse schreiben sich nicht „einfach so“; da muss schon Absicht dahinterstecken … Das Gedicht ist, wie die „drei Punkte“ andeuten, länger; aber ich belasse es bei den drei Anfangsversen. Sie machen hinreichend deutlich, wie unglücklich Hexameter nach den vossischen Vorstellungen klingen können, wenn diese im Dienste der Parodie übersteigert und gehäuft werden!
Mit Versen erzählen!? (7)
Auf Youtube findet sich manches. Zum Beispiel: Die Ilias, 1. Gesang (Ausschnitte). Wird diese Lesung dem Urepos schlechthin gerecht? Ich finde, kaum. Im besonderen die wörtliche Rede (ab 0:30) scheint unglaubwürdig – aber warum?! August Wilhelm Schlegel schreibt in „Vom Epos“ über die epische Erzählung:
Sie sucht durch Anschaulichkeit, aber nicht durch Verstärkung und Übertreibung zu wirken, und endlich nimmt sie zwar die Reden der handelnden Personen in sich auf, aber nicht so, dass der Erzähler sich ganz in diese versetzte und sich selbst darüber verlöre, sondern er bildet sie zur Gleichartigkeit mit den übrigen Teilen der Erzählung um.
Der Vortragende aber verstärkt und übertreibt, er versetzt und verliert sich; und zwingt so die epische Sprache in einen Rahmen, in dem sie gänzlich fehl am Platze wirkt, und sogar ein wenig lächerlich.
Erzählverse: Der Hexameter (114)
Über keinen anderen Vers ist so viel geschrieben und gestritten worden wie über den Hexameter. Was auffällt beim Lesen all dieser sekundärenTexte: Die eindeutigen Aussagen, Gewissheiten und Zurückweisungen stammen eher von den Metrikern, den Theoretikern der Dichtungssprache; die Praktiker scheuen vor solchen Festlegungen meist zurück!
Emanuel Geibel zum Beispiel schreibt in einem Brief an Paul Heyse über dessen „metrische Epistel“ (hier beim Verserzähler besprochen in den Hexameter-Einträgen 73 – 77):
„Es lässt sich doch kaum in Abrede stellen, dass am rechten Orte gerade ein gewisses Widerstreben von Wortakzent und Versakzent den Hexameter rhythmisch zu beleben und ihm einen eigentümlichen Reiz zu verleihen vermag.
Aber es / glänzte der / Stein blut- / rot || am / Knaufe des / Schwertes
scheint mir wenigstens ausdrucksvoller als:
Aber / blutrot / glänzte der / Stein || am / Knaufe des / Schwertes
Hier wird es eben schwer sein, allgemein gültige Regeln aufzustellen, wie denn schließlich über jeden einzelnen Fall nur das rhythmische Gefühl des Dichters entscheiden kann.“
Hier redet also ein Dichter einem anderen Dichter gegenüber dem „geschleiften Spondäus“ das Wort – „Stein blut / rot“ -, den man hier wie meistens am besten mit „schwebender Betonung“ liest, also alle drei Silben gleichstark betont; und gleichlang vorgetragen?! Das spannende ist aber das Zurückweisen „allgemein gültiger Regeln“!
Und damit ist Geibel wie gesagt keineswegs allein: Eduard Mörike etwa schrieb an Wilhelm Hartlaub anlässlich der Überarbeitung seines „Märchens vom sichren Mann“, vor der er Johann Heinrich Voss‘ „Zeitmessung der deutschen Sprache“ gelesen hatte:
„Doch sind mir manche Zweifel übrig geblieben, und im Ganzen finde ich: man kommt zuletzt am weitesten, wenn man in allen Fällen sein eigenes Gehör befragt.“
Aber da deucht es ihm Nacht, dickfinstere; wo er umhertappt,
Nirgend ist noch ein Halt und noch kein Nagel geschlagen,
Anzuhängen die Wucht der wundersamen Gedanken,
Welche der Gott ihm erregt in seiner erhabenen Seele;
Vier Verse aus dem „sichren Mann“, die zeigen, Mörike ist in der Tat weit gekommen; und der erste ein schönes Beispiel dafür, was Geibel den „rechten Ort“ nennt für einen geschleiften Spondäus!