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Die Bewegungsschule (43)

Ein dritter und letzter Tagebucheintrag von Friedrich Hebbel, wieder aus dem Februar 1849 (tatsächlich stehen alle drei auf derselben Seite); diesmal aber einer, den man zwar „verversen“ kann, bei dem man aber auf jeden Fall davon Abstand nehmen sollte:

 

Würmer haben keine Löwenschmerzen, Löwen teilen aber Würmerschmerzen.

 

Das lässt sich als ein Paar trochäischer Fünfheber lesen:

Würmer haben keine Löwenschmerzen,
Löwen teilen aber Würmerschmerzen.

– Es klingt aber schrecklich! Was am Zusammenfall der metrischen Einheiten mit den Sinn-, beziehungsweise hier sogar:  der Worteinheiten liegt: jedes „TAM ta“ wird durch ein entsprechend gebautes Wort ausgefüllt, „Würmer“, wen“ …

Würmer / haben / keine / wen- / schmerzen,
wen / teilen / aber / Würmer- / schmerzen.

Ein übles Geleier und nicht zu gebrauchen, es sei denn als abschreckendes Beispiel für die Gefahren, die bei Versen mit trochäischem Metrum auf den unachtsamen Versebastler lauern!

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Die Bewegungsschule (42)

Eine der wunderlicheren Freuden im Leben eines Versebastlers ist es, nichtsahnender Prosasprache, schwupps! ein Verskleid überzuziehen. Zum Beispiel diesem Eintrag aus Friedrich Hebbels Tagebüchern (wieder aus dem Februar 1849):

 

Wenn ein Hund bellt und ein Mensch spricht: ist das eine Konversation?

 

Die erste Hälfte, das sind eindeutig zwei Ioniker:

Wenn ein Hund bellt / und ein Mensch spricht:

„ta ta TAM TAM / ta ta TAM TAM“ – gut, wer möchte, kann die zweite schwere Silbe sicherlich etwas leichter sprechen als die erste, das wäre dann „ta ta TAM TAM / ta ta TAM TAM“; aber dem Inhalt nach sind hier sicher auch zwei reine Ioniker möglich! Was aber macht man mit dem zweiten Teil?! Da sind die Dinge nicht ganz so klar … Ich schlage folgendes vor:

ist das eine / Konversation?

Also wieder ein Ioniker, diesmal aber ein fallender (die beiden anderen waren steigende); und zum Abschluss ein Choriambus: TAM TAM ta ta / TAM ta ta TAM. Das sieht erst einmal gewagt aus – „ist“ und „das“ sind vom Silbengewicht her kaum geeignet, zwei Betonungen zu tragen; und hinter ihnen das „eine“ in die Senkung zu drücken, ist auch eher schlechter Versbau. Aber hier geht es vielleicht doch, weil der Inhalt eine solche Lesung stützt, und wenn man es versuchsweise so spricht, scheint mir: das klingt! Also:

ta ta TAM TAM / ta ta TAM TAM || TAM TAM ta ta / TAM ta ta TAM

Mir gefällt es jedenfalls, und Hebbel wird es mir nachsehen. Hoffe ich …

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Das Ein-Vers-Gedicht (18)

In Friedrich Hebbels Tagebüchern (sehr anregender Lesestoff!) findet sich im Februar 1849 folgender Eintrag:

 

Heute trat ich E. auf den Fuß und bat P. um Verzeihung.

 

Das ist, zum einen, das knappe schriftliche Festhalten eines doppelten Missgeschicks; es ist aber, zum anderen, auch ein Hexameter:

Heute / trat ich / E. auf den / Fuß || und bat / P. um Ver- / zeihung.

X x / X x / X x x / X || x x / X x x / X x

Gänzlich regelmäßig gebaut … Hebbel hat auch viele Distichen geschrieben und ein kürzeres Hexameter-Epos; die Bewegungslinien des Hexameters waren ihm also sicher vertraut! Trotzdem fehlt es Hebbels Satz, als Vers betrachtet! ein wenig an Schwung?! Ich glaube, dafür ist der doppelte Trochäus am Beginn verantwortlich; so was bremst doch immer sehr. Aber gut, so schrecklich entscheidend ist das nicht. Hinzu kommen sicherlich die beiden Abkürzungen „E.“ und „P.“, die zwei der wichtigen Hebungsstellen besetzen, aber zum sinnlichen Gehalt des Verses nichts beitragen!

