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Bücher zum Vers (42)

David Denby: Große Bücher.

Eines der (zu) vielen „Bücher über Bücher“, auf Deutsch 2001 bei Goldmann erschienen. Denby schildert, wie er 30 Jahre nach seinem Studium noch einmal an die Universität geht und in den entsprechenden Veranstaltungen zusammen mit jungen Studenten die „großen Bücher“ liest; und er vergleicht seine Gefühle, Erkenntnisse und Erfahrungen mit denen, die er als junger Mensch hatte, und auch mit denen seiner jetzigen Mitstudenten.

Das ist gar nicht mal uninteressant; aber ein „Buch zum Vers“ ist es sicherlich nicht! Dafür aber, in manchen Kapiteln, ein „Buch zur Verserzählung“, denn es werden einige epische Vers-Texte besprochen. Homer bekommt sogar zwei Kapitel – eins für die Ilias, eins für die Odyssee -, Vergil und seine Aeneis füllen auch ein Kapitel; und schließlich Dante mit der Göttlichen Komödie, dem Inferno. Man erfährt zu allen Texten durchaus bedenkenswerte Dinge; ich gebe aber ein kurzes Stück aus dem Dante-Kapitel, es findet sich auf den Seiten 242 und 243:

„Eine von Shapiros Studentinnen, Francesca, eine große jungen Frau mit vollen, rosigen Lippen und wirren Locken, sprach so gut Englisch, mit einem so geringfügigen Akzent, dass ich sie kaum als Italienerin erkannt hätte. In der Abschluss-Stunde des Seminars bat sie der Professor, die einleitenden Zeilen des Inferno zu lesen, und als sie die ersten dreißig Zeilen des Canto I las, war es mucksmäuschenstill im Raum. (…) Francesca las ohne große Betonung. Sie las mit leiser, fester Stimme, leiser und flacher als ihre normale Sprechstimme, aber der Klang war unheimlich: Es war wie eine hinreißende Melodie auf einer Viola, wobei die Musik mühelos aus den ruhigen, tiefen Tönen aufstieg. Nein, das kann nicht passieren. Es kann nicht sein – dieser Moment ist zu vollkommen. Aber es passierte tatsächlich; die Studenten waren ganz still, und als sie, die Augen auf das Buch gerichtet, las, wurde ihr Sopran höher und immer höher, und die Musik von Dantes Italienisch strömte mühelos in den Raum. “

Das kann man jetzt ein klein wenig übertrieben finden in der Darstellung; aber ich nehme es als willkommene Erinnerung daran, dass Verstexte, epische oder welche auch immer, auf den Vortrag angewiesen sind; auf das laute Lesen.

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Erzählverse: Der Hexameter (61)

Justus Friedrich Wilhelm Zachariä: „Murner in der Hölle“ (4)

Anfang des vierten Gesangs kehrt Murner in die Unterwelt zurück:

 

Charon sah den Schatten des Katers dem Flusse sich nahen.
Weil er wusste, sein Leichnam sei zur Erde bestattet,
Rückt‘ er den Kahn ans Ufer und nahm den Murner ins Schiff ein.
Rauschend eilte der Kahn von selbst zum Ufer hinüber,
Wo an den Pforten des Orkus der grausame Cerberus wachte,
Als die Katze den Höllenhund sah, der seine drei Rachen
Fürchterlich aufriss und bellte: da fuhr sie erschrocken zurücke,
Krümmte den Buckel und schnaubte, dass selbst der finstere Charon!
Seine Runzeln zum Lächeln verzog. Doch setzt‘ er sie endlich
An das Ufer des Tartarus aus. Sie schlüpfte verstohlen
Bei dem Höllenhunde vorbei, und kam durch die Höhle
Zu den Gestaden des flammenden Phlegetons, welcher lautbrausend
Über die schallenden Felsen die feurigen Wogen verfolgte.

 

Hier trifft Murner zufällig Aletko. Die Furie, die weiß, dass sie dem Kater einen größeren Gefallen schuldet, lotst ihn an allen Unannehmlichkeiten der Unterwelt vorbei geradewegs dorthin, „wo die glücklichen Tiere wandeln“:

 

Durch die blühenden Auen ergießt in gleißenden Wellen
Lethe den schlängelnden Strom. Hier trinken mit durstigen Zügen
Alle Tiere Vergessenheit ein, und ihre Naturen
Werden hier milder gemacht. Auch baden hier alle die Seelen,
Welche vom Schicksal zur Wand’rung in andre Leiber bestimmt sind.

