Erzählverse: Der trochäische Vierheber (42)
„Bernal Diaz del Castillo“ ist der Titel eines Gedichts von Albert Ehrenstein; es ist aber auch der Name eines Menschen, der wirklich gelebt hat, eines spanischen Konquistadors, der bei der Eroberung Mexikos durch Cortes dabei war und später darüber auch geschrieben hat.
Allerdings starb er, für damalige Verhältnisse hochbetagt, im Alter von neunzig Jahren; da gehen Ehrensteins Verse einen anderen Weg – oder doch nicht?
Ganz gewiss andere, expressionistischere Wege jedenfalls als die trochäischen Vierheber, sagen wir, Goethes oder Mörikes!
Bernal Diaz del Castillo
Abschied nahm vom lieben Leben.
Seiner Haare rote Wolke
Schrillt im Wind, dem irren, unter
Der Gewitter Wolkenwust.
Seine Stimme schnaubt im Sturm:
„Spielte gern mit Stern und Tier.
Ackersmann war ich einst Fluren –
Wurde satt der Saatkartoffel.
Mutter Gottes starb zum Himmel,
Lebend traf ich nur Urhuren;
Ihnen hielt ich Hahnentreue.
Als sie mir das Herz zerstampften,
Würgte ich die bittre Venus.
Morgenblüte, Frühlingsvogel
Schandet mit dem Strand, dem andern.
Hier ward ich den Negerkindern
Donnerbart, der Gott des Landes.
Doch auch hier auf meinen Spuren
Weißer Hund: der Mönche Herden,
Höllenhelden, Menschenfänger.
Brät mein Neger sie im Dickicht,
Neue heulen von den Schiffen,
Jagen Sklaven, quälen Seelen:
Zauberwelt stürzt ein, vernichtet.
Kraft der heilig hohen Sonne –
Blend die Teufel, jäher Strahl!
Sieh: ich richte mich mit letztem
Feuer. Brennend krachen meine
Burgen in Stroms Wasserwildnis.
Meine Seele weiß ihr Böses,
Strafe traf das Fleisch, ich knecht es,
Lernt, im Frühling einsam sein.
Aber müd bin ich der Hütte
Meiner Trauer, müde all der
Felsen, Wälder, Nahrungsfelder.
Länder ihr mit euren Flüssen,
Städte, Wiesen, Berg und Tal – euch
Grüße ich zum letzten Mal.
Armes Ich, wo gehst du hin?
Eh ich alt und krank und blind am
Stabe wank und sink, hilf mir, o
Klippenweg aus deinen Meeren
Ewigkeit!“ Der Ritter Bernal
Diaz del Castillo ließ sich
Eine Kugel durch den Kopf gehn.
– Da kann man über eine Menge nachdenken, bezogen auf die Gestaltung; zum Beispiel über die seltsamen Reime im vorletzten Abschnitt! Aber auch anderes ist einen genaueren Blick wert – Zeilensprünge, versetzte Betonungen, „falsche Anschlüsse“ … All das trägt zur Wirkung bei, die ja unzweifelhaft da ist!?
(Entnommen habe ich das Gedicht der 1997 im Klaus Boer Verlag erschienenen und von Hanni Mittelmann herausgegebenen, schönen Ausgabe der Werke Ehrensteins; im Band 4/I findet es sich auf den Seiten 242 und 243.)
Frage und Antwort
Wie lange dauert’s, ein Sonett zu machen?
Fragt einer, der noch keine Verse schreibt.
Das hängt von vielen Dingen ab und bleibt
Dem Dichter überlassen – welche Sachen
Besingt er? Manche, wie des Donners Krachen,
Sind gleich gebannt, doch wahre Liebe treibt
Den Schweiß ihm auf die Stirn, und müde reibt
Er sich die Schläfen, wird die Nacht durchwachen …
Und wenn man schätzt – wie ist der Durchschnittswert?
Fragt der Noch-Nicht-Verfasser von Gedichten.
Das lässt sich, ich erklärte es, im Grunde
Nicht sagen, doch ist’s sicher nicht verkehrt,
Mal sehn, für die beschwerlichen und schlichten …
Im Durchschnitt, nun: so eine halbe Stunde.
Erzählformen: Das Madrigal (17)
Anfang diesen Jahres hat der zumindest da, wo WDR geschaut und gehört wird, „aus Film, Funk und Fernsehen bekannte“ Fritz Eckenga einen über 400 Seiten starken Gedichband veröffentlicht im Verlag Antje Kunstmann. „Mit mir im Reimen“ heißt er, und dementsprechend wird in ihm eigentlich ständig und überall und ohne Pause: gereimt. Eigentlich!
Der Christ isst
Zur Weihnacht brat ich Gans.
Ostern brat ich Lamm.
Zu Pfingsten wiegt mein Braten
mal grad zweihundert Gramm.
Pfingsten brat ich lediglich,
denn das befiehlt mein Glaube,
Taube.
