Der sapphische Elfsilber (1)
Der „sapphische Vers“ taucht dreimal in der sapphischen Oden-Strophe auf. In der deutschen Nachbildung dieser Strophe wird der Vers zumeist so wiedergegeben:
X x / X x / X x x / X x / X x
– Also mehr oder weniger ein fünfhebiger Trochäus, der im dritten Fuß durch eine zusätzliche unbetonte Silbe aufgelockert wird. Versucht man selbst, diesen Vers zu schreiben, stellt man schnell fest: Es fällt schwer, den Vers zum Klingen zu bringen – oft bleibt er matt und weist keine Spannung auf, er lebt nicht und atmet nicht.
„Die sapphische gilt im Deutschen, mit Recht, als die schwierigste unter den antiken Strophen. Es ist nicht leicht, die drei gleichgebauten sapphischen Elfsilber als rhythmische Gestalt so auszuprägen, dass sie erkennbar werden, das heißt vom fünfhebigen Trochäus deutlich geschieden, und dass, zum anderen, Monotonie vermieden wird.“
So Harald Hartung zur sapphischen Strophe und zum sapphischen Vers anlässlich eines Textes über Georg Britting.
Andere Urteile klingen ähnlich:
„Wechselnde syntaktische Einschnitte müssen einer Monotonie der gleichlautenden Elfsilber entgegenwirken.“ – Horst Joachim Frank im „Handbuch der deutschen Strophenformen“ (S. 266).
Wie aber lässt sich diese Scheidung erreichen, wie die Monotonie vermeiden? Da hilft am ehesten der Blick auf die Beispiele der guten Odendichter. Ich möchte hier nur eine Möglichkeit vorstellen, den Rückgriff auf die Form des sapphischen Elfsilbers, wie sie von Horaz in seinen (lateinischen) Oden verwendet wurde. Da dabei auch das Silbengewicht eine Rolle spielt, stelle ich den Vers so dar, wie ich Verse hier in der „Bewegungsschule“ darstelle:
TAM ta TAM TAM TAM || ta ta TAM ta TAM ta
Zur Erinnerung: „TAM“ = „schwere“ Silbe“ (langer Vokal, konsonantenreich, Sinnsilbe) mit Hauptbetonung; „TAM“ = „schwere Silbe“ mit Nebenbetonung; „ta“ = „leichte Silbe“ (kurzer Vokal, konsonantenarm, keine Sinnsilbe); || = Zäsur.
Als letzte Silbe kann auch ein „TAM“ stehen anstelle des „ta“; dann sieht der Vers so aus:
TAM ta TAM TAM TAM || ta ta TAM ta TAM TAM
Gelingt es, diese Bewegung im deutschen Vers nachzubilden, sind beide oben genannten Schwierigkeiten beseitigt:
– Statt „Monotonie“ herrscht Abwechslung, da die zweite Vershälfte sich völlig anders bewegt als die erste.
– Die Unterscheidung vom „fallenden“ trochäischen Fünfheber gelingt gut, da die zweite Vershälfte „steigt“, gut hörbar durch die zwei leichten Silben zu Beginn. Welche eigenartige Kraft diese Bewegung hat, zeigen die letzten beiden Strophen von Johann Heinrich Voß‘ „Die erneute Menschheit“:
Bald, wie Glut fortglimmt in der Asch‘, am Windhauch
Fünkchen hellt, rot wird und in Feuerflammen
Licht und Wärm‘ ausgießt: so erhub der Menschheit
Schlummernder Geist sich,
Lebensfroh! Hin sank die verjährte Fessel,
Sank der Bannaltar und die Burg des Zwingherrn;
Rege Kraft, Schönheit und des Volks Gemeinsinn
Blühten mit Heil auf!
Zugegeben: Da setzt Voss auch noch manch anderes Mittel ein, zum Beispiel seine berüchtigten „geschleiften Spondeen“; aber trotzdem sind die jeweils ersten drei Verse jeder Strophe beeindruckend, auch wegen der streng beachteten Zäsur nach der fünften Silbe!
Allerdings ist diese „Horaz-Form“ des sapphischen Elfhebers im Deutschen nicht durchgängig machbar. „Eigentlich ist die Strophe im Deutschen nicht nachahmbar“, schreibt zum Beispiel Josef Weinheber (im vierten Band seiner „sämtlichen Werke“, Müller 1954, auf Seite 245); immer mal wieder hat er trotzdem zumindestens einzelne Verse an dieses Muster angelehnt:
Tot ist alles Buch und das Wort der Schriften.
Und die Fracht ward leicht, ihr beschwingten, zarten
stillen Vögel, die ihr heraufzieht über
purpurne Meerflut
– Das ist die erste Strophe einer sapphischen Ode, die sich im zweiten Band der „sämtlichen Werke“ auf Seite 12 findet. In den ersten beiden Versen hat Weinheber die Zäsur nach der fünften Silbe von Horaz übernommen, und das leistet schon viel! Der dritte Vers gliedert sich anders; und in allen drei Versen verzichtet Weinheber darauf, die vierte Silbe bemerkbar „schwer“ zu gestalten!
Weinheber hat im 20. Jahrhundert sicher die besten sapphischen Strophen geschrieben; will man die Form selbst versuchen, geht an diesen Gedichten kein Weg vorbei! Aber auch seine Auffassung von der Strophe ist nur eine unter vielen. Ein anderer Dichter des 20. Jahrhunderts, dessen sapphische Oden einen genaueren Blick wert sind, ist Rudolf Alexander Schröder; er hat in allen seinen sapphischen Elfsilbern kein einziges Mal die Zäsur hinter der fünften Silbe! Der Gleichförmigkeit tritt er durch eine abwechslungsreiche Untergliederung der Verse entgegen, mit am deutlichsten in dieser Strophe (R. A. Schröder, Gesammelte Werke, Band 1, Suhrkamp 1952, S. 56):
„Schläfst du, Freund? Ich weiß es, du wachst, ich weiß es,
Weiß, kein Schlaf, kein Wachen vergnügt uns beide,
Eines nur, dies einzige: Mund auf Munde,
Herz über Herzen“
– „Auf Munde“, über Herzen“, wohl statt „auf dem Munde“, „über dem Herzen“? Klingt leicht wunderlich, aber das ist Absicht, kein Unvermögen in diesem Fall … Jedenfalls: Von Gleichförmigkeit nichts zu vernehmen!
Man merkt: Dieser Vers ist wirklich nicht einfach zu schreiben. Aber die Mühe, sich hineinzufinden, lohnt sich … Die sapphische Strophe habe „erhabenen, wehmütigen oder leidenschaftlichen Empfindungen eine gemessene dichterische Form zu geben vermocht“, schreibt Frank in Fortführung des Zitas vom Anfang dieses Eintrags; Weinheber ergänzt seine obigen Anführungen um: „Zur Charakteristik der sapphischen Strophe möchte ich anführen, dass sie sich wegen ihrer Vorliebe zur Synaphie, das heißt zur Verschleifung einer Zeile in die andere, insbesondere durch Wortbrechung, besonders eignet zur Darstellung des großen rhythmischen Satzes, wie überhaupt dieser Strophe etwas Erhabenes, Priesterliches und Heldisches gegeben ist.“
– „Erhaben“ also, nach Meinung der Kundigen. Gut denn!