 

Und so ergeht es auch Murner:

 

Murner trank den Letheischen Fluss mit geizigen Zügen,
Und sein räub’risches Wesen ward bald in Sanftmut verwandelt.
Als er freundlich im Sonnenschein saß, da kamen die Tauben
Zu ihm vertraulich herab, und scherzend spielt‘ er mit ihnen,
Er vergaß den schmerzlichen Tod, in stiller Erwartung,
Einst in einem edleren Körper ins Leben zu kehren.

 

So gesehen, ein gutes Ende … Einmal für Murner, dann für den vierten Gesang („geizigen“, lies: „gierigen“). Es gibt allerdings noch einen abschließenden fünften Gesang; der spielt dann wieder in der „Oberwelt“!

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Stand der Dinge

Seht, auf jener alten Bank,
Wo der Herr so gerne saß,
Morgens ein, zwei Kaffee trank
Und sein Frühstücksbutter aß,
Stehen nun nur leere Tassen –
Gottverlassen …

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Erzählverse: Der iambische Trimeter (14)

Friedrich Schlegels Drama „Alarcos“ kennt heute kaum noch einer; und das zu Recht. Vom Vers her gedacht ist es aber doch einen Blick wert, denn Schlegel verwendet hier neben vielen anderen Versmaßen auch den Trimeter und versucht dabei eine gänzlich neue Art von Gestaltung: Er lässt die Versenden assonieren, und nicht nur das, er weist den einzelnen Vokalen dabei auch noch bestimmte Aufgaben zu – bestimmte Ausdruckswerte. Ein Beispiel aus dem zweiten Akt:

 

CLARA
Ganz fremd, verwandelt ganz, betratst du heut dein Schloss.
In froher Liebe naht‘ ich dir, dein Weib, getrost;
Du trittst zurück und machst mich vor den Dienern rot.
Es rührt dich nicht mein Blick, das Kind dich nicht im Schoß,
Ja seltsam heftig willst du und befiehlst, ich soll
Gleich es entfernen, fort aus deinen Augen, fort;
Ich war erstaunt, doch hab‘ ich schweigend dir gehorcht.

ALARCOS
Es frisst am innern Leben oft ein bittrer Wurm;
Dann wird der kalte Schmerz der schönen Liebe stumm.

 

Der Dialog ist länger, aber die letzte (betonte) Silbe in Claras Versen hat bis zur gezeigten Stelle immer ein „o“ als Vokal; bei Alarcos ist es immer ein „u“. Was über zwei, drei Verse kaum auffiele, hat über sieben Verse hinweg doch eine deutlich vernehmbare Wirkung!

Insgesamt eine ungewohnte Art, mit dem Trimeter umzugehen; aber warum nicht?! Ich glaube, so könnten wirksame Texte entstehen. Im Falle Schlegels gelingt das allerdings kaum, auch, weil er in seinen Trimetern kaum Zeilensprünge einsetzt und die Satzeinheiten ganz oft mit den Verseinheiten zusammenfallen; und dadurch wird der Vers … träge? Schlaff?! Irgendwie so; in jedem Fall langweilig, es macht keinen Spaß, ihn zu lesen. Wer mag, kann sich ja selbst einen Eindruck verschaffen und dabei nach dem passenden Begriff suchen; allerdings findet er dann auch diesen Vers des Alarcos, etwas später im Dialog (Clara und Alarcos sind inzwischen zu trochäischen Siebenhebern gewechselt):

 

Worte gibt es nirgend für den Abgrund dieser Tat.

 

Die Tat ist das wüste Durcheinander aus Versen und Formen, zu dem Schlegel den „Alarcaros“ gemacht hat; und Worte dafür, der Vers sagt es: gibt es nicht. Nicht mal eines.

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Schritt für Schritt

Trag mich!“, donnert die Schuld, „Na mach schon!“ das schlechte Gewissen;
„Wie denn?“, fragt der Verstand, „Schuld?“ das Vergessen – geschafft.