Ein seltsamer kleiner Reim ist drin, „trat / bat“, in der Hexameter-Bewegung einmal Hebung und einmal Senkung; so wird er nicht ganz so stark hörbar, was eigentlich gut sein müsste?!

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Erzählverse: Der Blankvers (65)

Es gibt unendlich viele völlig zurecht vergessene Gedichte, jedenfalls, wenn es ums ganze Werk geht; an einzelnen Stellen kann auch das schlechteste Gedicht etwas zu bieten haben, das aufhorchen lässt. Ein Beispiel ist „Der homerische Esel“ von Heinrich Joseph von Collin:

 

Wie laut Homeros oft den Esel rühmt,
Den nun die Welt nur mit Verachtung nennt.
Ich wag’s und preis‘ ihn auch, ein edles Tier!
Nur in der Knechtschaft wird er dumm und träge,
Was selbst der hohen Menschheit widerfährt;
Doch frei hüpft er, wie mutig, Wälder durch –
Er hat Gemüt, ist melancholisch worden.

 

Ja. Nichts besonderes, aber im vorletzten Vers hat Collin, zum Inhalt passend, eine versetzte Betonung im Versinnern:

Doch frei / hüpft er, / wie mu– / tig, Wäl– / der durch

Versetzte Betonungen im Versinnern gibt es beim Blankvers selten, und wenn, dann nach einem Sinneinschnitt, so dass die entstehende Sprechpause das Aufeinandertreffen der beiden betonten Silben abmildert. Hier stehen sie „einfach so“ nebeneinander, was aber gut zum „frei“ und zum „Hüpfen“ passt!

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Erzählverse: Der Blankvers (64)

Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das literarische Deutschland erbittert darum stritt, auf welche Weise die Epen Homers ins Deutsche übertragen werden sollten, stand Gottfried August Bürger zuerst auf Seiten derer, die eine Übersetzung in fünfhebige reimlose Iamben bevorzugten; Blankverse also! Der Hexameter, das Versmaß Homers, schien zu fremd, iambische Verse dagegen galten als das deutsche Gegenstück des Hexameters; als das dem Deutschen eigene epische Maß. Bürger, als Dichter von einiger Befähigung, machte sich sogleich daran, Proben einer solchen Verdeutschung anzufertigen. Der Beginn des dritten Gesangs der Ilias:

 

Als jeglich Heer, samt seinen Obersten,
Geordnet war, zog mit Gekreisch und Lärm,
Den Vögeln gleich, der Troer Schar einher.
So lärmet durch die Luft ein Kranichflug,
Von Schlackerwetter und Dezemberfrost
verscheucht, und lärmet übern Wogenstrom
Des dunklen Ozeans dahin und bringt
Herab von oben den Pygmäen Mord
Und Untergang durch schwere Fehd‘ im Land.
Doch die Achäer rückten schnell heran,
Mutschnaubend, und gefasst in ihrem Sinn,
Für einen Mann zu stehn. Wie wenn der Süd
Die Wipfel des Gebirgs in Nebel hüllt,
Verhasst dem Hirten, aber günstiger
Dem Dieb als Mitternacht; denn rings umher
Kann Steinwurfweite kaum das Aug erschaun;
So stieg, von ihrem Fußtritt aufgewühlt,
Der Staub in Wirbelwolken in die Luft;
Denn rasch durchwandelten sie das Gefild.

 

– Das liest sich gut?! Und auch über eine längere Strecke würde wahrscheinlich keine Langeweile, keine Gewöhnung aufkommen, denn Bürger sorgt innerhalb seiner Verse für viel Abwechslung in Bezug auf die Bewegungslinien; wobei sogar alle Verse „männlich“ enden und die dem Blankvers offenstehende Möglichkeit, auch „weibliche“ Versenden zu verwenden, gar nicht in Anspruch genommen wird!