Ein Gedicht, zu finden auf Seite 107, „passend zur Jahreszeit“ … Mit Reimen ist es sparsam, gerade einmal vier der sieben Verse werden durch Gleichklänge verbunden. Auch die Verslänge ist nicht fest, mal steht Auftakt, mal fehlt er; aber das macht nichts, es ist trotzdem alles an seinem Platz. Und weil „Madrigal“ eine große und geräumige Schublade ist, in die manches nicht ganz so regelmäßige hineinpasst: findet auch das Gedicht einen Platz in der Ordnung der lyrischen Dinge?!
Wer mag, kann den Verfasser lesen hören und sehen: Fritz Eckenga. Das mittlere der drei vorgetragenen Gedichte gefällt mir am besten.
Erzählverse: Der Hexameter (100)
V. W. Neubecks „Die Gesundbrunnen“ waren zu ihrer Zeit ein geachtetes Werk. O. L. B. Wolf schreibt im 5. Band der „Encyklopädie der deutschen Nationalliteratur“:
Neubecks vorzüglichstes Werk ist sein didaktisch-deskriptives Gedicht „Die Gesundbrunnen“; es besitzt namentlich in Hinsicht auf den Reichtum der Gedanken, die trefflichen poetischen Schilderungen und die hohe Korrektheit der Sprache und Form wahrhaft klassischen Wert; nur tritt das lyrische Element mitunter zu beherrschend vor und stört, nach strengen Anforderungen, die Ruhe, welche das Lehrgedicht haben soll.
Da ist etwas dran … Anfang des vierten Gesangs zum Beispiel erklärt Neubeck, wann die beste Zeit für eine Kur gekommen ist; dabei verliert er ein wenig die Beherrschung über das „lyrische Element“:
Wann der feuchtende Frühling entflieht, und der heitere Sommer
Nun das schwellende Jahr mit strahlendem Zepter beherrschet:
Dann, ihr Siechen, enteilt, enteilt der verpesteten Stadtluft,
Eilt auf stäubenden Rädern den Berg hinan, und hinunter
Wieder zum Tal, hindurch den Wald zum reizenden Tempe,
Wo die Nymphe des Quells euch zuruft frohes Willkommen.
Horch! So tönt ihr Gesang zum Empfang aus dämmernder Mooskluft:
Kommt, ihr Geweihten der Qual! Ihr Opfer der blassen Morbona!
Seid mir willkommen im Tal! Für Liebeskummer und Mühsal
Quillt Vergessenheit hier; hier blühn hesperische Gärten;
Kein blauschuppiger Drache bewacht sie; hier ist das Eiland
Heiterer Ruh, wo jeder in sorgenzerstreuender Muße
Selige Tage verlebt; hier säuselt ein grünendes Daphne,
Lächelt ein duftendes Enna, bewässert mäandrischer Bäche
Silber ein tempisches Tal: ein Idyllenleben zu führen
Winkt ein Arkadien hier, wo jeder Jüngling ein Hirt ist,
Schäferin jegliches Mädchen; wo Grazien Tänze beginnen;
Ja, wo selber die Musen des Pindus goldenes Haintal
Wiederfinden, und oft dem entzogenen Waller erscheinen,
Wann er einsam im Dunkel entlegener Schatten verweilet.
Naht euch ohne Verzug, ihr Heilungssuchenden, naht euch
Meinem Gebiet! Hier wird in der Kühle des luftigen Haines
Euch unsichtbar begegnen die lebensfrohe Genesung,
Euch mit dem Nelkenodem umwehen auf einsamen Pfaden,
Euch erquicken im süßen, balsamischen Schlummer, und huldvoll
Nach vollendeter Heilung zurück in die Heimat begleiten.
Man kann sich das kürzer vorstellen. Doch! Aber trotzdem: Unter der antiken Verbrämung sind Verse am Werk, die zu lesen Spaß macht und die für vieles entschädigen; auch heute noch. Ich bitte die Probe zu machen, selbstredend mithilfe des wirklichen, des gesprochenen Vortrags!
Dabei sind die Verse nicht ohne Schwächen: Die Art zum Beispiel, wie in den ersten beiden Versen jedes Dingwort mit einem Wiewort versehen wird, wirkt handwerklich doch ein wenig unbedarft; und Gleichklänge wie „-sang“ „-pfang“, oder der „Zäsurreim“ der beiden folgenden Verse, „Qual“, „Tal“; derlei trägt eher nicht zum guten Gesamteindruck bei?!
Erzählverse: Der Hexameter (99)
Das Hinterzimmer des Verserzählers hat sich wieder einmal gefüllt: Die Gesundbrunnen von Valerius Wilhelm Neubeck sind jetzt dort zu finden, alle vier Gesänge; und auch eine Rezension und eine Einschätzung von Neubecks Hexameter!