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Erzählverse: Der Knittel (11)

Die Jahre

Die Jahre sind allerliebste Leut:
Sie brachten gestern, sie bringen heut,
Und so verbringen wir Jüngern eben
Das allerliebste Schlaraffen-Leben.
Und dann fällts den Jahren auf einmal ein,
Nicht mehr, wie sonst, bequem zu sein;
Wollen nicht mehr schenken, wollen nicht mehr borgen;
Sie nehmen heute, sie nehmen morgen.

 

Dieses kleine Stück steht in Goethes Gedichten unter „Epigrammatisch“; wo sich ja mancherlei Knittel finden. Die Verse lesen sich recht selbstverständlich, bis auf einen, den vorletzten. Da gibt es, denke ich, mehrere Möglichkeiten?!

Wollen nicht mehr schenken, wollen nicht mehr borgen;

Betont man das doppelte „Wollen“, fängt man sich zwei dreisilbige Senkungen ein; die gehen nicht jedem einfach von den Lippen, und ich kann mich erinnern, diesen Vers auch schon mit zwei „Woll’n“ gesehen zu haben – vermutlich aus genau diesem Grund?!

Die zweite Möglichkeit: Man betont die beiden „nicht“.

Wollen nicht mehr schenken, wollen nicht mehr borgen;

Dann gibt es eine zweifach besetzte Senkung am Versanfang und eine dreifach besetzte in der Versmitte, die aber durch die Zäsur in eine einsilbige und eine zweisilbige Einheit getrennt wird?!

Welche der beiden Möglichkeiten (oder, vielleicht, auch eine ganz andere?!) man bevorzugt, hängt vom eigenen Vortrag ab … Da ist der Knittel ja anpassungsfähig dank seiner ganz allgemein höheren Achtsamkeit dem Satz gegenüber!

Den Vers sechshebig zu lesen, ist dagegen eine Ausflucht; und bringt den Betrachter und zukünftigen Vortragenden um das Vergnügen, unter den verschiedenen Bewegungslinien, die der Knittel hier anbietet, eine begründete Wahl zu treffen.

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Erzählverse: Der Hexameter (60)

Justus Friedrich Wilhelm Zachariä: Murner in der Hölle (3)

Anfang des dritten Gesangs ist Murner zurück im Schloss – als Gespenst. Er begegnet Lisette, die sich daraufhin schreckstarr in ihrem Bett verkriecht; dann geht es zu Raban hin.

 

Aber der Schatten des Katers begab sich zur Kammer des Alten,
Schnaubte Rache, sprang wild auf den Tisch, auf welchem ein Nachtlicht
Sterbende blaue Strahlen verstreute. Die zitternde Flamme
Fuhr in die Höh‘ und erlosch; d’rauf schallte durch’s einsame Zimmer
Murners Totengeheul. Der Alte fuhr auf aus dem Schlafe,
Furchtsam und blass; da sah er den Cyper mit glühenden Augen,
Welcher höllische Flammen aus seinem Nasenloch brauste.
Schrecklich riss er den Mund auf und schrie. Vom wilden Geheule
Schallte das Schloss, und endlich verschwand der spukende Murner.

 

Schließlich sucht er Rosaura auf und bittet sie, während sie schläft, wortreich darum, seinen Leichnam doch zu bestatten. Er schließt mit diesen Worten:

 

Gib den armen Gebeinen ein Grab, und gönne die Ruhe
Seinem irrenden Schatten, dass ihm der mürrische Charon
Über die Stygische Flut die Fahrt verstatte; dass nicht mehr
Sein gepeinigter Geist mit andern Gespenstern umhergeh‘,
Und in finsterer Nacht mit seiner Erscheinung erschrecke.
Also sagte der Schatten des Katers, und flog in die Lüfte.

 

Am nächsten Morgen macht Rosaura sich Vorwürfe und beschließt, Murner schnell bestatten zu lassen; Raban und Lisette unterstützen das (wen wundert’s!). Den Auftrag dazu erhält Conrad, der Gärtner; der

 

Ging auf den Hof, und nahm auf den Spaten den Leichnam des Cypers,
Trug ihn unter die Linden, und legte die starren Gebeine
Tief in ein kühles Grab. Gleich flog sein irrender Schatten
Wieder zur Hölle hinab und mischte sich unter die Seelen,
Die zum schwankenden Kahn des alten Charons sich drängten.