Trotzdem ging damals der Hexameter als Gewinner aus dem Wettstreit hervor; vor allem die Übersetzung von Johann Heinrich Voss verdrängte bald alle anderen Versuche.

 

Aber nachdem sich geordnet ein jegliches Volk mit den Führern,
Zogen die Troer in Lärm und Geschrei einher, wie die Vögel;

 

Ohne die Frage „Welche Fassung ist besser?“ stellen oder gar beantworten zu wollen: Was für ein Unterschied! Und der rührt fast ausschließlich von den verwendeten Versmaßen her … Ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig die Entscheidung für dieses oder jenes Maß am Anfang der Text-Planung ist.

(„Schlackerwetter“, sagt duden.de, ist „Wetter mit viel Schlackerschnee“; „Schlackerschnee“ wiederum sei „nasser, im Tauen begriffener Schnee“. Soll mal einer sagen, epische Texte vergrößerten nicht den Wortschatz …)

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Erzählverse: Der Hexameter (110)

Der Hexameter ist ein epischer, ein erzählender Vers. Worüber aber erzählt man mit ihm im 21. Jahrhundert? Über Helden und Heldentaten der Jetztzeit?! Das wäre nicht einfach, wie schon vor über 200 Jahren Daniel Jenisch erfahren musste, der 1794 mit „Borusssias“ ein Hexameter-Epos über den siebenjährigen Krieg und den erst wenige Jahre zuvor verstorbenen Friedrich den Großen vorlegte; die unmittelbare Nähe zur Zeitgeschichte hielt man durchaus für bedenklich! Jenisch hatte also einige Schwierigkeiten zu überwinden; aber da seine dichterische Kraft für so ein Riesenprojekt ohnehin nicht reichte, war das ganze eine ziemliche Pleite. Im Epilog schreibt er:

 

Kleinlich und tandverwöhnt ist Herrmanns Volk! Und dennoch
Sangst du, mein Geist, nicht kleinlich den Kleinlichen? Wagtest, o Kühner!
Unermuntert und unbelohnt, ein einsamer Verlassner,
Ihn zu wandeln, den Weg der unsterblichen Alten? Du wagtest
Tugend zu singen und Weisheit? Du wagtest, die Blumen des Tandes
Zu verschmähen? Du hast’s gewagt; – Es richten die Musen!

 

Tja. Wer heute „den Weg der unsterblichen Alten wandelt“, sprich: Hexameter-Epen schreibt, könnte sich durchaus auch „unermuntert und unbelohnt“ finden – jedenfalls, solange er nicht bessere Verse abliefert als Jenisch. Und eine weniger hohe Meinung von sich zu haben, schadet sicher auch nichts! „Gerichtet“ haben jedenfalls nicht nur die Musen, sondern auch Friedrich Schiller in einem Distichon:

 

Borussias

Sieben Jahre nur währte der Krieg, von welchem du singest?
Sieben Jahrhunderte, Freund, währt mir dein Heldengedicht.

 

Was Schiller allerdings nicht daran gehindert hat, Teile des Epos zu veröffentlichen. Aber das sind die, in denen  Ewald von Kleist seinen Auftritt hat, ein wirklicher Dichter, der als Offizier im siebenjährigen Krieg starb – und so zu einer Rolle in Jenischs Epos kam …

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Die Bewegungsschule (41)

Irgendwo im Hinterkopf gibt es Bereiche, in denen sich Gedanken lange heimlich herumtreiben, ehe sie irgendwann doch einmal an die Stirn klopfen. Bei mir tat das eben einer, der, wie es scheint, noch mit dem vorletzten Eintrag der Bewegungsschule zusammenhängt:

Wenn sich Sinneinheiten / Wortfüße der Form „ta TAM ta“ – Amphibrachen – leicht und unaufgefordert im Vers einfinden und wenn das auch mit der großen Menge der „TAM ta“-Wörter im Deutschen zu tun hat; heißt das dann nicht, dass eine kleine Anzahl von „TAM ta“-Wörtern ein Zeichen für eine bewusste Hexameter-Gestaltung ist, weil durch die Vermeidung von zu vielen Amphibrachen ein Grundmerkmal des Hexameters, die Abwechslung (hier: die der Wortfüße) überhaupt erst möglich wird?!