Vieles wird daher schon auf den entsprechenden Seiten geklärt; da bleibt hier der Raum, auf Neubecks Hexameter einzugehen. Oder anders gesagt und gefragt: Wie sieht Neubecks „hexametrischer Fingerabdruck“ aus?! Drei Verse aus der Mitte des ersten Gesangs geben da Auskunft!
Siebenfältige Nacht umlagert des tobenden Hades
Eisernes Flügeltor. Erdbeben erschüttern die Länder,
Wann ein Donnersturm die Riegel zersprengt, und es aufkracht.
Ein wichtiges Erkennungsmerkmal ist der Umgang mit Wörtern wie „Flügeltor“ oder „Donnersturm“: Baut sie der Verfasser als „X x X“ in seinen Vers ein oder als „X x x“?
Sieben- / fältige / Nacht || um- / lagert des / tobenden / Hades
Eisernes / Flügel- / tor. || Erd- / beben er- / schüttern die / Länder,
Wann ein / Donner- / sturm || die / Riegel zer- / sprengt, und es / aufkracht.
Eindeutig „X x X“! Eine zweite immer deutlich hörbare Entscheidung: Verwendet der Verfasser „geschleifte Spondeen“?! Neubeck tut es – “ tor. || Erd- / be-“ ist einer, aber kein beliebig gesetzter, sondern einer, der in Bezug auf den Inhalt auch Wirkung tut! Womit die dritte Frage schon beantwortet wäre: Lässt der Verfasser ein Zusammenspiel zwischen Form und Inhalt zu oder nicht? Als vierte Frage stellt sich die nach den zweisilbigen Versfüßen. Lässt der Verfasser Trochäen zu anstelle der (antiken) Spondeen, und wen ja: welche?! Neubeck nutzt sie, wählt aber immer eine wirklich schwere betonte Silbe; „Wann ein“ ist der leichteste Trochäus hier! Die zweisilbigen Senkungen sind, wie bei achtsamen Hexametristen üblich, durchweg mit sehr leichten Silben gefüllt.
Alles in allem also: Ein Voss-Nachfolger, der seinen Vers an der antikisierenden Versvorstellung von Voss ausrichtet, ihn aber nicht blind nachahmt. Daher hier die drei Verse noch einmal in der „Lang-Kurz-Schrift“:
— v / — v v / — || v / — v v / — v v / — v
— v v / — v / — || — / — v v / — v v / — v
— v / — v / — || v / — v v / — v v / — —
Die klare Vorstellung des Verfassers bezüglich der Wirkung der Versbewegung ist auch gut aus dem „Ionikus a minore“ am Ende des dritten Verses zu erkennen – eine Sinneinheit wie „und es aufkracht“, „v v — —“ stellt sich eher nicht zufällig ein; darauf schreibt man hin.
Lasst euch meinen Gesang der Geheimnisse größtes enthüllen
– Ein anderer Vers aus „Die Gesundbrunnen“. Das in diesem Eintrag enthüllte „Geheimnis“ ist sicher ein eher kleines; aber ein erster Eindruck von Neubecks Vers ist so doch zustandegekommen?!
Bücher zum Vers (70)
Kurt R. Jankowsky:
Die Versauffassung bei Gerald Manley Hopkins, den Imaginisten und T. S. Eliot
Ein „Blick über den Zaun“ hin zur englischen Dichtung; ich fand ihn besonders lohnenswert wegen dem, was in Jankowskys Buch über Hopkins zu lesen ist, der ja eine ganz eigene Auffassung von metrischen Dingen hatte; und über dessen „sprung rhythm“ nachzudenken allemal lohnend ist! Ein Beispiel für dessen Wirkung ist das bekannte „gestutzte Sonett“ „Pied Beauty“:
Glory be to God for dappled things –
For skies of couple-colour as a brinded cow;
For rose-moles all in stipple upon trout that swim;
Fresh-firecoal chestnut-falls; finches’ wings;
Landscape plotted and pieced – fold, fallow, and plough;
And áll trádes, their gear and tackle and trim.
All things counter, original, spare, strange;
Whatever is fickle, freckled (who knows how?)
With swift, slow; sweet, sour; adazzle, dim;
He fathers-forth whose beauty is past change:
Praise him.
– Wer mag, kann sich im Netz umhören nach gesprochenen Fassungen. Es gibt einige; und auf die Unterschiede im Vortrag zu achten ist gerade bei diesem Text aufschlussreich, finde ich.
Der „Nicht-Hopkins-Teil“ von Jankowskys Buch ist selbstredend auch lesenswert – insgesamt schon ein brauchbarer Band! Erschienen ist er 1967 bei Hueber.
Das Königreich von Sede (68)
Das Stadttor ist verschlossen;
Prinz Klappstuhl steht davor.
Er hat des Weins genossen
Manch Glas voll, und verlor
Dabei sein Zeitgefühl …
Die Nacht ist still und kühl:
Er klappert mit den Zähnen
Und träumt vom warmen Pfühl.