 

– Womit der dritte Gesang endet. Viel gibt es aus formaler Sicht nicht zu sagen; er ist geradeaus erzählt, und die verwendeten Verse sinn nicht zu beanstanden – alles gute, sichere Hexameter. Inhaltlich gefällt mir Murners Erscheinen bei Raban sehr gut, das hat wieder so etwas Slapstickhaftes und ist auch in der zeitlichen Abstimmung wunderbar erzählt?!

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Gelegen

Die Gedankenlosigkeit handelte, ohne an die Folgen zu denken; die nutzten die Gelegenheit, blieben zu Hause und machten sich einen schönen Tag.

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Erzählverse: Der Blankvers (38)

Im ersten Teil von Rainer Maria Rilkes „Hetären-Gräber“ erzählt der Blankvers nicht wirklich; stattdessen breitet er aus, stellt eine unglaubliche Menge von Dingen hin vor den Leser und Hörer!

 

In ihren langen Haaren liegen sie
mit braunen, tief in sich gegangenen Gesichtern.
Die Augen zu wie vor zu vieler Ferne.
Skelette, Munde, Blumen. In den Munden
die glatten Zähne wie ein Reise-Schachspiel
aus Elfenbein in Reihen aufgestellt.
Und Blumen, gelbe Perlen, schlanke Knochen,
Hände und Hemden, welkende Gewebe
über dem eingestürzten Herzen. Aber
dort unter jenen Ringen, Talismanen
und augenblauen Steinen (Lieblings-Angedenken)
steht noch die stille Krypta des Geschlechtes,
bis an die Wölbung voll mit Blumenblättern.
Und wieder gelbe Perlen, weitverrollte, –
Schalen gebrannten Tones, deren Bug
ihr eignes Bild geziert hat, grüne Scherben
von Salben-Vasen, die wie Blumen duften,
und Formen kleiner Götter: Hausaltäre,
Hetärenhimmel mit entzückten Göttern.
Gesprengte Gürtel, flache Skarabäen,
kleine Figuren riesigen Geschlechtes,
ein Mund der lacht und Tanzende und Läufer,
goldene Fibeln, kleinen Bogen ähnlich
zur Jagd auf Tier- und Vogelamulette,
und lange Nadeln, zieres Hausgeräte
und eine runde Scherbe roten Grundes,
darauf, wie eines Eingangs schwarze Aufschrift,
die straffen Beine eines Viergespannes.
Und wieder Blumen, Perlen, die verrollt sind,
die hellen Lenden einer kleinen Leier,
und zwischen Schleiern, die gleich Nebeln fallen,
wie ausgekrochen aus des Schuhes Puppe:
des Fußgelenkes leichter Schmetterling.

 

Das eindrucksvolle Ende ist hier noch keines (obwohl es eins sein könnte); der Text geht noch weiter. Aber ich möchte diesen ersten Abschnitt vorführen als Beispiel dafür, was der Blankvers „aufzählend“ leisten kann.

Am Anfang gibt es Seltsames: Den zweiten Vers, den man als Sechsheber lesen muss oder als Fünfheber mit dreisilbiger Senkung, abweichend jedenfalls von der gewöhnlichen Blankvers-Bewegung; danach folgen, bis auf einen weiteren Sechsheber, nur noch recht unscheinbar sich bewegende Fünfheber, bei denen höchstens am Anfang einmal die Betonung versetzt ist: „Hände und Hemden …“

Dann das „Reise-Schachspiel“ – das taucht da zwar nur über einen Vergleich auf, ist also eigentlich gar nicht anwesend; trotzdem steht es erst einmal etwas quer im Text?! Andererseits fällt es bei dieser Überfülle von Dingen dann auch nicht mehr auf …“Und wieder“, steht da mehr als einmal; und gleich im nächsten Vers ist es dann schon wieder ein „Und mehr“.

Das muss man wohl mögen?! Aber Rilke wäre ja nicht Rilke, wenn er einen Leser nicht in dieser Ding-Vielfalt, die zugleich ein Geschehens-Mangel ist, halten könnte.