Eine Annahme, bei der es gleich an mehreren Stellen im Gebälk knirscht, aber man kann ja mal schauen … Goethes Versepen weisen, so heißt es allgemein, eine unterschiedliche Strenge in der Versbehandlung auf; „Reineke Fuchs“ pflegt einen sehr nachlässigen, weiträumigen Hexameter, „Hermann und Dorothea“ weist bewusster gebaute Hexameter auf, und die Achilleis ist, dem Gegenstand entsprechend, sehr klassisch-streng mit ihren Hexametern.

Ich habe schnell die jeweils ersten dreißig  Verse dieser (und aller folgenden) Werke angeschaut und die „TAM ta“-Wörter ausgezählt, unter Ausschluss von „TAM TAM“-Wörtern wie „Blitzstrahl“.

Goethe, Reineke Fuchs: 93 / 3,10
Goethe, Hermann und Dorothea: 85 / 2,83
Goethe, Achilleis: 61 / 2,03

Mit Verfasser, Werk: Zahl „TAM ta“ insgesamt / Zahl „TAM ta“ je Vers. Na, das entspricht doch schon ganz gut der Vermutung?! Einen Schritt weiter gedacht müssten dann die Verfasser, die ihre Hexameter sehr bewusst „gebaut“ haben, vergleichsweise wenig „TAM ta“-Wörter haben. Die üblichen Verdächtigen sind da Platen und Voss; und siehe da:

Goethe, Reineke Fuchs: 93 / 3,10
Goethe, Hermann und Dorothea: 85 / 2,83
Goethe, Achilleis: 61 / 2,03
Voss, Orientalische Idylle: 58 / 1,93
Voss, Luise: 54 / 1,80
Platen, Amalfi: 52 / 1,73
Platen, Die Fischer auf Capri: 45 / 1,50

Passt auch … Also frisch weiter vermutet: Hölderlins Hexameter sind sehr ausgeglichen, da ist ein Mittelwert zu erwarten; ebenso Mörikes. Goethes andere Hexameterwerke – Episteln, Lehrgedichte – sollten gleichfalls in der Mitte liegen.

Goethe, Reineke Fuchs: 93 / 3,10
Goethe, Hermann und Dorothea: 85 / 2,83
Goethe, Erste Epistel: 78 / 2,60
Goethe, Metamorphose der Tiere: 76 / 2,53
Mörike, Idylle vom Bodensee: 76 /2,53
Hölderlin, Archipelagus: 73 / 2,43
Hölderlin, An den Äther: 70 / 2,33
Goethe, Achilleis: 61 / 2,03
Mörike, Sichrer Mann: 58 / 1,93
Voss, Orientalische Idylle: 58 / 1,93
Voss, Luise: 54 / 1,80
Platen, Amalfi: 52 / 1,73
Platen, Die Fischer auf Capri: 45 / 1,50

Huch! Stimmt auch, nur bei Mörike lag die Vermutung daneben; jedenfalls beim „Märchen vom sichren Mann“! Was nichts heißen muss, da alle diese Werte auf wenig zuverlässige Art zustande gekommen sind – alleine die viel zu kleine Anzahl von 30 betrachteten Versen sollte bedenklich stimmen, mitternächtliche Schnellzählfehler gar nicht erwähnt … Trotzdem: Da ist mal wieder ein genauerer Blick auf den „Sichren Mann“ fällig; was angesichts der Güte seiner Hexameter aber ohnehin immer lohnt!

(Bleibt eine letzte Vermutung: die nach der „TAM ta“-Dichte der eigenen Hexameter. Näher bei Voss, wahrscheinlich?! Nun bin ich nicht so übermütig, mich in dieselbe Tabelle einzusortieren wie Goethe und Hölderlin; aber hier, in der Schluss-Klammer, sei es mir nachgesehen … Wasser entstürzt den Wolken: 55 / 1,83. Passt!)